Schreibkraft
Heiner Frost

Reise nach Jerusalem

Herr K. muss umziehen – keine große Sache, denn seine Habe passt auf einen Rollwagen: Fernseher, Waschzeug, Kleinigkeiten. Herr K. ist nicht allein. 112 Kollegen hat es auch erwischt. Die einen ziehen „zwei Straßen“ weiter, andere haben einen längeren Weg. Immerhin: Der Vermieter muss in allen Fällen für Ersatzwohnungen sorgen. Sie werden alle unterkommen …


Man kann die Geschichte auch ganz anders erzählen: Vor circa drei Jahren steckte ein Gefangener der JVA Geldern seine Zelle in Brand. Er verstarb an den Folgen. Eine Untersuchung wurde eingeleitet und der Brandschutzsachverständige stellte im Verlauf seiner Untersuchungen eine Asbestbelastung fest. Es stellte sich heraus, dass sämtliche verputzten Wände der Anstalt, die übrigens 1979 in Dienst gestellt wurde, beim Bau mit einem asbesthaltigen Material beschichtet wurden. Der Putz sei – so die damalige Meinung – sämiger. Seit 1993 ist der Vertrieb von Asbest in Deutschland verboten, da die Fasern, wenn sie in die Lunge gelangen, Krebs auslösen können.
In der JVA Geldern jedenfalls wurde „Asbest-Alarm“ gegeben. Der Asbest, so Marco Jeckstadt, der in Pont seitens der Anstalt die anlaufende Asbest-Sanierung koordiniert, sei erst dann „gefährlich“, wenn er gelöst werde. „Wenn Sie also einen Nagel in die Wand schlagen oder den Putz abtragen.“ Der Bau- und Liegenschaftsbetrieb (BLB) NRW, der für die Anstalt zuständig ist, beschloss eine Asbestsanierung.
Was sich leicht schreibt, ist für die Anstalt mit einem enormen logistischen Aufwand verbunden. Anstaltsleiter Karl Schwers: „Wir können ja nicht sagen, dass die Anstalt für ein Jahr geschlossen wird, damit wir die Sanierung durchführen können.“ Das Motto: Sukzessive, peu a peu. Klartext: Die Asbestsanierung beginnt in einem der insgesamt sechs Hafthäuser – dem Haus D. 112 Gefangene müssen verlegt werden, aber auch hier ist die Sache komplizierter als man denkt. Dirk Woll, stellvertretender Leiter des Allgemeinen Vollzugs: „Die Verlegung von 112 Gefangenen ist ein ziemlicher Kraftakt für uns. Zunächst einmal ist der Belegungsdruck in den Haftanstalten des Landes teilweise  hoch.“ (Heißt: Im Knast sind wenig Plätze frei.) „Dazu kommt, dass zwar das Hafthaus komplett geräumt werden muss, aber nicht alle Gefangenen einfach in eine andere Anstalt verlegt werden können. Wenn ein Gefangener beispielsweise gerade eine Ausbildung bei uns absolviert, können wir den nicht einfach verlegen.“ Verlegungen finden also auch hausintern statt. Ein bisschen ist es wie bei der Reise nach Jerusalem – Unterschied: Es darf am Schluss niemand übrig bleiben, für den kein Platz da ist. Kommen die Verlegten am Ende der Maßnahme zurück nach Geldern? Dirk Woll: „Nein. Mit der Verlegung der Gefangenen ist seitens des Ministeriums auch die Vollzugszuständigkeit geändert worden, was wiederum bedeutet, dass wir diese Gefangenen  in die Zuständigkeit einer anderen Anstalt übergeben.“ Das löst nicht bei allen Gefangenen Zustimmung aus, denn man gewöhnt sich an alles – auch an die Umgebung Knast. Dirk Woll: „Bei der Verlegung in einer andere Anstalt versuchen wir im Vorfeld, möglichst viel Rücksicht zu nehmen. Wenn beispielsweise ein Gefangener Besuch erwartet, wird er nicht bereits vorher verlegt.“ Fest steht allerdings: Ändert sich (s.o.) die Vollzugszuständigkeit, gibt es keine Möglichkeit, Einspruch zu erheben. Dirk Woll: „Wir haben am 30. Mai mit der Verlegungsaktion begonnen, die übrigens hausintern zu 300 Verlegungen geführt hat.“ (Große Ursache – große Wirkung.) Der größte der Teil zu verlegenden Häftlinge (80) verlässt Geldern Richtung Aachen, 20 Gefangene gehen nach Bochum. Karl Schwers: „Die restlichen Gefangenen werden in Remscheid, Rheinbach, Schwerte und Werl untergebracht.“
Am 4. Juli beginnt die auf drei Monate angesetzte erste Phase der Sanierung. Marco Jeckstadt: „Bevor die eigentlichen Arbeiten beginnen, wird das Hafthaus komplett leer geräumt.“ (Auch die besonderen Schlösser in den Haftraumtüren werden ausgebaut.) Jeckstadt: „Nach der ersten Phase wird das Hafthaus in einem rohbauähnlichen Zustand sein.“ Für die Phase eins wird ein sogenannter Schwarzbereich eingerichtet. Marco Jeckstadt: „Die Wände werden mittels einer Wasserstrahlhochdruckanlage vom Putz befreit. Dazu wird für die gesamte erste Phase das komplette Haus D in eine Art Unerdruckkammer verwandelt.“ Das passiert mittels eines gigantischen Staubsaugers. Arbeiter, die im Schwarzbereich zu tun haben, tragen Ganzkörperschutzanzüge. Im gesamten Hafthaus D werden ständig Messungen durchgeführt, die über die Belastung Auskunft geben, die am Ende von Phase eins bei Null liegen sollte.
Erst danach wird mit dem „Wiederaufbau“ begonnen. „Die gesamte Maßnahme soll circa ein Jahr dauern und ist, so Jeckstadt, als eine Art Pilotprojekt für die Anstalt gedacht“. Schließlich muss nicht nur das Hafthaus D saniert werden. Jeckstadt: „Es gibt ja verschiedene Methoden der Asbestsanierung und es wäre denkbar, dass nach Abschluss der Arbeiten am Hafthaus D für weitere Maßnahmen auf andere Methoden zurückgegriffen wird. Das muss sich zeigen.“ Und was ist mit den anderen Hafthäusern? Besteht eine direkte Gefahr für die Gefangenen und die Bediensteten? Jeckstadt: „Natürlich werden in allen relevanten Bereichen regelmäßige Messungen durchgeführt und wir achten ganz besonders darauf, dass die Wände nicht beschädigt werden.“
Anstaltsleiter Karl Schwers: „Wir haben die Umstände hausintern von Anfang an kommuniziert.“ Derweil hat Herr K. seinen Rollwagen vollgepackt. Er bleibt in Geldern. Der Umzug: Eine kleine Sache. K. ist einer der letzten, die das Hafthaus D. verlassen. Er wohnte bisher im ersten Stock. Ein Kollege aus dem Erdgeschoss wird nach Bielefeld verlegt. „Kann man nix machen“, sagt er und fügt hinzu: „Ich habe gehört, dass die Anstalt in Bielefeld dieser hier sehr ähnlich sein soll. Ich werde also, sobald ich da bin, fragen, ob die auch ein Asbestproblem haben.“ Der Umzug von Herrn K. wird am Abend gelaufen sein.Heiner Frost