Herr A. hat Berufung eingelegt. Er möchte eine mildere Strafe. Beim Amtsgericht hat er Dreisechs bekommen und davon schon einiges abgesessen. Dreieinhalb Jahre ist es her, da hatte A. es eilig. Er war mit dem Auto unterwegs: bekifft. Zuerst hatte er am Klever Krankenhaus eine Schranke am Parkplatz gefällt – danach flüchtete er vor der Polizei, wurde gestellt, wehrte sich … eine Rundfahrt nicht nur durch das nächtliche Kleve, sondern auch durch die Paragrafen des Strafgesetzbuches: Sachbeschädigung, Gefährdung des Straßenverkehrs, Körperverletzung, Fahren ohne Fahrerlaubnis.
Speed
Der Vorsitzende zeigt ein Video. Aufgenommen wurde es von A. mit seinem Handy: Ein Täter als Regisseur. Der Gerichtssaal wird zum Stummfilmkino. A.s Film wird an die Wand gebeamt. Irgendetwas stimmt nicht mit dem Ton. Aber: ein Bild sagt bekanntlich mehr als 1.000 Töne. Oder so ähnlich. Man wird zum Zeugen einer wilden Fahrt. Später, bei der zweiten Vorführung, ist dann Ton zu hören. Heulende Polizeisirenen. Quietschende Reifen. Ein pfeifender Motor. Man erlebt eine atemraubende Fahrt durch das nächtlichdunkle Kleve. Man möchte, denkt man, nicht auf dem Beifahrersitz neben A. gesessen haben und erfährt, dass gleich mehrere Streifenwagen an A.s Verfolgung beteiligt waren. Einen davon rammt A. von der Straße: 50.000 Euro. Totalschaden. Dazu: Verletzungen von Fahrer und Beifahrer. Die Verfolgung geht weiter, bis A.s Wagen es nicht mehr schafft. Bei der Kollision scheint der Motor Schaden genommen zu haben. Auf der Tonspur: Ein permanentes Pfeifgeräusch. Ein bisschen klingt es wie eine Dauervollbremsung. Irgendwann muss A. anhalten. Er springt aus dem Wagen. Flüchtet zu Fuß. Mehrere Polizisten verfolgen ihn. Stellen ihn. Überwältigen ihn. A. wehrt sich nach Kräften. Es nützt nichts. Er wird festgenommen.
„Wonach sieht es dann aus?“
A. räumt die Vorwürfe ein. Was sollte er auch sagen? Das Video ein Deepfake mit seinem, A.s Avatar in der Hauptrolle? Es würde keinen Sinn machen, die Tat zu bestreiten. „Haben Sie eine Fahrerlaubnis?”, fragt der Vorsitzende Richter und A. antwortet: „Nein.” „Können Sie Auto fahren?” „Wonach sieht es denn aus?” A. meint wohl eher Nein. A. wird, wenn er seine Strafe abgesessen hat, nicht gleich den Führerschein machen können. Im letzten Urteil ist auch eine vierjährige Sperre eingearbeitet. A. hat, sagt er, „genug von den Drogen. Nach so einer Aktion hast du davon die Schnauze voll”. Seit circa zwei Jahren ist er trocken. Nimmt nichts mehr. Therapie? „Nicht nötig. Ich habe das im Griff. Da würde ich nur anderen einen Platz wegnehmen.” A., der letzte Held der Selbsttherapie. Der Vorsitzende erörtert verschiedene Varianten. „Kennen Sie den Paragraph 64 des Strafgesetzbuches?” A. kennt sich aus. Es geht um die „Unterbringung in einer Entziehungsanstalt”. Nicht nötig. A. hat die Sache im Griff. „Kennen Sie den 35-er?” Kennt er. Therapie statt Strafe. Nicht nötig.
Zwei Kinder von drei Frauen
Das Gericht hat einen Gutachter beauftragt. A.s Anwalt sagt, er habe seinem Mandanten die Vorzüge des 35-ers erklärt. A. sagt, er wird es allein schaffen. A. ist kein unbeschriebenes Blatt. Er hat elf Vorstrafen verschiedenster Art und – es wird dann ein bisschen skurril – zwei Kinder von drei Frauen. Die Lösung des Frauenkinderrätsels ist akustisch schwer nachvollziehbar. Man mutmaßt, es handelt sich in einem Fall um eine Pflegemutter. Zwei Kinder. Drei Mütter. A. hat 100.000 Euro Schulden in der Abteilung „Verschiedenes”. Die Insolvenz läuft. „Warum sind Sie in Berufung gegangen?”, fragt der Vorsitzende und A.s Anwalt spricht von der Hoffnung auf eine geringere Strafe.
Mittelbar
Danach wird es kompliziert. Der Vorsitzende erklärt den Sachverhalt – erklärt, dass es Dinge gibt, die das Amtsgericht seinerzeit falsch bewertet habe. Gesetzliche Feinheiten. Es geht – unter anderem – um Unmittelbares und Mittelbares. A. hat beim Abdrängen des Streifenwagens keine unmittelbare Gewalt gegen Personen ausgeübt. Die Verletzungen der Beamten im Verfolgerfahrzeug: Quasi über Bande. Auto gegen Auto. Nicht Auto gegen Mensch. Aus der gefährlichen Körperverletzung wird eine Körperverletzung. Dann geht es um einen falsch angesetzten Strafrahmen. A.s Urteil damals: Drei Jahre, sechs Monate. Darin enthalten allerdings eine andere Tat. Ein Jahr, vier Monate hat A. bereits abgesessen. Rest: Zweizwei. A. hat die Fluchtfahrt unter laufender Bewährung begangen. Nicht gut.
Rückzug
Es läuft darauf heraus, dass das Gericht die Strafe für A.s Fahrt nicht unter das Maß wird reduzieren können, das A. nach der bereits in der Justizvollzugsanstalt verbrachten Zeit noch abzusitzen hat. Der Vorsitzende rät zur Zurücknahme der Berufung. Fünf Minuten Pause. „Denken Sie, das wird reichen, um sich mit ihrem Mandanten zu besprechen?”, fragt der Richter den Verteidiger. „Ja, das wird reichen.” Fünf Minuten später hat sich A. entschlossen, auf die Berufung zu verzichten. Zustimmung seitens der Staatsanwaltschaft. Verfahren beendet. Der Vorsitzende wünscht alles Gute.