Schreibkraft
Heiner Frost

Orient Express

Ein Johannes Heesters auf Schienen

Kleve Hauptbahnhof, 7.45. Da also steht er, flößt Respekt ein und spendet Geschichte(n): Historische Reisezugwagen auf 30 Achsen, Wagenzuglänge 200 Meter, Gesamtzuglänge 216 Meter: Der Orient Express. Die einen träumen von der Reise nach Istanbul — die anderen denken an Belgien. Belgien? Belgien! Hercule Poirot; Agatha Christie; Mord im Orient Express. Aber keine Angst: Es wird heute höchst unblutig zugehen. Also: Einsteigen zum Sonderzug nach Königswinter. Merke: Nicht jeder Sonderzug muss schließlich nach Panko fahren.

Wer in diesen Zug steigt, nimmt die Nostalgie mit. Und Erwartungen: Pullmann Frühstück auf dem Hinweg und 5-Gänge-Menu auf dem Rückweg. Das Zugpersonal vermittelt jedem Gast, dass er etwas Besonderes ist. Das Verhältnis von Zug-Besatzung und Gästen: Eins zu fünf. 110 Nostalgiker werden erwartet — 20 Crew Mitglieder kümmern sich um jeden und alles. Zum Beispiel Peter Wagner: Er ist selbständiger Koch. In einer der beiden Küchen auf dem Orient Express ist er einen Tag lang Oberbefehlshaber bei 50 Grad am Ofen. Zu zweit arbeiten sie in einer Küche von der Größe einer doppelten Badewanne. Wat mott, dat mott. Schließlich haben hier schon ganz andere auf engstem Raum gekocht und die Gäste in den kulinarischen Himmel gezaubert. Und der Stress kommt erst am Nachmittag. Das Frühstück ist eine leichte Aufgabe. Es geht schließlich nur um Rührei. Oder Andreas Braun: Er ist Kellner und stammt aus Dresden. Durch die Woche betreibt er einen Wein- und Delikatessenladen. Heute ist er Teil der Crew. Sonntags ist der Laden schließlich dicht. Und auf dem Orient Express zu fahren ist, selbst, wenn man kellnert, ein Erlebnis. Braun ist sich sicher: Das hier ist nicht sein letztes Mal.

Und Roderich Steinicke: „Stein wie Stein plus icke.“ Steinicke ist 70, sieht aus wie 50 und fühlt sich wie 40. Beruf: Kellner. Er ist einer von der alten Schule — könnte im Orient Express geboren sein. Ist er natürlich nicht. Ab und an fährt er noch als Personal — die Frau entlasten. „Die muss mich dann nicht den ganzen Tag ertragen.“ Steinicke ist Gentleman vom Kopf bis zu den Schuhen. Wer von ihm bedient wird, fühlt sich irgendwie geehrt. Und Zeit für Konversation nimmt er sich. „Sie haben eine Frage?“ Natürlich, wer 169 Euro für die Pullmann Klasse und 139 für die Salon Klasse zahlt, darf etwas erwarten. Wer allerdings sieht, was sich zum Wohl der Gäste in Gang setzt, wenn die Lok zu dampfen beginnt, begreift schnell, dass es anders gar nicht möglich wäre.

„Man könnte eine E-Lok vor den Zug spannen. Das würde die Kosten senken“, erklärt Steinicke, der selbst Mitglied in einem Eisenbahnverein ist. „Aber die Leute wollen halt, dass es dampft, auch, wenn sie im Zug nichts mehr von der Lok sehen.“ Um einen solchen Zug in die schwarzen Zahlen zu fahren, muss die Auslastung stimmen, denn es fallen Kosten an, und die sind nicht so knapp.

Für die Tour nach Königswinter muss eine Lok gemietet werden. „Fünftausend Euro und ein paar Zerquetschte“, rechnet Reiseleiter und Veranstalter Jens Röder vor. Dazu muss die Strecke gemietet werden. 3,40 Euro für den gefahrenen Kilometer plus die anfallenden Bahnhofsgebühren. Die Leute in den Stellwerken müssen schließlich Bescheid wissen, und der Zug soll angesagt werden. So kommt eins zum anderen. Am Schluss sind die Personalkosten zu addieren. Das Ganze geteilt durch 110 Fahrgäste. Ergebnis: Die Fahrt ist ihren Preis wert.

Die Gäste rücken — wie anno dazumal in zwei Klassen an. Kein Problem: Klar — die Pullmann Klasse ist intarsienverziert und etwas geräumiger, aber die Salon Klasse ist eigentlich keine zweite Klasse — sie ist nur ein anderer Blickwinkel. Immerhin hat der Wagen 6, der „Voiture Salon Présidentielle“ — von der Crew wird er nur „Presi“ genannt (Baujahr 1927, Gewicht 57 Tonnen, 30 Plätze) schon einiges an Berühmtheiten befördert. Elisabeth II., Andrej Gromyko und der belgische König sind hier mitgefahren. Von wegen 2. Klasse.

Im Barwagen spielt der Pianist — kaum zu glauben, aber wahr „As Time Goes by“ und natürlich noch jede Menge andere Stücke. Und wenn auf offener Strecke ein moderner Zug im Langeweileoutfit am Fenster vorbeihuscht, taucht der Gast aus dem Historientraum auf. Wer im Orient Express reist, wird schnell zum Gegenstand öffentlichen Interesses. Falsch: Eigentlich ist es doch der Zug, der bei jedem Halt Scharen von Kameraleuten auf die Bahnsteige lockt. Die Kameraverschlüsse  zucken im Sekundenbruchteil-Takt. Orient digital. Gefilmt wird auch. Die meisten Fans sind Männer in den 40ern. Und sie haben nur ein Ziel: Die Lok. Wenn sich die Maschine schnaubend in Bewegung setzt, leuchten die Augen gestandener Mannsbilder wie einst zu Weihnachten. Die Damen interessieren sich für die Interieurs. Der Orient Express — das ist eine Art Johannes Heesters auf Schienen. Und wenn Jopi längst mit den Engeln singt, dann wird der Orient Express noch immer fahren.

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