Schreibkraft
Heiner Frost

Ohne Gnade

1. Tag
Wozzeck, Er sieht immer so verhetzt aus. Ein guter Mensch tut das nicht. Ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat, tut alles langsam. (Georg Büchner, Wozzeck)

Am Kraterrand
Man möchte sich die Ohren zukleben. Aber: Wer berichten will, muss sich auf den Weg an die Kraterränder begeben. Hat man nicht alle Grausamkeiten schon angehört? Gibt es Steigerungen? Vor der 4. Großen Strafkammer des Klever Landgerichtes läuft ein Prozess gegen drei Angeklagte (zwei Männer, eine Frau), denen Ungeheuerliches vorgeworfen wird.

„Laut Staatsanwaltschaft sollen die 37-Jährige Angeklagte und ihr Ehemann in ihrem Haus in Kalkar-Grieth über längere Zeit das spätere, zuvor obdachlose, Tatopfer als Untermieter beherbergt haben. Zum Opfer soll die Angeklagte in der Folgezeit ein intimes Verhältnis, das auch von Gewalt geprägt gewesen sein soll, unterhalten haben.
Als sie im August 2014 die beiden anderen Angeklagten kennen lernte, soll sie mit einem von ihnen ein neues intimes Verhältnis begonnen haben. Da das spätere Tatopfer der neuen Beziehung im Wege stand, soll sie spätestens Mitte September 2014 beschlossen haben, dass ‚der weg muss‘. Um die beiden anderen Angeklagten dazu zu bewegen, die Tötung mit ihr durchzuführen, soll sie ihnen Mitte September 2014 berichtet haben, dass sie seit Jahren von dem späteren Tatopfer misshandelt und vergewaltigt worden wäre. Gegen Abend des 14. September 2014 sollen sodann die drei Angeklagten zu der Wohnanschrift in Kalkar-Grieth gefahren sein. Als das Tatopfer aus seinem Zimmer trat, soll einer der Angeklagten der gemeinsamen Absprache entsprechend, unmittelbar mit dem Baseballschläger gezielt und unversehens sowie mit erheblicher Wucht unter anderem in das Gesicht des Opfers geschlagen haben (auch noch, als dieses bereits am Boden lag), um ihn zu töten. Anschließend soll der aus dem Nachbarzimmer hinzugekommene zweite Angeklagte dem am Boden liegenden Tatopfer einen mit derart großer Wucht geführten Schlag gegen den Kopf versetzt haben, dass der Baseballschläger abbrach.
Im Anschluss sollen die beiden Männer das bewusstlose und aus Ohren, Nase und Mund blutende Tatopfer mit einem Staubsaugerkabel die Arme und Füße auf den Rücken gefesselt und liegen gelassen haben. Der Mann soll kurze Zeit darauf verstorben sein. Die Angeklagte, die das Geschehen vom Treppenabsatz beobachtet haben soll, soll – nachdem sie die beiden anderen Angeklagten nach Hause gebracht hatte und noch röchelnde Geräusche des Getöteten vernahm – noch mehrfach auf den Kopf des Tatopfers eingetreten haben, um den Sterbevorgang zu beschleunigen.“

Großes Besteck
So steht es im Pressespiegel des Landgerichts. Es gibt Tötungen am Ende eines Strudels: Alle werden hineingesogen, aber alles hätte auch ganz anders laufen können. Man kniet sich in die Umstände. Sucht nach Gründen für eine Entgleisung. Das hier ist ein Mord ohne Rückwärtsgang – ein geplantes Verbrechen. Nirgendwo ein Erbarmen. Nichts, das sich im Rausch eines Affekts zutrug. Das hier ist eine Tat, für die man kaum Verständnis mitbringen kann. Kein Verstehen. Niemand kann und will in diesen Albtraum steigen. Drei Angeklagte [Sandra S. (S.), Mario A., Sven G.] werden von sechs Verteidigern vertreten. Zwei Staatsanwälte vertreten die Anklage. Ein Nebenklagevertreter sitzt allein am Tisch. [Das Opfer: Mark M.] Zwei Gutachter sind anwesend. Es ist das große Besteck. Die Erwartung für den ersten Tag: Verlesung der Anklage und zumindest eine Aussage zur Tat. Vorher: Drei Angeklagte machen Angaben zur Person. Die zwei Männer: Drehtürentäter. Rein in den Knast. Raus aus dem Knast. Rein in den Knast. Drogen. Gewalt. Diebstähle. Raub.

Narkose
Daneben: Eine Angeklagte ohne juristische Vergangenheit. Es gibt nichts – keine Vorstrafen, keine Einträge im Zentralregister. Eine anscheinend normale Jugend – nichts von den Geschichten, die anzuhören und nachzuerleben man zu ertragen gelernt hat. Ein Einzelkind ohne Probleme zuhause. Nichts, das aus der Bahn läuft. Die beiden Mitangeklagten blicken auf andere Leben zurück. Als gegen Ende des ersten Tages frühere Urteile verschiedener Gerichte verlesen werden, schweift man am Ende mit dem Zuhören ab. Es ist die Gleichförmigkeit des Unheils, die sich wie eine Narkose über den Saal legt und in die Seele kriecht. Die Einlassung der Angeklagten zu dem, was vor Gericht Tatgeschehen genannt wird, findet nicht statt. Nachdem alle drei Angeklagten Angaben zur Person gemacht haben, erklären die Verteidiger von Sandra S., dass ihre Mandantin nun doch noch nicht aussagen wird. Die Verteidiger der anderen beiden Angeklagten hatten gleich zu Beginn der Befragung erklärt, ihre Mandanten würden „zu einem späteren Zeitpunkt“ auch Einlassungen zum Tatgeschehen machen. Nicht jetzt. Sie erklären auch, sie hätten nicht alle Protokolle bezüglich der Telekommunikationsüberwachung [TKÜ] zur Verfügung gestellt bekommen. „Sie sehen mich blass werden“, sagt der Vorsitzende Richter. Solange die Unterlagen nicht vollständig zur Verfügung stehen, wird es – so die Verteidigung – keine Einlassungen geben.
20 Minuten Pause. „Wir müssen das klären“, sagt der Vorsitzende Richter. Es dauert am Ende länger. Nach der Pause gibt es CDs für alle Verteidiger und die Nebenklage. Auf den CDs: PDF-Dateien mit den Protokollen der TKÜ. Der Richter erklärt nach zehn Minuten, jetzt mache man erst einmal Mittagspause. 30 Minuten. Nach der Pause: Verlesung verschiedener älterer Urteile.

Im Prinzip
Gerichtstage quälen sich manchmal dahin. Nichts passiert. Nichts jedenfalls, was den Laien weiter bringt. Die Erwartung: Eine Angeklagte äußert sich zur Tat. Die Wirklichkeit: 90 Minuten zu Beginn: Personalien. Dann: 20 Minuten Pause. Dann: Die Sache mit den Protokollen. Dann: 20 Minuten Pause, die zu 40 Minuten werden. Dann: Zehn Minuten Erörterung. Dann: 30 Minuten Mittagspause. Dann: Verlesung verschiedener Urteile. Es ist nicht leicht, konzentriert zu bleiben und man beobachtet Prozessbeteiligte, deren Köpfe schwer werden und in Richtung der Brust sinken. Der Richter liest und liest und liest. Liest von Einbrüchen, schwerem Raub, Drogenmissbrauch, Geldfälschungen, Fahren ohne Fahrerlaubnis – er liest von Einzelstrafen, die zu Gesamtstrafen werden, von Jugendstrafen, immer wieder von Bewährungen, später von Knasterfahrungen. Gegen 14.45 Uhr fragt einer der Verteidiger: „Was wird denn noch vorgelesen?“ Man meint, in seinem Ton ein Flehen zu hören. Wie lange wird es noch dauern? „Im Prinzip sind wir für heute durch.“
Was, denkt man sich, muss passieren, dass drei Menschen einem anderen mit einem Baseballschläger brutal den Kopf einschlagen, so brutal, dass sogar der Schläger zu Bruch geht, ihn mit einem Staubsaugerkabel fesseln … Man will es nicht wissen, aber es führt kein Weg zum Urteil, wenn man sich nicht ins Zentrum der Tat begibt. Ferdinand von Schirach schreibt in einem seinem Bücher, dass in Berlin 15 Mal so viele Baseballschläger gekauft werden wie Basebälle.
Am Ende des ersten Tages: Verständigungen. Ist am zweiten Verhandlungstag mit den Einlassungen zu rechnen? Ja. Sollte man dann nicht die Zeugen „umladen“, damit sie nicht unnütz auf dem Gang warten, während im Saal die Tat besichtigt wird? Ein Zeuge ist für 9 Uhr geladen. „Das verschieben wir nach hinten“, sagt der Vorsitzende. Alles andere: Wie geplant. „Wir haben hier schon alles erlebt. So was kann nach einer Viertelstunde vorbei sein.“ [Bei drei Angeklagten, die von einer Tat erzählen?]
In der Kantine sagt einer, der keinen Platz mehr findet: „Mord ist gut für‘s Geschäft.“ Die Erinnerung ist eine eigenartige Maschine. Was bleibt vom ersten Tag. Vorsitzender zur Angeklagten: „Wie ist das Verhältnis zu ihrem Mann?“ Angeklagte: „Sehr gut. Zu meinen Eltern auch. Die kommen regelmäßig zu Besuch und mein Mann wohnt jetzt bei denen.“ Auf den Tischen der Verteidiger: Namensschilder. Auf einem steht: RA Miseré.

2. Tag
Grundlos
Der zweite Tag im Prozess um den brutalen Mord an einem jungen Mann, dem mit einem Baseballschläger der Kopf zertrümmert und das Leben genommen wurde und den man am Tag darauf in einem Loch in der Einfahrt des Hauses verscharrte, ist über weite Strecken nur schwer zu ertragen.
Zu unvorstellbar die Tat. Zu unsinnig. Zu grundlos. Im Zentrum: Die Aussagen von Sandra und Sven. Was ist schon Wahrheit? Vielleicht lässt sich diese Frage nicht beantworten, weil man bereits an der Frage scheitert, was Erinnern ist. Über 90 Minuten dauert allein die Befragung von Sandra S. Sie trifft das spätere Opfer erstmals 1998. Damals wohnt sie noch nicht in Kalkar. Die beiden verlieren sich aus den Augen, treffen sich erst sieben Jahre später wieder. Sandra S. ist längst verheiratet. Das spätere Opfer: Zunächst etwas wie der beste Freund – einer, dem sie alles erzählen kann. Ihr Ehemann: Service-Monteur. Viel unterwegs. Das Ehepaar wohnt in Reken. Irgendwann nehmen sie das spätere Opfer bei sich auf. Alles ist in Ordnung.
Dann, so erzählt Sandra, habe Mark etwas von ihr gewollt. Aus dem besten Freund wird im Laufe der Erzählung ein anderer – einer, der sie immer wieder vergewaltigt. Einer, dessen Wutausbrüche wie Eruptionen stattfinden. Einer, der alles, was in seinem Leben schief läuft, auf sie projeziert. [„Ich wollte mir ein T-Shirt machen lassen. Auf dem hätte dann gestanden: Ich bin an allem schuld“, sagt Sandra.] Sie nutzt schrille Farben und erstmals fragt man sich, warum „so einer“ weiterhin Teil ihres Haushaltes bleibt? Warum wird er nicht einfach hinausgeschmissen? Er, der sie – so sagt Sandra – auch „mit Gegenständen vergewaltigt“. Warum nehmen Sandra S. und ihr Mann Mark auch noch mit, als sie von Reken nach Kalkar ziehen? Mark habe sich, so Sandra S., immer aufgeführt, als gehöre ihm alles. Als Mark mehr oder weniger zufällig erfährt, dass Sandra zeitweise als Prostituierte gearbeitet hat, brechen die Dämme. Alle Dämme. Wenn sie es für Geld mit anderen Männern macht, dann …

Das Vergewaltigungs-Paradox
Nein – sie habe ihrem Mann nichts von den zahlreichen Vergewaltigungen erzählt, weil „der Mark mir gedroht hat. Er sagte, er würde mir, meinem Mann und den Hunden [Sandra hat zwei Doggen] was antun.“ Irgendwann habe sie gespürt, dass die Brutalität, mit der Mark sie vergewaltigt haben soll, sie auch angezogen habe. „Einvernehmlich war das nicht, aber es hat mir gefallen.“ Vielleicht muss dergleichen in einem Rechtskundeseminar durchleuchtet, hinterfragt werden. [Es war nicht einvernehmlich, aber es hat mir gefallen.] Es taucht die Frage nach Täter und Opfer auf – nach Ursache und Wirkung. Die Angeklagte hat einen Tag vor der Tat bei einer Freundin Nadine [N.] Rat gesucht. „Ich wollte mit dem Mark reden, aber ich habe mich allein nicht getraut.“ Sandra fragt die Freundin, ob nicht deren Freund [Mario A.] mitkommen könne. „Zu einem Gespräch.“ Mario muss erst nachdenken.
Am Tattag eine SMS. Mario ist dabei. Auch Sven (er ist der dritte Angeklagte) erklärt sich „hilfsbereit“. Zwei Männer beschließen, glaubt man Sandra S., angestachelt durch die Vergewaltigungserzählungen von Sandra, sich einzusetzen. Zusammen fahren sie zu dem Haus, in dem Sandra, ihr Mann Louis und Mark wohnen. „Mein Mann sollte montags wieder auf Montage gehen und der Mark hatte mir schon gedroht: „Wenn der Louis weg ist, dann geht es hier erst richtig los.“ Ihre Helfer warnt die Angeklagte vor Betreten des Hauses: Mark, sagt sie, sei brandgefährlich, habe überall Waffen – Messer, Pistolen … An der Heizung – unten im Flur – lehnt ein Baseballschläger. [„Den hat mein Mann mir mal als Souvenir mitgebracht.“ Richter: „Spielen Sie Baseball?“ Angeklagte: „Nein.“). Es ist nicht wirklich klar, ob Sandra Sven den Schläger in die Hand drückt oder ob Sven (sicher ist sicher) das Ding mit nach oben nimmt. Es ist nicht sicher, ob der Schläger immer dort steht oder ob Sandra ihn eigens dort platziert hat. (Für alle Fälle.) Was für Außenstehende nichtig wirkt, kann am Ende elementar werden. Ein Schläger, der einem der Täter in die Hand gedrückt wird, ließe auf Anstiftung schließen …
Die drei gehen in die erste Etage. Sandra klopft an Marks Tür, geht hinein, spricht mit ihm. Er keift sie an. Sie verlässt das Zimmer, geht zur Treppe und hört hinter sich, wie der erste Schlag das Opfer trifft. Nein, sie hat nicht gesehen, wer geschlagen hat. Sie war ja auf dem Treppenabsatz und kommt erst wieder nach oben, als das Opfer auf dem Bauch liegt und sich nicht mehr rührt. Man fesselt den schwer Verletzten und lässt ihn liegen. Sandra bringt Sven und Mario nach Hause, kehrt dann an den Tatort zurück. Sie schaut nicht mehr nachdem Opfer. Dass sie per SMS mitteilt, sie habe bei der Rückkehr auf einen noch Lebenden eingetreten – Angeberei. („Ich wollte mich wichtig machen. Ich bin gar nicht mehr nach oben gegangen.) In der Auswertung von Sandras Chattverkehr findet sich unter anderem eine von ihr nach der Rückkehr verfasste Nachricht: „War wohl nix. Das Vieh lebt noch. Insektenspray hat nix genützt.“ Und später: „Was für eine Nacht. Die Ratte in der Falle hat sich noch gewehrt. Musste als Tierschützerin dem Vieh den Rest geben. Wusste gar nicht, dass Ratten so zäh sind.“

„Weißt du was: Grab ein Loch.“
„Wo war eigentlich ihr Mann zum Tatzeitpunkt?“, fragt der Vorsitzende Richter. „Ich denke, der war mit dem Hund unterwegs.“ In der Nacht habe sie, so Sandra, nicht an Schlaf denken können. Sie habe überlegt, was zu tun sei. Sie habe ihrem Mann jetzt alles erzählt. Sie habe sich nicht an die Polizei gewendet, „weil doch der Sven und der Mario beide schon im Knast gesessen haben“. Irgendwann habe sie ihrem Mann gesagt: „Weißt du was: Grab ein Loch.“ Frühmorgens am anderen Tag – es sei ein Montag gewesen – habe ihr Mann in der Einfahrt das Loch ausgehoben. Allein. Dann habe sie Sven und Mario nochmals geholt. Die beiden hätten das Opfer nach unten getragen, in das Loch gelegt und zugegraben. „So erinnere ich den Tag.“
Eine Frau, die jahrelang massiv vergewaltigt wurde und sich nie jemandem anvertraute – die ihren Peiniger selbst nach dem Umzug mit in die neue Wohnung holte … Der Ehemann weiß von nichts. „Wenn der nach Hause kam, habe ich dem eine heile Welt gemacht.“ Irgendwann – es ist nur ein Nebenbei – erklärt die Angeklagte, sie sei enttäuscht von ihrem Ehemann gewesen. „Der hatte einen Job. Ich saß zuhause. Der reiste durch die Welt.“

Sven
Dann die zweite Aussage. Vorweg erklärt einer der Anwälte von Sven, sein Mandant wolle den geraden Weg gehen – nichts beschönigen, auch, wenn es um Lebenslänglich gehe. Auch wenn, was sein Mandant getan habe, schrecklich und grausam sei. Auch wenn der sich selbst diese Tat nicht erklären könne. Der Anwalt sagt auch, dass kein Mensch nur gut oder schlecht ist. Er sagt, dass sein Mandant für Menschen in dessen Umfeld ein guter und verlässlicher Freund sei, dem es nicht an Empathie mangele.
Dann: Svens Geschichte, anfangs erzählt von seinem Anwalt: Ja, es gab einen Plan: Man wollte einem vorher betäubten Opfer (Sandra hatte für Mark gekocht und ihm allerlei Medizin und Drogen ins Essen gemischt) den „goldenen Schuss“ versetzen. Klartext: Das Trio war angetreten, seinem Opfer eine tödliche Dosis Heroin zu spritzen. Der Plan geht nicht auf. Als das Trio am Tatort eintrifft, brennt noch Licht im Zimmer des Opfers. Vielleicht hat die Sache mit der Betäubung nicht funktioniert. [Vielleicht, denkt man, ist die Sache mit dem Essen und der Betäubung nur eine Beruhigungsgeschichte von Sandra für die beiden Männer – ein Teil ihres Regieplans, in dem der Angriff als Plan B auftaucht. Aber: Gab es einen Plan A? Im weiteren Verlauf betont Sandras Verteidigung immer wieder, es sei um ein Gespräch gegangen.]
Sandra S. warnt die beiden Mittäter nochmals eindringlich vor einem unberechenbaren Mark. Es wird nicht wirklich klar, ob Sandra Sven den Baseballschläger in die Hand drückt oder ob er selber danach greift. Oben angekommen betritt Sandra, nachdem sie zuvor angeklopft hat, Marks Zimmer. Ein Streitgespräch. Sandra verlässt das Zimmer, Mark folgt ihr. Jetzt greift Sven ein. „Ich habe dem gleich eine gegeben“. Sven trifft Mark mit dem Schläger am Kopf. Der taumelt zurück in sein Zimmer, geht zu Boden und „bekommt noch einen“. „Der hat mit den Armen versucht, das abzuwehren, aber ich habe ihm auf die Arme geschlagen.“ Später wird Mark sprechen. „Was willst du denn?“ soll der schon Getroffene gesagt haben. Während die Tat im eigenen Kopf zu Bildern wird, realisiert man, dass im Zuschauerraum die Eltern des Opfers Zeugen dieses Todes werden – dass sie da sitzen und sich all das anhören. Sie hören, dass Sven sich auf das Opfer setzt und noch zweimal mit der Faust in dessen Gesicht schlägt. Sie hören, dass Mario vergeblich versucht, zum „goldenen Schuss“ zu kommen. Es gelingt nicht. Sie hören von Sven, dass Mario danach den Schläger übernimmt und mindestens einmal zuschlägt. Sie hören: Der Schlag ist so wuchtig, dass der Schläger zu Bruch geht – so wie der Schädel des Opfers. Sie hören von Sven, dass Sandra nicht treppabwärts stand. Dass sie sehr wohl etwas mitbekam. „Sie hat im Türrahmen gestanden und alles mit angesehen“, sagt Sven. [Besser gesagt ahnt man, dass er das sagt. Sven spricht leise. Wieder einmal findet ein Teil der Verhandlung „unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt“, die verzweifelt versucht, der Aussage irgendwie zu folgen. Die Akustik im Saal: Ein unausgesetztes Ärgernis. Eine akustische Zumutung. Irgendwann fragt einer der Verteidiger, ob man nicht ein Mikrofon installieren könne.] Dann der Gedanke: Was, wenn Sandras Eltern im Saal säßen? Dasselbe Nichtaushaltenkönnen aus einer anderen Perspektive.

Louis
Für das Gericht geht es um anderes. Es geht darum, ob das Opfer noch gelebt hat, als Sandra nach der Tat die beiden Männer zurückbrachte. Es geht darum, ob es zwischen Sandra und Sven eine sexuelle Beziehung gegeben hat und – wenn ja – wann. Wer hat wem wann von der Tat erzählt? Im Anschluss an die Aussagen von Sandra und Sven: Ein Kurzauftritt des Ehemanns, den die Beteiligten nur Louis nennen. Er macht unter Zuhilfename eines Rechtsbeistandes von seinem Recht Gebrauch, keine Aussage machen zu müssen. Zwischen ihm und Sandra ein kurzer Augenkontakt und eine beschwichtigende Handbewegung der Angeklagten: „Bleib ruhig“, sagt die Bewegung. „Alles in Ordnung.“ Mario, der dritte Angeklagte, wird sich, sagen seine Anwälte, erst später äußern.
Der zweite Tag: Ein Schreckensnebel. Für das Gericht geht es um die Klärung der relevanten Fakten. Ließen die Männer, als Sandra sie wegbrachte, einen Toten zurück? Man versucht, eine Vorstellung des Tattages heraufziehen zu lassen. Man sucht nach einem Augenblick der Gnade, den das Opfer erfahren hat. Es gibt keinen. Stattdessen gibt es einen Satz, den die Angeklagte ihrem Opfer gesagt haben soll: „Stirb wie ein Mann.“ Man fragt sich, in welcher Welt ein solcher Satz zu Klang wird. Man möchte losheulen. Man hört, dass Sven irgendwann darauf gekommen ist, dass Sandra all die Schreckgeschichten – all die Vergewaltigungen – nur erfunden haben könnte. Man hört, dass Sven begann, um das eigene Leben zu fürchten [„Wenn die den weg machen lässt, dann vielleicht auch mich.“] Man sehnt sich nach Trost – nach einer Kleinigkeit nur, die Hoffnung macht. Aber da ist nichts. Da ist nur dieser schwarze Trichter (ein Loch in der Einfahrt) und da ist die Justiz, die auf der Suche nach einem Urteil abwägen muss, wer wann was wollte und wer wann tot war.
An einer Stelle sagt Sven sinngemäß: Er habe vor der Tat gedacht, man schnappe sich den [das Opfer], schmeiße ihn aus dem Haus, sezte ihn irgendwo aus. Und fertig. Das Opfer – Sprache macht Opfer zum Neutren. Die Grammatik des Schreckens. Da wird einer entsorgt. „Rausschmeißen und aussetzen reicht nicht“, soll Sandra gesagt haben.

Erinnern, verbiegen
Es entsteht das Bild einer Frau, die alle Männer in ihrer Umgebung fest im Griff zu haben schien. Während man so denkt, entsteht dieser letzte Augenblick des Zweifels. Was, wenn sie von einem Monster misshandelt wurde? Wird man selbst zum Täter, wenn man ihr nicht glaubt? Die Rettung: Gesetzt den Fall, alles wäre so gewesen, dann rechtfertigt nichts – gar nichts – eine solche Tat. Ein Tag wie dieser, bei dem schon das Hinhören schmerzt, zeigt Dimensionen auf: In der deutschen Sprache heißt es: Glauben schenken. Wem schenkt man Glauben? Der Angeklagten, die sich als Opfer beschreibt und einer Tat den Rücken zugedreht haben will, die nur ein Gespräch wollte und von der dann eintretenden Wirklichkeit bis zur Handlungsunfähigkeit geschockt war oder einem Täter, der – ein Lebenslänglich vor Augen – die Flucht in eine scheinbar schonungslose Wahrheit antritt? Eine Wahrheit, die ihn zu einem der Täter macht, zu dem, der den ersten Schlag führte? Was ist Erinnern, was Verbiegen? Was ist Wahrheit und was die Version, die ein Weiterleben mit der eigenen Grausamkeit ermöglicht?

Architekturen
Prozesse sind wie Gebäude. Prozessberichterstattung ist Gebäudebeschreibung. Es gibt viele Räume. Manchmal möchte man vor der Architektur kapitulieren, denn sie lässt sich kaum in einen Gebrauchstext pressen. Alles Schreiben ist Auswahl. Was kanndarf weggelassen werden?
Der zweite Verhandlungstag: Ein Monster von Emotion und Dauer. Beginn: 9 Uhr. Ende: 17.50 Uhr. Die da verhandeln, kennen die Geschichte, die sie besichtigen. Es geht für sie darum, dass vor Gericht alles noch einmal Wort werden muss. Ein Verweis auf die Akten ist nicht genug. So fragen sich alle Beteiligten immer wieder durch die Tat und haben Ziele im Kopf – Ziele, die sich an der Marschroute orientieren. Für ein Publikum, das die Tat zum ersten Mal betritt, ist irgendwann die Grenze des Fassbaren erreicht. Fragen und Aussagen rauschen vorbei. Da ist die Verteidigung von Sandra: Es geht darum, immer wieder herauszustellen, dass Sandra nichts als ein Gespräch wollte – eines, bei dem sie (nur für den Ernstfall natürlich) auf Unterstützung, Rückhalt, Sicherung hoffen durfte. Dass manches, was die Angeklagte nach der Tat in Chatts geschrieben hat, dieses Bild stört, ist eine Art Kollateralschaden, der sich nicht verhindern lässt. Natürlich: Sandra kann mit der „Ratte“, die sie in einem der Chats erwähnt, tatsächlich eine Ratte gemeint haben. Ließe sich anderes beweisen? Dass sie irgendwann später – es ist knapp einen Monat nach der Tat – an Sven schreibt: „Das Arschloch hat mich geschwängert“ – Sandra selber sagt: Das ist nicht wahr. An Sven hatte sie – zusammen mit der Schwangerschaftsnachricht – auch geschrieben, er müsse sich keine Sorgen machen. Von ihm stamme „das“ nicht. Eine Frau, die einem Mann schreibt, sie sei schwanger, aber von ihm sei „das“ nicht, räumt eine Beziehung ein, denn Sanrda wirkt nicht wie eine, die an die unbeleckte Empfängnis glaubt. Sandra schreibt an Sven, sie brauche Sex. Harten Sex. All das lässt sich nicht wegdiskutieren. All das muss die Verteidigung hinnehmen.
Ein weiterer Raum im Prozessgebäude: Der gerichtsmedizinische Gutachter. Er bespiegelt eine weitere Demarkationslinie. Waren die Verletzungen, die das Opfer durch die Schläge mit dem Baseballschläger erhielt, zwingend tödlich? Lebte das Opfer noch, als Sandra ihre Helfer nach der Tat nachhause brachte? All das lässt sich schon im „Normalfall“ nur schwer sagen. Der Tote lag mehrere Monate verscharrt im Boden. Eine Stunde – vielleicht – könne das Opfer den Angriff überlebt haben. Natürlich lässt sich das nicht generalisieren. Glauben schenken. Je länger sich das Bild einer jahrelang vom späteren Opfer geschundenen Frau aufrecht erhalten lässt, die – von Verzweiflung getrieben und vom Nichtmehraushaltenwollen – nicht mehr suchte als ein klärendes Gespräch, solange es nicht gänzlich unmöglich ist, dass das Opfer tot war, als Sandra die Männer nachhause fuhr – so lange sind Zweifel angebracht. Sandra als potenzielle Friedensstifterin – nicht als eine, die in Auftrag gab, dass jemand „weg muss“, der nicht mehr in den Entwurf des eigenen Lebens, der eigenen Zukunft passt …
Ein weiterer Raum: Zeugen, die Sven als einen eher ruhigen und nicht zur Gewalt neigenden Menschen beschreiben. Ein Zeuge, dem Sandra erzählt haben soll, sie und der Sven hätten „da einen platt gemacht“: „Ich habe der nicht geglaubt. So etwas passt nicht zu Sven. Ich kenne den doch.“ In einer Verhandlungspause steht er im Innenhof des Gerichts bei Svens Frau.

Anstiftung
Der Pole – so nannten ihn alle – ist einer, der als erster Außenstehender von der Tat wusste. Sven hat sich ihm offenbart. Der Pole: Für das Trio ein wachsendes Risiko. Ein weiteres Risiko: Die Leiche in der Hauseinfahrt. Vielleicht noch einmal aufgraben, Benzin drüber – anstecken. Aber: Es bleibt immer etwas zurück. Polizeibeamte erzählen von Vernehmungen. Von Telefonüberwachungen. Einmal, sagt einer von ihnen, hat Sandra in einem Gespräch mit ihrem Mann gesagt, sie halte das nicht mehr aus. Eine Aussage, die das Bild stützt, das Sandras Verteidigung in die Karten spielt.
Dazu die Interaktionen der Verteidigungsteams. Sven hat gesagt, was zu sagen war. Kaum eine Spur von Selbstrücksicht. Unklarheiten einzig bei der Frage: Gab es eine (sexuelle) Beziehung zu Sandra oder nicht. Svens Frau sitzt jeden Tag im Saal. Mario: Auch am dritten Tag ohne Einlassung. Müsste man ein Bild seiner Beteiligung zeichnen – es wäre (noch) das eines inaktiven Dritten, der – vielleicht – mit dem „goldenen Schuss“ im Hintergrund wartet, mit der Spritze aber nicht zum Zug kam. Mario: einer, der leugnen könnte, was Sven sagt, nämlich, dass auch er, Mario, den Schläger nutzte. Dass er es war, dem der Schläger zu Bruch ging. Sandra, die nichts wollte als ein Gespräch? Mario, der nicht zum Zuge kam? Das alles ließe Sven als einzig aktiven Täter zurück … Natürlich hält das Recht Lösungen für Menschen bereiten, die sich durch Anstiftung schuldig machen. Der Paragraph 26 des Strafgesetzbuches sagt: Als Anstifter wird gleich einem Täter bestraft, wer vorsätzlich einen anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat bestimmt hat.
Schnell wird verständlich, dass Sandras Verteidigung immer wieder herauszuarbeiten versucht, ihre Mandantin habe nichts anderes als ein Gespräch gewollt. Was wird sich beweisen lassen? Was wird Ahnung bleiben? Alle warten auf die Aussage von Mario. Man muss kein Prophet sein um zu ahnen, dass nochmals eine andere Tat besichtigt wird – zumindest wird eine neue Perspektive auftauchen. Zwischendurch bleibt Zeit zum Nachdenken.

3. Tag
Mit Zahlen hab’ ich es nicht
Der dritte Tag soll die Aussage des dritten Angeklagten bringen. Vorher: Polizeibeamte und ein Zeuge, der den Vorsitzenden Richter ans Ende der Beherrschung bringt. Der 28-jährige Zeuge gibt auf die Frage des Gerichts nach seinem Beruf „Rentner“ an. Ja, er kannte das Opfer. Sie haben zusammen gearbeitet. „Wenn Sandra den Mark morgens zur Arbeit gebracht hat, dann haben die mich für kleines Geld mitgenommen.“ Was denn der Mark für ein Typ gewesen sei, möchte der Richter wissen. „Schon ein Ruhiger.“ Andererseits habe der auch aufbrausend sein können. „Aber der hat nie jemandem etwas getan. Der hat, wenn er sich aufregte, eher mal gegen eine Tonne getreten. Der war eine Art HB-Männchen, wenn Sie wissen, was ich meine. “ Beide – der Zeuge und das Opfer – waren an Modellbau interessiert: „Schiffe und Flugzeuge und so.“ Ein halbes Jahr haben sie zusammen gearbeitet, sich dann aus den Augen verloren. Noch läuft die Befragung ruckfrei. Ja, auch die Sandra hat der Zeuge gekannt. Bei der habe er sich ab und an ausheulen können. „Die hatte immer ein Ohr für mich.“ Immer wieder fragt der Richter nach Daten, Jahreszahlen und rührt ans Desolate. „Mit Zahlen hab’ ich es nicht.“ Er habe, so der Zeuge, in einer Lebenskrise gesteckt. Es ist, erfährt man, um Depressionen gegangen. Thomas Hans Günter Egon wurde im Januar von der Polizei vernommen. Er hat, deutet sich an, einiges erzählt. Als der Richter sich jetzt in die Nähe dieser Befragung gibt,  ändert sich die Stimmung des Zeugen. Er wolle am liebsten alles widerrufen, was er gesagt hat. Der Beamte, der ihn vernahm, hat ihm Vieles in den Mund gelegt. „Ich war genervt. Ich hatte drei Tage nicht geschlafen. Ich wollte einfach nur weg. Ich habe einfach nur immer Ja gesagt.“ Der Richter sieht es anders. „Sie sagen uns, der Beamte hätte ihnen viel erzählt und Sie hätten dann alles bestätigt. Das würde bedeuten: Lange Fragen, kurze Antworten. Es sieht aber genau andersherum aus. Kurze Frage und lange Antworten.“ Der Zeuge bleibt dabei: Er erinnert sich an nichts. An gar nichts. Der Richter belehrt den Zeugen ein zweites Mal und keine fünf Minuten später ein drittes Mal. „Da vorn sitzt der Staatsanwalt und der hört genau zu. Das ist Ihnen schon klar?“ Dann unterbricht der Vorsitzende Richter für fünf Minuten. „Ich muss mal raus. Ich muss mich beruhigen. Sie können dann noch einmal darüber nachdenken, was und wie Sie antworten möchten.“ Nach fünf Minuten erscheint der Zeuge zusammen mit einer Zeugenbetreuerin. Er kann sich noch immer nicht erinnern. „Dann ist wohl alles weitere Fragen sinnlos“, sagt der Vorsitzende Richter. Einer der Verteidiger fragt den Zeugen: „Hatten Sie Angst? Hat irgendjemand sie im Vorfeld dieser Befragung angesprochen?“ „Nein.“ Die beiden Polizisten, die die Befragung des Zeugen durchgeführt haben, beschreiben eine andere Situation. Man habe dem Zeugen nichts in den Mund gelegt. Man habe ja Erkenntnisse gewinnen wollen. Der Zeuge habe gereizt gewirkt. Ja, es sei möglich, dass der Zeuge auch geäußert habe, er wolle nicht weiter befragt werden. Der Zeuge sei sprunghaft gewesen.
Das Gericht spielt über Bande. Da der Zeuge sich an nichts erinnert, müssen die Antworten aus der Befragung nun von den Befragern kommen. All das wirkt mühsam und zieht sich hin, aber: Es gilt das gesprochene Wort und nicht, was in den Akten festgehalten wurde.
Auftritt eines weiteren Zeugen. Es geht darum, dass er aussagen könnte, die Angeklagte habe sich an ihn gewendet um „das Problem Mark“ zu beseitigen. Ein Mordauftrag also. Der Zeuge sitzt in Haft. Betritt in Handschellen den Saal. Was kann der Zeuge sagen, ohne sich selbst zu belasten? Sandras Verteidigung schlägt vor, einen Zeugenbeistand zu bestellen. Sandras Verteidiger geht es nicht um den Schutz des Zeugen. Es geht darum, einen weiteren Kollateralschaden zu vermeiden. Ein Mordauftrag wäre der größte anzunehmende Unfall. Der Richter möchte sich zunächst ein Bild von dem Zeugen machen. Der würde sich selbst belasten, wenn er von dem potenziellen Gespräch – von der potenziellen Anfrage Sandras – erzählte. Eine Verteidigung auf Zehenspitzen, angespannt bis in die letzte Faser. Hier könnte alle Taktik ins Leere laufen. Noch lässt sich nicht beweisen, dass es der Angeklagten um mehr als ein „beschütztes Gespräch“ mit dem späteren Opfer ging. Der Zeuge hat sich mit seinem Anwalt besprochen. Er würde gern helfen, aber er möchte lieber nichts aussagen. „Hatten Sie Auslagen?“ „Herr Richter, Sie wissen schon, wo ich herkomme?“

Mario
Dann: Mario. Er stützt im Wesentlichen das bereits von Sven geschilderte Tatgeschehen. Er habe, sagt er, Sandra circa einen Monat vor der Tat kennengelernt. Der Kontakt sei über seine Freundin [N.] entstanden, die wiederum mit dem späteren Opfer wegen eines Drogenproblems in der LVR-Klinik gewesen sei.
Schon vor der Aussage von Mario hatte des Gericht dessen Freundin erlebt, die derzeit noch in Haft ist. „Ich werde nächste Woche entlassen. Dann möchte ich den Mario so bald wie möglich heiraten.“ Vor diesem Hintergrund belehrt der Vorsitzende Richter die Zeugin, dass sie das Recht hat, in diesem Fall gar nicht auszusagen. „Sie sind die Verlobte des Angeklagten und müssen also gar keine Aussage machen. Für uns bedeutet das, dass es Sie nicht gibt. Wenn Sie von ihrem Recht Gebrauch macht, keine Aussage zu machen, darf das Gericht diese Tatsache in keiner Weise werten.“
Mario schildert, dass er circa eine Woche vor der Tat von Sandra und deren Problemen mit dem späteren Opfer erfahren habe. Ziemlich schnell habe sich die Meinung festgesetzt, dass die einzige Lösung darin bestehe, Mark zu töten. „Der hatte ja der Sandra gedroht, ihrem Mann, ihren Eltern und den Tieren etwas anzutun. Zur Polizei zu gehen, wäre keine Lösung gewesen.“ Teil des Planes sei gewesen, dem Opfer eine tödliche Dosis Heroin zu spritzen.
Die Idee, dass man auch einen Baseballschläger einsetzen wolle, sei erst auf der Fahrt zum Tatort erörtert worden. „Bevor wir dann zum Haus kamen, hat es zwei Stopps gegeben.“ Bei beiden Stopps habe man nochmals das Vorgehen besprochen. Er habe die Spritze mit dem Heroin dabei gehabt. Als man am Haus angekommen und nach oben zum Zimmer des Opfers gegangen sei, habe er sich ins Nebenzimmer begeben. „Der Sven hat mit dem Baseballschlager links neben der Tür gestanden. Ich weiß nicht mehr genau, ob die Sandra ins Zimmer gegangen ist, ob sie den Mark gerufen hat. Jedenfalls hat der Sven, als der Mark aus dem Zimmer kam, gleich zugeschlagen.“ Gesehen habe er das nicht. „Ich war ja im Nebenzimmer.“ Vorsitzender: „Konnte denn der Mark den Seven sehen, als er aus dem Zimmer kam?“ „Nein.“ [Das Opfer: Arg- und wehrlos. Ohne Chance.) Mario A. weiß auch nicht, wo sich Sandra während des Tatgeschehens aufhielt. „Ich glaube, die stand zunächst an der Treppe.“ Er sei erst in Marks Zimmer gekommen, als der schon auf auf dem Boden gelegen habe. Ob Mark irgendetwas gesagt hat, möchte der Vorsitzende Richter wissen. „Der hat so was gesagt wie: Was bist du denn für einer?“ Dass er, Mario, zu Sven gesagt haben soll „Gib mir mal den Schläger“ kann Mario weder bestätigen noch ausschließen. Fest steht für ihn: „Ich habe nur ein Mal zugeschlagen und ich weiß nicht einmal, ob ich getroffen habe.“ Die Spritze habe er dem Opfer nicht gesetzt. Da habe es eine Sperre in seinem Kopf gegeben. Er habe den Kolben aus der Spritze gezogen, den Inhalt auslaufen lassen und die Spritze dann auf den Tisch gelegt. Ja – einen Satz mit dem Inhalt „Stirb wie ein Mann“ hat es gegeben, aber Mario weiß jetzt nicht mehr, wer den Satz gesagt hat. Sven habe das Opfer gefesselt. Kurz darauf „hat Sandra uns nachhause gefahren“. Das Opfer habe noch geröchelt und sich bei der Fesselung geringfügig gewehrt. Er habe, so Mario, die Hoffnung gehabt, „der Mann von Sandra kommt nachhause und irgendwie kommt alles noch in Ordnung.“
Nach der Tat enden alle Töne. Das weitere Geschehen – eine Art Stummfilm. „Keiner hat etwas gesagt.“ Sie sitzen schweigend im Auto. Erst am Folgetag ruft Sandra an und bittet Sven und Mario nochmals um Hilfe. „Es ging darum, die Leiche in das Loch zu schaffen. Als wir nach oben kamen, lag der Tote nicht mehr in dem Zimmer, wo ich ihn zuletzt gesehen habe. Er lag jetzt auf dem Flur und war mit einer Decke verhüllt.“ Man habe die Decke nicht mehr abgenommen. „Wir haben den dann runtergetragen, in das Loch gelegt und danach zugeschüttet.“

Taub
Man hört all das und bemerkt, dass auch Grausamkeit irgendwie taub macht. Drei Mal ist die Tat geschildert worden, und längst hat eine Form der Gewöhnung eingesetzt. Mario schildert alles sehr ruhig, irgendwie besonnen – erweckt den Eindruck, dass er möglichst präzise alles schildern möchte. Sagt, dass er all das aus heutiger Sicht nicht verstehen kann. Von einem der beiden Gutachter befragt, wie lange die Autofahrt zum Tatort ungefähr gedauert habe, schätzt Mario „20 Minuten“. „Haben Sie während dieser Zeit auch daran gedacht, einfach nicht mehr mitzumachen?“ Gedacht habe er daran. „Aber gesagt habe ich nichts.“
Dass Sandra am Tatabend, nachdem sie die beiden Mittäter nachhause gebracht hat, nochmal auf das Opfer eingetreten haben soll, weiß Mario nur vom Hörensagen. Vor der Tat hat er sich regelmäßig sowohl mit Sandra als auch mit Sven getroffen. Nachher seien die Treffen immer seltener geworden. Nach seiner Beurteilung des Verhältnisses von Sandra zum späteren Opfer befragt, sagt Mario: „Irgendwie ganz normal freundschaftlich.“ Sandra und Sven – das sei ein Techtelmechtel gewesen. Nach der Tat allerdings habe er den Eindruck gehabt, „die Sandra war sauer auf den oder vielleicht auch enttäuscht von ihm“.
„Zum Tatzeitpunkt haben Sie die Geschichte der Vergewaltigungen geglaubt. Wie sehen Sie das heute?“, fragt der Vorsitzende Richter. „Heute glaube ich das nicht mehr. Aber dieses Gefühl ist erst hier in der Verhandlung entstanden.“ Am 4. November wird die Verhandlung fortgesetzt.

4. Tag
Kontaminiert
Der Saal ist schon um 8.45 Uhr geöffnet. Auch die Fenster stehen stehen offen. Einer der Gutachter schließt sie. Er stützt sich auf der Fensterbank ab. Anschließend betrachtet er seine Handinnenfläche. „Hier müsste mal Staub gewischt werden“, sagt er. Dann: Eine kontaminierte Zeugin. Seit sechs Minuten sitzt sie mit ihrem Mann – auch er soll befragt werden – im Saal. 9.20 Uhr: Das Gericht tritt ein.
Der Vorsitzende Richter zählt Köpfe. „Alle da“, sagt er und beginnt mit der Belehrung. Seitdem einer der Zeugen vom Vortag sich an nichts mehr erinnert, hat sich die Belehrung erweitert. „Denken Sie bei Ihrer Aussage daran, dass auch Sie einmal in die Lage kommen könnten, auf eine richtige Aussage angewiesen zu sein“, sagt der Vorsitzende Richter. „Wir beginnen dann mal mit Ihnen, Frau B.“ Herr B. muss so lange nach draußen. Die Verteidigung meldet sich zu Wort. Es geht um die Zeugin. Sie sei ein kontaminiertes Beweismittel, sagt der Verteidiger. Es geht darum, dass B. – eine Freundin der Angeklagten – am ersten Tag im Publikum saß. Um 9.24 Uhr geht das Gericht ab. Es muss beraten werden. Um 9.40 Uhr der Beschluss des Vorsitzenden: Die Zeugin wird gehört. Als sie am ersten Tag im Zuschauerraum saß, war sie noch nicht als Zeugin vorgesehen. Dass sie im Saal war, ändert nichts an der Aussage. Im Zentrum der Aussage von Frau B. stehen zwei Punkte, die dem Gericht wichtig sind. Es hat, im Sommer des Tatjahres – das Datum wird B.s Ehemann später mit „Es war während der WM“ eingrenzen – ein Essen gegeben. Sandra, ihr Mann und die Eheleute B. besuchten ein Restaurant, um zusammen zu essen. Sie saßen zunächst draußen. Frau B.: „Es war aber noch zu kühl. Wir sind dann ziemlich schnell rein gegangen.“ Während die Ehepaare noch draußen sind, fragen Sandra und ihr Mann, ob die B.s nicht jemandenkennen, der den Mario „wegmachen kann“. Das Wort Mord oder Umbringen ist nie gefallen. Wenn Frau B. sagt, sie habe es so verstanden, sagt sie auch: „Ich habe das nicht ernst genommen.“ Sie und Sandra: Zuerst bekannt, dann gute Freundinnen. Dann zerstritten. Eine zeitlang haben sie sich täglich getroffen. Sandra hat B. von ihren Problemen mit dem späteren Opfer erzählt. Belästigungen. Dass diese Belästigungen auch sexueller Art waren, hat B. nicht gewusst. Wenn sie Sandra besucht und dabei Mark getroffen hat, erlebte sie einen ruhigen, freundlichen jungen Mann. Aber ab und an, wenn B. mit Sandra telefonierte, bekam sie mit, „dass der ganz schön abgehen konnte. Der brüllte dann im Hintergrund.“
Der Richter sagt, es sei ja heftig, dass man bei einem Essen plötzlich gefragt werde, ob man jemanden kenne, der „einen wegmachen“ könne. „Das erlebt man ja nicht alle Tage“, sagt der Richter. Frau B.: „Das ist bei uns nichts Besonderes.“ (???) Es stellt sich heraus, dass B. und Sandra öfter mal über „ihre Männer klagen“. Auch sie führe, sagt B., eine „heftige Ehe“. Natürlich werde da unter Mädels auch mal gescherzt, dass die Männer am besten nicht mehr da wären. „Aber wir würden doch für die nicht in den Knast gehen“, sagt sie. „Ich hatte Sie vorhin so verstanden, dass Sie das ‘Wegmachen’ schon als Tötung verstanden haben“, sagt der Vorsitzende. „Ich habe schon gemerkt, dass da eine Lösung gesucht wurde, aber ich habe doch nicht an so was geglaubt.“
Irgendwann hat Sandra ihrer Freundin erzählt, der Mark sei jetzt ausgezogen. Nach der Festnahme von Sandra und ihrem Mann bekam B. einen Anruf von der Marios Freundin, die ja mittlerweile dessen Verlobte ist. „Die Nadine hat mir dann erzählt, wie die Tat abgelaufen ist.“
Richter: „Die N. hat Ihnen das erzählt?“ B.: „Ja. Wir haben telefoniert. Circa 45 Minuten lang.“ Unter anderem hörte B. von „der Nadine“, dass Sandra am Tatabend „irgendwann nach unten ging, sich Stahlkappenschuhe anzog und dann das Opfer getreten“ hat. Richter: „Hat denn der Ehemann von der Sandra Ihrer Kenntnis nach von den sexuellen Belästigungen seiner Frau durch das Opfer gewusst?“ „Der hat davon nichts gewusst.“ Richter: „Als es um das Wegmachen ging – haben Sie und Ihr Mann da nicht ins Spiel gebracht, man könne das Opfer auch anders loswerden?“ „Natürlich. Wir haben gesagt: Geht doch zur Polizei. Die meinten aber, das würde nichts bringen. Der Mark  würde doch zurückkommen. Der hat der Sandra ja immer gedroht. Er wollte ihren Eltern, den Tieren und ihrem Mann was tun.“ Richter: „Was war denn der Mark für ein Typ? Wir haben den ja nicht erlebt.“ „Klein. Drahtig.“ Richter: „Und der Herr S. – wie würden Sie den beschreiben?“ „Groß. Bullig.“
Das Verhältnis von B. und Sandra ist nach der Tat abgekühlt. „Die Sandra hatte plötzlich kaum noch Zeit. Sie musste Marks Zimmer renovieren. Der war ja ausgezogen. Ich habe gesagt: ‘Ich kann dir doch helfen.’ Sie sagte, das würden ihre Eltern tun. Ich habe dann irgendwann zwei Fotos von dem renovierten Zimmer geschickt bekommen.“ Die Sandra habe für den einen der beiden Angeklagten geschwärmt, sagt B., als der Vorsitzende sie fragt. „Das konnte ich nicht verstehen. Gar nicht mein Typ.“ Ja – die Sandra habe dem späteren Opfer auch schon mal Drogen besorgt. „Im Coffee Shop.“ Sandra habe ihre Ruhe haben wollen und deshalb die Drogen herbeigeschafft. Fünf Minuten später sagt B., dass „der Mark“, wenn er unter Drogen stand, nicht ausrechenbar gewesen sei.

Woher soll ich denn solche Leute kennen?
Herr B. ist Monteur. Er ist viel unterwegs – manchmal zwölf Stunden am Tag. Wenn er zuhause ist, will er seine Ruhe. Sonst nichts. Er hat sich bei dem Restaurantbesuch schon darüber gewundert, dass Sandras Mann ihn fragt, „ob ich jemanden kenne, der den Tp wegmachen kann“. B.: „Woher soll ich denn solche Leute kennen.“ Das meiste, was B. über die Sandra, deren Mann und das spätere Opfer wusste, hat er von seiner Frau gehört. „Hörensagen“, betont er immer wieder und bezieht sich auf die Belehrung: „Wenn Sie etwas nur vom Hörensagen wissen, dann müssen Sie das kenntlich machen.“ Natürlich hat auch Herr B. die Wegmachfrage nicht wirklich ernst genommen. Wer denkt denn an Mord? Richter: „Wurde denn ein Grund genannt, dass der Mark weg muss?“ Zeuge: „Der hat Stress gemacht, wie der drauf ist. Die haben sich gezankt. Angeblich war der auch gewalttätig.“
Längst fragt man sich, wer und wie dieses Opfer war? Ruhig, sagen die einen, unberechenbar die anderen. Jähzornig, drogensüchtigt. War Mark einer, der Sandra jaherlang sexuell und seelisch misshandelt hat – einer, der eine Katze umbrachte und der Angeklagten drohte, er werde ihr, ihren Eltern und ihrem Mann etwas antun? Das Wort Opfer ruft in der Regel die Vorstellung des Wehrlosigeit hervor – aber es ist eine Wehrlosigkeit im Augenblick der Tat – im Augenblick des Todes. Wer war Mark?

Rechtskreistheorie
Was ist eigentlich mit Frau B.s Ausführungen bezüglich ihres Telefonates mit der Verlobten des Angeklagten Mario? Früchte vom verbotenen Baum sind es nicht. Sagen Zeugen gegenüber der Polizei aus und machen später von ihrem Recht Gebrauch, beispielsweise als Ehefrau oder -mann nicht aussagen zu müssen, dürfen die Aussagen, die im Vorhinein gemacht wurden, nicht verwendet werden. Dass die Verlobte eines der Angeklagten der B. gegenüber etwas gesagt hat? Einspruch ist nicht erhoben worden. Das Gericht müsse wissen, wie es mit einer solchen Aussage umzugehen habe, sagt einer der Verteidiger. Ein anderer verweist auf die Rechtskreistheorie.
[Die Rechtskreistheorie (auch: Schutzzwecktheorie oder Normzwecktheorie) ist ein rechtswissenschaftlicher Maßstab im Strafverfahrensrecht. Diese in der BGH-Rechtsprechung gründende Theorie besagt, dass ein Angeklagter eine Revision wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften nur auf solche Verfahrensvorschriften stützen kann, deren Schutzzweck seinen Rechtsinteressen dient.
Beispiel: Wird ein Zeuge nicht ordnungsgemäß über ein ihm zustehendes Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 StPO belehrt, das ihm etwa wegen seiner Eigenschaft als Arzt eines Dritten, also nicht des Angeklagten, zusteht und macht darauf dieser Zeuge eine belastende Aussage, kann der Angeklagte Verfahrensfehler nicht rügen. Die Zeugnisverweigerungsvorschrift des § 53 StPO schützt den Patienten, nicht aber den Angeklagten. Auch ein Verstoß gegen das Auskunftverweigerungsrecht nach § 55 StPO und ein Verstoß gegen körperliche Untersuchungen nach § 81c StPO fallen nicht in den Rechtskreis des Beschuldigten. § 81c StPO dient nur dem Schutz der Gesundheit des Beschuldigten. Anders dagegen § 52 StPO. Dieser dient unter anderem dem Schutz der Familienbande und fällt daher in den Rechtskreis des Beschuldigen / Angeklagten.
Auf diese Grundsätze kann er jedoch nicht nur beim Rechtsmittel der Revision verwiesen werden, sondern in jedem Stadium des Verfahrens. Bei der Frage, ob ein Beweiserhebungsverbot auch ein Beweisverwertungsverbot nach sich zieht, ist die Frage zu stellen, ob das Beweiserhebungsverbot, gegen das verstoßen wurde, den Rechtskreis des Beschuldigten sichern soll.]
Nach der Vernehmung von Herrn B. bekommt die Kammer eine Anregung von einem der Verteidiger. „Herr Vorsitzender, Sie hatten ja angekündigt, heute wieder eine Vorlsesestunde abzuhalten. Ich möchte ein Selbstleseverfahren anregen.“ Ein bisschen klingt das wie ein Gnadengesuch. Man hat noch die vorgelesenen Urteile des ersten Verhandlungstages im Hinterkopf. Es ist 10.22 Uhr. „Wir machen mal 20 Minuten Pause“, sagt der Vorsitzende und erhöht auf 30.
Um 11.12 Uhr verkündet der Vorsitzende, man werde das Selbstleseverfahren auf die Telekommunikationsprotokolle anwenden und „heute nur noch zwei Gutachten verlesen. Das hätten wir ohnehin gemacht.“ Die Gutachten beziehen sich auf Blutspuren einerseits und die Suche nach Rückständen von Drogen und oder Medikamenten. Das DNA-Gutachten wird von Erklärungen umrankt, die das Hinhören nicht eben erleichtern. Dies und jenes wird erklärt. Methoden werden vorgestellt. Die Blutanhaftungen am Laminat (Nut) erweisen sich als Blut des Opfers. Das Blut an der Stereoanlage stammt von einem der Angeklagten. Bei dem Gutachten in Sachen Drogen und Medikamente wird von einer „Leiche im fäulnisfortgeschrittenen Zustand“ gesprochen. Außer den Schädelverletzungen wurde ein gebrochener Unterarm festgestellt, der wohl als „Parier-Fraktur“ gesehen werden muss. Dann bewältigt der Richter mit Bravour einen minenfeldgleichen Fremdwortparcours. Lieber würde man vielleicht doch Telefonüberwachungsprotokolle gehört haben.
Nach dem Vorlesen der Gutachten gibt es noch Anregungen seitens der Verteidigung. Ein Blutspurengutachten könne man in Auftrag geben, um festzustellen, dass es womöglich wesentlich mehr Schläge gegeben habe als bisher erwähnt. Beamte der Spurensicherung könnten gehört werden. Das Gutachten bezüglich des Mageninhalts könnte verlesen werden. Nach einer weiteren Unterbrechung verliest der Vorsitzende den Bericht zum Mageninhalt des Opfers. Ansonsten wird „den Anregungen des Herrn Verteidigers“ erst einmal nicht entsprochen. Ein schönes Wochenende.

5. Tag
Die unsichtbare Vierte
Läss man sich auf die Planung des Gerichts ein, ist das hier der Tag vor dem Urteil. Zeugenaussagen sind geplant. Gutachten sollen folgen. Plädoyers vielleicht. Erstens kommt es anders …
Der Tag beginnt mit zwei Kriminalbeamten. Die erste Aussage ist nach vier Minuten beendet. Der Beamte hat Festnahmen mitgemacht und war ansonsten nicht in die Ermittlungen eingebunden. „Hatten Sie Auslagen?“ „Nein.“
Der zweite Beamte hat unter anderem „den Polen“ vernommen. An einem Punkt seiner Aussage erwähnt er, „der Pole“ habe erzählt, „die Sandra und die N. – die Verlobte des Angeklagten Mario – hätten am Tattag versucht, das Opfer aus seinem Zimmer zu locken. Haltstop. Wer? Erstmals ist der Tatort mit dem Opfer und vier weiteren Personen bevölkert. N. am Tatort? Wieso hat man vorher nichts darüber gewusst. Irgendjemand wird darauf eingehen, denkt man sich. Irgendetwas muss jetzt passieren. „Noch Fragen an den Zeugen?“ Stille. Der Beamte verlässt den Gerichtssaal. Jetzt ist es an der Zeit für die erste Person Singular. Ich folge dem Beamten auf den Gang. „Sie haben gerade bei Ihrer Aussage die N. erwähnt.“ „Sie sind von der Presse?“ „Ja.“ „Sprechen Sie mit dem Staatsanwalt. Ich kann dazu nichts sagen.“ „Aber Sie haben doch gerade etwas dazu gesagt: Ich hab’s aufgeschrieben.“ „Sprechen Sie mit dem Staatsanwalt.“ Niemand, erfahre ich später, niemand geht davon aus, dass N. am Tatort war. Es gibt nur diese eine Aussage. Auch einer der Verteidiger sieht das so. „Wir gehen alle davon aus, dass N. nicht am Tatort war.“ Auch der Pole hat in seiner Vernehmung N. nicht erwähnt. Warum eigentlich nicht? „Zum Beispiel hat niemand ihn dazu befragt“, sagt einer der Verteidiger. N. war also nie am Tatort. Auch das Gericht hat nicht nachgefragt.

Video
Ein weiterer Kripomann sagt aus. Er hat am Tag nach der Festnahme die Rekonstruktion der Tat mit der Angeklagten durchgeführt – war mit ihr am Tatort. Es gibt einen Film. Alles ist dokumentiert. Erstmals also betritt die Öffentlichkeit das Tathaus. Sie sieht den Kripomann mit Sandra S. in der Küche stehen. Die Atmosphäre: Ruhig sachlich. Die Angeklagte zeigt den Weg, den sie am Tattag mit den beiden Männern (N. war nie da!) gegangen ist. Treppauf geht es. Dort stehen Kartons und anderes Zeug. „Das alles war damals nicht hier“, sagt die Angeklagte. Der Kripomann hat noch im Erdgeschoss gefragt, wo der Baseballschläger gestanden hat. Sandra S. hat ausgesagt, dass „der Sven sich den genommen hat“. Der Schläger: An die Heizung gelehnt. Nein, Sandra S. hat, sagt der Kripomann, ausgesagt, sie habe Sven den Schläger nicht gegeben. Er habe ihn genommen. Oben wird die Situation weiter nachgestellt. Der Kripomann hat eine Papprolle zur Tatwaffe gemacht und mit nach oben genommen. Sie stehen vor der Tür zum Zimmer des Opfers. „Der Sven hat links von der Tür gestanden. Der Mark konnte ihn nicht sehen.“ Mario war in einem anderen Zimmer – rechts vom Zimmer des Opfers. Jetzt ist nicht mehr klar, ob Sandra angeklopft und Mark zum Herauskommen bewegt oder ihn einfach herausgerufen hat. Sandra erklärt, wo Mark vom ersten Schlag Svens getroffen wurde. Marks Mutter verlässt den Saal. Ihre Leidensfähigkeit ist an ein vorläufiges Ende gekommen. Sandra erzählt, wie und wohin Mark nach dem ersten Schlag getaumelt ist. Der Beamte in Opferrolle legt sich bäuchlings auf den Boden. Sandra hat Marios Aktionen nicht mehr gesehen. Sie hat – auf dem Treppenabsatz stehend – nur noch Geräusche gehört. Rückblende: Mario hat ausgesagt, einen Schlag geführt zu haben. Er wisse nicht, ob er das Opfer oder nur den Boden getroffen habe. Der Schläger jedenfalls sei zu Bruch gegangen.
Einen Beamten des Erkennungsdienstes hatte das Gericht gefragt, ob auf dem Laminatboden Schlagspuren festgestellt worden seien. „Nein.“ Für Marios Verteidigung rechtfertigt die Abwesenheit von Schlagspuren auf dem Boden keinesfalls die Annahme, sein Mandant müsse folglich das Opfer und nicht den Boden getroffen haben. Später wird Marios Verteidiger ein Gutachten beantragen, bei dem es genau um diesen Punkt geht. Nein, sagt der Verteidiger, er wolle nicht unnütz Geld ausgeben. Auch wolle er den Prozess nicht unnötig in die Länge ziehen, aber es sei schon wichtig, dass festgestellt werde: Selbst wenn sein Mandant den Boden und nicht das Opfer getroffen habe – selbst wenn dabei der Schläger zu Bruch gegangen sei, bedeute das keineswegs, dass es deswegen Spuren auf dem Boden hätte geben müssen. Das Gericht braucht einen Moment um zu realisieren, was der Verteidiger meint, wenn er sagt, dass die Abwesenheit von Spuren nicht bedeutet, dass es keinen Schlag auf den Boden gegeben habe. „Entschuldigen Sie die doppelte Verneinung. Man hätte das auch einfacher formulieren können.“
In der Rekonstruktion ist Sandra mittlerweile auf dem Weg nach unten. Das Video ist aufgenommen, bevor in der Einfahrt nach dem Toten gegraben wird. Am Ende fragt der Kripomann Sandra S., ob sie noch ergänzende Angaben machen wolle, bevor die Aufzeichnung beendet werde. Sie habe das nicht gewollt, sagt Sandra. Die Aufnahme stammt vom 9. Januar. Zehn Monate sind vergangen. Sandra, sagt der Kripomann, habe auch in der Vernehmung gesagt, es sei um ein Gespräch gegangen. Das Gericht sieht Widersprüche. Zuerst habe Sandra sich niemandem anvertraut, weil das spätere Opfer sie, ihren Mann, ihre Eltern und die Tiere bedroht habe. Dann der Entschluss: Nun mit ihm zu reden – sich Mario und Sven anzuvertrauen. Das passe doch nicht zusammen. Auch der „goldene Schuss“ passe nicht zur „Gesprächsthese“. Vorsitzender Richter: „Hat Frau S. etwas dazu gesagt?“ Kripomann: „Diese Widersprüche konnte Frau S. auch in der Vernehmung nicht aufklären. Wir haben sie natürlich dahingehend befragt.“ In der Schilderung des Kripomannes haben Mario und Sven nicht nur beim Tragen des Leichnams in das von Louis ausgehobene Loch geholfen – jetzt haben sie auch mitgegraben. Ein Verteidiger möchte wissen, ob man Sandra S. danach gefragt habe, ob das Opfer beim Transport von der ersten Etage nach unten noch gefesselt gewesen sei. Man hat nicht danach gefragt. Sandra S. habe in Bezug auf die Tat mehrmals geäußert, die Sache sei „aus dem Ruder gelaufen“. Sie sei am Tatabend nicht mehr im Zimmer des Opfers gewesen. Sie habe am nächsten Tag „auf einem Grill“, Tapetenfetzen, Teppichreste und den Baseballschläger verbrannt. Die Aussagen, die Sandra S. bei ihrer ersten Vernehmung und am Folgetag bei der videografierten Rekonstruktion gemacht habe, seien, sagt der Kripomann, deckungsgleich gewesen. „Wir machen dann mal eine Pause und lassen das sacken“, sagt der Vorsitzende.

Früher
Danach: Wieder einmal ein Urteil aus früheren Tagen. Wieder einmal das Leben des Sven. Wieder einmal die Aussichtslosigkeit am Start. Jetzt steuert das Gericht langsam die Gutachten an und somit auch das Ende der Beweisaufnahme. Ein Ende ist in Sicht. Der Vorsitzende Richter fragt, ob es weitere Beweisanträge gibt. Es gibt sie. Die Verteidigung von Sandra S. möchte zwei weitere Kripoleute hören. Die Einlassungen von Mario bei der ersten Vernehmung sollen verlesen werden. Es gibt Widersprüche. Die Verteidigung von Mario sieht das anders. Man könne, sagt der Staatsanwalt, die Einlassung vielleicht als Vorhalt einbringen und den Angeklagten dann dazu befragen. Marios Verteidigung sieht das anders. Mario, sagt der Verteidiger, sei mit der Verlesung des Protokolls nicht einverstanden.
Das Gericht möchte zunächst den ersten der beiden Gutachter hören. Er hat sich mit Sven beschäftigt. Zwei Termine hat es dazu gegeben. Der Gutachter sieht eine auffällig frühe kriminelle Entwicklung. Er spricht davon, dass Sven einer sei, der die Dinge gern kontrolliere. Einer, für den Muskelaufbau ein Zeichen der Selbstsicherheit sei. Einer, der der sich selbst als „eine Art Sozialarbeiter“ beschreibt. Man kämpft gegen das Gefühl, das hier vor dem inneren Auge ein Holzschnitt entsteht. Der Gutachter spricht von Tests, von Punkten. Spricht von einem antisozialen Menschen mit psychopatischen Zügen – kommt zu dem Ergebnis das Sven keinesfalls schuld- oder steuerungsunfähig war. Kein Hinweis auf Intoxikation oder Entzug- Paragrafen marschieren vorbei.
Strafgesetzbuch, Paragraf 20: Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störung: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“
Paragraf 21: Verminderte Schuldfähigkeit: Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Paragraf 63: Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
Paragraf 64: Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.

All das wird erörtert. Längst ist die Verteidigung von Sven unruhig geworden – dem Gutachter sogar ins Wort gefallen. An einer Stelle benutzt der Gutachter das Wort „natürlich“ an verräterischer Stelle. Dann erwähnt er eines der früheren Urteile. Es gab eine Straftat, bei der ein Baseballschläger im Spiel war. Die Beschreibung des Gutachters deutet an, G. habe den Schläger in der Hand gehabt. Sie deutet an, Leute wie G. seien womöglich an den Umgang mit Gewalt gewöhnt – seien irgendwie „heiß darauf“. Das Urteil, so die Verteidiger, sage nichts darüber, dass Sven den Schläger in der Hand gehabt habe. Die Verhandlung wird unterbrochen. Es geht darum, die entsprechenden Stellen im Urteil zu finden. Der Gutachter, argumentieren die Verteidiger von Sven, habe „schwerwiegende und unzutreffende Schlussfolgerungen“ gezogen. Nachzuvollziehen ist das. Wahrscheinlich, denkt man, würde jeder andere Gutachter, mit Blick auf die Schuldfähigkeit zu sehr ähnlichen Ergebnissen kommen, aber ein paar der hier gehörten Argumente wirken „herbeigeschafft“. Man kann die Sorge der Verteidiger verstehen. Würden sie hier nicht eingreifen, würden sie nicht sagen, ihr Mandant befürchte die Voreingenommenheit – sie wären schlechte Verteidiger. Längst ist klar geworden, dass dieser Prozess den gesteckten Fahrplan nicht wird halten können. „Nach der Mittagspause zücken sie alle Ihre Terminkalender. Wir werden mindestens zwei weitere Termine brauchen“, sagt der Vorsitzende.
Wenn acht Anwälte, zwei Gutachter und ein Nebenklagevertreter nach Terminen suchen, wird die Sache schwierig. Fast 40 Minuten braucht der Richter, um mit allen Beteiligten drei weitere Termine zu finden. Alle weiteren Sitzungen finden jetzt nachmittags statt. Für die Eltern des Opfers eine Enttäuschung. Ihre Fähigkeit, all dem hier zu folgen, um zu einem Abschluss des nicht Abschließbaren zu kommen, schrumpft mit den Tagen. Die unablässige Wiederholung führt für die einen zum Stumpfwerden der Sinne, zu Versachlichung des Unsagbaren – für die Eltern des Opfers türmt sich der Schmerz. Die Erwartung, dass der Prozess nun noch mindestens zwei Wochen andauert, ist eine zu ahnende Strapaze. Das Gericht hat sein Tagespensum abgearbeitet. „Wir werden morgen über die Anträge entscheiden.“ Morgen – ein Tag ohne Gutachter, ohne Zeugen. Ein Tag ohne Handlung.
Der Kollege von der „Zeit“ ist morgens um irgendwas nach drei in Berlin in den Zug gestiegen, bis Duisburg gefahren und dann mit dem Leihwagen weiter bis nach Kleve. Ab und an in den Pausen entfährt im ein Gähnen. Nein, Kaffee trinkt er nicht, sagt er. Wahrscheinlich sei er einer von fünf Journalisten, die keinen Kaffee trinken. Tee? „Nur wenn ich krank bin.“ Tagsüber: Kalte Getränke – Wasser, Cola, Bionade. Abends gern mal ein Bier. Der Kollege bereist die Republik in Sachen Grausamkeit. „Gerichts- und Kriminalreporter“ steht auf seiner Karte. Heute Kleve, morgen München, übermorgen … Es geht ja nicht um die Stadt. Es geht um die Prozesse. Natürlich. Dieser hier hat alle Ingredienzien – lässt kaum etwas aus. Das Bösartignormale kann besichtigt werden. In seiner ganzen monströsen Banalität. Vielleicht, denke ich, könnte man’s verfilmen. Im Kopf stehen die Bilder abrufbereit. Aber Bilder allein sind kein Film. Das hier böte den Stoff für Dokumentarisches. Menschen, die sich ins Vederben graben, nach Motiven suchen, Spuren, Hinweisen … Wie schön könnte man zeigen, dass, was zu sehen ist, hauptsächlich von der Position des Betrachters definiert wird. Sandra S.s Verteidiger findet, der Gutachter habe einen guten Job gemacht. Sei stringent gewesen. Habe sich auf nichts eingelassen. Die Verteidiger von Mario sehen es anders. Dass Gericht und Anwälte nicht einmal zucken, als am Tatort in der Aussage des zweiten Kripomannes eine vierte Person auftaucht – dass einige sagen, es sei doch nach Aktenlage ganz klar, dass das nicht richtig sei – ist schwer einzuordnen. Zumindest die Schöffen, die – genau wie Publikum und Prozessbeobachter ohne Aktenkenntnis sind – hätten sich wundern, vielleicht auch nachfragen können. „Wissen Sie – es steckt so viel Quatsch in den Akten“, sagt einer der Verteidiger. „Was haben wir nicht alles gehört. Nehmen Sie die Aussage, man habe das Opfer zum Ausbluten aufgehängt?“ Trotzdem, möchte man sagen: Es sind ganz andere „Kleinigkeiten“ besprochen und aufgedröselt worden. Warum nicht diese unsichtbare Vierte? Stattdessen werden Zeugen geladen, die nicht mehr angeben, als Name, Alter, Dienstort und Dienstgrad, bevor sie (der erste Zeuge des Tages) entlassen werden, weil schnell fest steht, dass sie nichts beizutragen haben. Dann kommt einer, der N. an den Tatort erzählt, indem er die Aussage des Polen zitiert und … nichts passiert.

6. Tag
Die Sitzung soll um 10 Uhr beginnen. Es wird 10.14 Uhr, bis das Gericht erscheint. Es gilt, über Anträge zu befinden. Da ist der Antrag bezüglich der widersprüchlichen Aussagen von Mario. Der Vorsitzende Richter möchte vor der Entscheidung ein paar Dinge klären. Im Dialog mit dem Richter räumt Mario ein, dass das in der polizeilichen Vernehmung Gesagte durchaus richtig sei, dass er aber im Nachhinein noch weitere Details erinnere. Die von ihm in der Hauptverhandlung eingeräumten zwei Stops auf der Fahrt zum Tatort sind Teil dieser nacherinnerten Fakten. Im Vernehmungsprotokoll tauchen sie nicht auf. Damals hat Mario den Satz „Stirb wie ein Mann“ Sven zugeordnet. Jetzt ist Zuordnung nicht mehr möglich. „Ich weiß aber, dass dieser Satz gesagt worden ist.“ Es gelte das, was er in der Hauptverhandlung gesagt habe. Damit gibt sich Sandra S.s Verteidigung nicht zufrieden. Zwei weitere Kripobeamten sollen gehört werden. Am Ende einigt man sich auf einen Zeugen, da der andere schwer erkrankt und nicht in der Lage sei, am nächsten Termin teilzunehmen.
Marios Verteidiger gibt eine Erklärung ab. Es geht um eine Belehrung der Angeklagten. Die Verteidigung sieht es so, dass nun auch eine Anklage wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge in Betracht gezogen werden müsse. Den Antrag von A.s Verteidigung bezüglich der nicht vorhandenen Schlagspuren auf dem Laminat weist des Gericht zurück und weist darauf hin, dass im Antrag selbst davon ausgegangen werde, dass nicht vorhandene Schlagspuren nicht ausschließen könnten, dass A. sein Opfer verfehlt und der Schläger beim Auftreffen auf den Boden zu Bruch gegangen sei. Das Gericht weist darauf hin, dass auch beides zutreffen könne – der Beweisantrag also nicht weiterführe.
Dann: Die Befangenheit des Gutachters. Wieder wird unterbrochen. Die Verteidigung wartet auf die Übermittlung des entsprechenden Urteils. Es ist einer der Tage, an denen die Pausenzeiten das prozessuale Geschehen bestimmen. Der Befangenheitsantrag wird abgelehnt. Eine Voreingenommenheit des Gutachters kann das Gericht nicht entdecken.
Der Staatsanwalt meldet sich zu Wort. Für die Anklage komme nun auch in Betracht, eine rechtliche Belehrung bezüglich der besonderen Schuldschwere im Fall der Angeklagten Sandra S. vorzunehmen. Zum einen habe sie aus Sicht der Anklage die beiden Angeklagten Sven und Mario quasi also Tatwerkzeuge instrumentalisiert. Es hätten aus Sicht der Anklage keine Vergewaltigungen stattgefunden. Die Angeklagten Sven und Mario seien aber durch eben diese Schilderungen zu ihrer Tat „motiviert“ worden. Zum anderen sehe es die Anklage mittlerweile als erwiesen an, dass Sandra eine weitere Tötung, nämlich die des Polen geplant habe. Sandras Verteidiger stellt unmissverständlich klar, dass, sobald es um die Feststellung der Schwere der Schuld gehe, er gemäß Paragraf 265 der Strafprozessordnung eine Aussetzung des Verfahrens beantragen werde.
§ 265: Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes oder der Sachlage: (1) Der Angeklagte darf nicht auf Grund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne daß er zuvor auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes besonders hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben worden ist.
(2) Ebenso ist zu verfahren, wenn sich erst in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände ergeben, welche die Strafbarkeit erhöhen oder die Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung rechtfertigen.
(3) Bestreitet der Angeklagte unter der Behauptung, auf die Verteidigung nicht genügend vorbereitet zu sein, neu hervorgetretene Umstände, welche die Anwendung eines schwereren Strafgesetzes gegen den Angeklagten zulassen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten oder die zu den im zweiten Absatz bezeichneten gehören, so ist auf seinen Antrag die Hauptverhandlung auszusetzen.
(4) Auch sonst hat das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen die Hauptverhandlung auszusetzen, falls dies infolge der veränderten Sachlage zur genügenden Vorbereitung der Anklage oder der Verteidigung angemessen erscheint.
Schon diskutieren die Prozessbeteiligten, ob weitere Termine vonnöten sein werden. Richter: „Wir haben noch das letzte Viertel des ersten Gutachtens zu hören, danach folgen zwei weitere Gutachten, es wird ein weiterer Zeuge vernommen und dann hören wir acht Plädoyers.“ (Es plädieren: Die Staatsanwaltschaft, die Nebenklage und sechs Verteidiger.) Acht Mal wird wieder die Tat besichtigt werden. Zum neunten und letzten Mal wird das Gericht bei seiner Urteilsbegründung das gesamte Geschehen noch einmal ablaufen lassen.

Architekturen II
Die Berichterstattung über einen Prozess ist vergleichbar mit Sportberichterstattung. Die drei Minuten, die von einem Spiel in der Zusammenfassung übrig bleiben, können mit Höhepunkten spielen. Sie können Spannung zeigen und – falls es keine gibt – Verflachung. Entwicklung findet notgedrungen nicht statt. In der Zeitung fehlt es am nötigen Platz. Was am Ende abgebildet wird, ist ein Prozess ohne Entwicklung – eine Art Start-Ziel-Berichterstattung, die mit der Verlesung der Anklage beginnt und mit der des Urteils endet. Urteile sind am Ende die Pflaster für verletzte Gerechtigkeiten. Sie geben dem oft nichtanwesenden Volk das beruhigende Gefühl: Unrecht zahlt sich nicht aus. Was im Gerichtssaal wirklich passiert, ist oft nicht nachvollziehbar. Natürlich macht es einen Unterschied, ob ein Täter selbst zum Baseballschläger greift oder ob er den Schläger in die Hand gedrückt bekommt. Natürlich ist es wichtig, ob ein Opfer noch lebte, als die Täter den Tatort verließen. Fand Sandra S. am Tatabend, nachdem sie die Mittäter weggebracht hatte, einen Sterbenden vor oder war das Opfer längst tot? Auf dem Battleground der Justiz werden Scharmützel ausgetragen. Es geht um Feinheiten – es geht um die Dinge, die am Ende den Unterschied machen. Er kann klein sein oder riesig. Geht es um Mord oder schwere Körperverletzung mit Todesfolge? Geht es um Mord oder um das Feststellen einer schweren Schuld. Geht es um Lebenslänglich oder weniger? Am Ende haben drei Profirichter und zwei Schöffen die Aufgabe, ein Urteil zu finden und zu fällen. Gibt es Zweifel an der Schuld? Was lässt sich beweisen, was nur schlussfolgern. All das findet keinen Platz in der Berichterstattung. Es bleibt kaum Platz, den Beziehungen nachzugehen, die sich im Lauf einer Verhandlung ergeben. Die da verhandlungstagelang in einem Raum hocken und einer Geschichte folgen, interagieren nicht nur während der Verhandlung. Die Kantine ist klein. Essen müssen alle. Auch vor dem Kaffeeautomat kann Gespräch stattfinden. Wer schreibt, kommt früh und schaut hin. Da sitzt einem Mann mit Aktenkoffer auf dem Gang. Den Koffer hat er auch die Knie gelegt. Er putzt sich die Nase. Danach legt er das Taschentuch – es ist ein Stofftaschentuch – auf den Koffer, faltet es mit Akribie zusammen, indem er mit dem Handrücken die Faltkanten bestätigt und verstaut das Tuch dann wieder in der Hosentasche.
Ein Anwalt, der sich selbst inszeniert. In der Schule würden sie ihn den Klassenclown nennen. Er flachst auch, als das gerichtsmedizinische Gutachten abgeben wird. Ist das Nichtaushaltenkönnen von Grausamkeiten oder ist es Nichteinfühlenkönnen in den Schmerz der Opfereltern hinten im Saal?

7. Tag
Überdruss
Freitag, der 13. November. Der Sitzungstag beginnt – wie alle anderen – mit Verspätung. Planmäßiger Beginn: 13 Uhr. Um 13.18 Uhr betritt die Kammer den Saal. Ein Zeuge steht auf dem Programm. Danach: Gutachten. Längst hat der Prozess einen Punkt erreicht, an dem man jede weitere Verzögerung als Schmerz spürt. Ist nicht alles gesagt, alles gedacht, alles gefragt? Die Verteidigung von Sandra S. hatte um einen weiteren Kripomann gebeten. Eigentlich waren zwei geplant. Einer ist schwer erkrankt. Der Zeuge des Tages hat keine der Vernehmungen selbst geführt – er „war zugegen“. „Da Sie Polizist sind, kann ich mir eine aufwändige Belehrung sparen“, sagt der Richter. Nochmal geht es um den Tattag. Wieder einmal wird über den Baseballschläger geredet. Der Kripomann war bei der Vernehmung von Mario A. zugegen. Er hat nicht selber Fragen gestellt. Aber er erinnert sich an manches. „Sandra S. hat dem Sven den Schläger in die Hand gedrückt“, heißt es jetzt wieder. Das, erinnert der Kripomann, hat Mario A. gesagt. Von Stops während der Fahrt zum Tatort war nicht die Rede. Für die Verteidigung von Sandra S. geht es darum, Widersprüche aufzuzeigen. Die Tat ist mal so, mal anders passiert. Schon damals im Januar hat Mario A. allerdings von nur einem Schlag gesprochen. Schon damals hat er gesagt, er wisse nicht, ob der den Mann oder den Boden getroffen habe. Schon damals die Fassungslosigkeit angesichts des eigenen Handelns. Schon damals war von einem Plan die Rede. Das Opfer „sollte weg. Sie war seiner überdrüssig“. Sie – das ist die Angeklagte; „seiner“ – das ist das Opfer. Der Richter fragt nochmals nach den Stops auf der Fahrt zum Tatort. „Stops hat es definitiv nicht gegeben.“ „Haben Sie danach gefragt?“ „Nein.“ Die Angeklagte – in der Vernehmung des Mario A. tritt sie während der Tat stumm auf. Der Satz „Stirb wie ein Mann“ – gesagt, erinnert. Die Verteidigung hakt sich ein: Mario A. soll im Nebenraum gewesen sein. Trotzdem beschreibt er ein Geschehen. Die Verteidigung von Sandra S. könnte Mario A. fragen – der allerdings würde nicht anworten. Der Kripomann kann es nicht wissen. Als die Vernehmung beendet ist, beantragt der Verteidiger nochmals die Verlesung des Vernehmungsprotokolls. Einen Augenblick lang kippt die Stimmung zwischen Verteidigung und Staatsanwalt ins Aggressive. Es geht darum, ob laut Strafprozessordnung die Verlesung eines Vernehmungsprotokolls möglich ist oder nicht. Das Scharmützel ist kurz und für Laien nicht nachvollziehbar. Zahlen werden genannt. Unmöglichkeiten werden diskutiert. Begründungen werden abgefragt. Die Verteidigung öffnet die Schießscharten: „Wir müssen hier gar nichts begründen.“ Das Gericht lässt wissen, dass die Verlesung des Protokolls nicht unmöglich ist, verlässt um 13.50 den Saal (zur Beratung), kehrt um 14.20 zurück und lehnt den Antrag danach ab.
Ein kurzer Nachschlag zum ersten Gutachten – danach: Ein weiterer Gutachter mit zwei weiteren Gutachten. Sandra S. und Mario A. auf dem Seelenprüfstand. Der Gutachter arbeitet schematisch. Auf dem Gang hat er gesagt, dass die Schöffen seine zentralen „Ansprechpartner“ sind. Sie müssen es verstehen. Es beginnt immer mit dem FPI. Das steht für „Freiburger Persönlichkeitsinventar“ und klingt irgendwie nach einer Seelenmöblierung. Gutachten haben ein Ziel: Es geht am Ende um Paragrafen. Es geht darum, dass einer dem Gericht erklärt, ob die „Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit“ während der Tat getrübt war oder nicht. Es geht um den Gegensatz von Schuldfähigkeit und -unfähigkeit. Zwei Paragrafen umkreisen die alles entscheidenden Begriffe.

§ 20 – Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen. Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
§ 21: Verminderte Schuldfähigkeit. Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Fantasie und Wirklichkeit
Zweimal 70 Minuten lang umkreist der Gutachter alle relevanten Details. Zweimal kommt er am Ende zu dem Ergebnis, dass keine verminderte Schuldfähigkeit vorliegt. Der Weg ins Ziel führt durch ein Dickicht von Analysen. Zuerst bereisen die Prozessbeteiligten die Seele der Angeklagten Sandra S. Am Ende des Gutachtens sagt der Kollege von der Zeit, ihm fehle die Frage nach den Manipulationsfähigkeiten der Angeklagten in bezug auf ihre Mittäter. Da schafft es eine Frau, zwei Männer in eine Tat zu führen und man fragt sich, wie so etwas möglich ist. Der Gutachter sieht S. als traumatisiert. Ihr ist schon in der Jugend Gewalt angetan worden. Muss man die Vergewaltigungen glauben? Auch das bleibt ungeklärt. Ein Glaubwürdigkeitsgutachten? Niemand redet davon. Die Angeklagte: Lebensunzufrieden. Dasselbe wird nachher auch über Mario A. gesagt. Sandra S.: Sozial engagiert, versehen mit einer depressiven Grundhaltung, ohne spontane Aggressivität aber mit deutlich erhöhten Werten in Richtung einer Borderlinestörung, wenig nachtragend, aber instabil, nicht warmherzig und unterdurchschnittlich liebenswürdig. Was, denkt man, würde wohl dabei herausgekommen sein, wenn der Gutachter dein Leben betreten hätte. Jetzt säße er da und spräche über dich. Die Möblierung der eigenen Seele. Aber er spricht über Sandra S.: Überdurchschnittlich hilfsbereit, unterdurchschnittlich optimistisch und liebenswert, extrem polarisiert. „Natürlich gibt es viele solcher Menschen, aber die meisten von ihnen kommen gut durchs Leben.“ In Sandra S.s Leben gibt es wenig Grautöne. Alles ist schwarz oder weiß. Sie misstraut anderen. Immer wieder thematisiert der Gutachter Sandras Schwierigkeiten auf der Grenzlinie zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Immer wieder ist die Rede von einer „Borderline-Struktur“ und von wenig Eigenwahrnehmung. Was noch: Deutlich traurig, manchmal etwas theatralisch, deutlich manipulativ. Das Verhältnis zum Opfer beschreibt sie dem Gutachter als „der war wie ein Sohn für mich“. Schwanger ist sie nie gewesen. Eine Schwangerschaft hat sie sich eingebildet. (Die Grenzlinie zwischen Fantasie und Wirklichkeit.) Nochmals geht es um den Begriff der „einvernehmlichen Vergewaltigung“. Nach dem Tod des Opfers habe ihr der harte Sex gefehlt. Sie wisse, hat Sandra dem Gutachter gesagt, dass sie manchmal Geschichten erzähle. Er spricht von extremen Persönlichkeitszügen. Das allerdings, so der Gutachter, sei „ein Stil und keine Krankheit“. Es fällt das Wort von der „extremen Variation des Menschseins“. Man fühlt sich wie im Bahnhof: Boderlinezüge, massiv akzentuierte Persönlichkeitszüge. Sandra S., sagt der Gutachter, habe vieles erduldet, um nicht verlassen zu werden. Wieder spricht er von der „extremen Variante des Menschseins“. In Bezug auf die Tat: Kein Affekt, kein Realitätsverlust, keine Bewusstseinsstörung. Keine Merkmale. Keine Einschränkungen. Dass es ein „psychiatrisches Verständnis“ gibt, spielt für das Gericht keine Rolle. Könnte eine Affekthandlung mit depressiver Vortönung vorliegen? Nein. Es gibt Hinweise auf eine Affektstörung, die aber ohne Einfluss auf die Steuerungsfähigkeit bleiben. Die Angeklagte ist nicht psychisch krank. Sandra S. hätte – sagt der Gutachter und meint das Tatgeschehen – andere Wege gehen können. Es wird von „Literatur“ gesprochen, ohne dass Poesie gemeint wäre. Die „einschlägige Literatur“ sieht die lange Tatanlaufzeit als Gegenpol der Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit. Sandra S. – massiv traumatisiert, schwerst persönlichkeitsauffällig. Trotzdem war ihr zuzumuten, „andere Lösungswege zu finden“. Das Unzumutbare ist also zuzumuten. Die Anwendung der Paragrafen 20 und 21 ist für den Gutachter auszuschließen. Verständnis? Psychologisch ja, juristisch nein.
Das Gericht beschließt eine kurze Pause. „Nur wie zwischen Spiel und Verlängerung. Fünf Minuten vielleicht. Niemand muss in die Kabine.“ Längst glaubt niemand im Saal mehr solchen Beteuerungen. „Sowas wie hier gibt es sonst nirgends in Deutschland“, sagt der Zeit-Kollege. „Anderswo sagen sie fünf Minuten. Dann sind es fünf Minuten.“ Auch diesmal werden aus den ursprünglich geplanten fünf Minuten 14 und man fragt sich nach der Belastbarkeit solcher Aussagen.

Ausbilder
Es folgt: Der Rundgang durch eine dritte Täterseele. Mario A. ist therapie-erfahren. Gibt es eine Übersetzung? Knäste sind Ausbildungsbetriebe. Jeder Mitgefangene: Ein Ausbilder. Mario A. ist, sagt der Gutachter, einer von denen, die ihre Schuld verteilen. Er ist humorvoll, nett, charmant aber eben auch einer, der bei der Frage nach der eigenen Schuld gern auf die anderen verweist. Vor der Tat sei es ihm gut gegangen. Danach nicht. Erst nach Festnahme und Geständnis taucht Erleichterung auf. Ein Tötungsdelikt passe nicht zu ihm, sagt der Angeklagte dem Gutachter. Die Tat belaste ihn massiv. Dem Gutachter hat Mario A. erzählt, die Tat sei auf dem Weg zum Tatort intensiv besprochen worden. Es sei darum gegangen, „wer was macht“. Er habe die Spritze mit der tödlichen Dosis auslaufen lassen. Der Gutachter spricht im Zusammenhang mit Mario A. von antisozialen Zügen und davon, dass A. ein „early starter“ sei – einer, den es früh ins Kriminelle geweht hat. Der zweite Seelenrundflug ist genau so strukturiert wie schon beim ersten Gutachten. Es wird inventarisiert, analysiert. Der Angeklagte hat Drogenerfahrung. Gegenüber dem Gutachter hat er erkennen lassen, dass eine „Maßregel“ für ihn nicht infrage kommt. „Das würde der torpedieren“, sagt der Gutachter, der auch sagt, Mario A. sei ein Mensch, der Hilfe brauche. Uneingeschränkt ja.

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
Strafgesetzbuch § 64: Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.

Später hält einen Moment lang die wirkliche Literatur ihren Einzug in den langsam in der Novemberabenddämmerung verschwindenden Gerichtssaal. Gutachter und Verteidigung sprechen von einer „geschundenen Kreatur“. Sie lehnen sich an Büchners Wozzeck an. Sandra, Sven und Mario werden – darf man vermuten – Wozzeck nicht kennen. Gutachter und Verteidiger schon. Beide meinen sie Mario A. – aber letztlich sind auch Sven G. und Sandra S. geschundene Kreaturen.

Wozzeck
Aus dem Libretto von Georg Büchner:
Wozzeck, Er sieht immer so verhetzt aus. Ein guter Mensch tut das nicht. Ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat, tut alles langsam.

Soll man sich auf die Suche nach einem Gewissen machen? Wozzeck – ein Dramenfragment von Büchner. Was sich hier abspielt, ist kein Fragment. Das Drama ist umfassend.

Wozzeck: Sehn Sie, Herr Doktor, haben Sie schon was von der doppelten Natur gesehn? Wenn die Sonn in Mattag [sic!] steht und es ist, als ging’ die Welt in Feuer auf, hat schon eine fürchterliche Stimme zu mir geredt!

Der Doktor im Gerichtssaal kommt nach 70 Minuten zu einem Schluss, der dem des vorigen Gutachtens zumindest im Etgebnis ähnelt. Keine Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit. Kein Hinweis auf eine Psychose. Jetzt – nach sieben Verhandlungstagen – ist das Ende der Beweisaufnahme erreicht. Keine neuen Anträge. Die Positionierung der Parteien ist am Ende. Es wird Zeit, die Plädoyers zu hören. Freitag der 13. war kein Unheilstag. Das Ende scheint jetzt in Sicht. Vielleicht wird am 23. November ein Urteil fallen. Längst werden die Worte schwer. Es gibt nichts mehr zu beschreiben. Irgendwie hat man den Eindruck, dass längst alles gesagt wurde. Alle Prozessbeteiligten haben sich in Stellung gebracht – die Verteidigerteams haben sich positioniert. Eine Angeklagte, die nur ein Gespräch wollte mit einem, der sie jahrelang vergewaltigte. Ein geständiger Angeklagter, der zugab, die ersten Schläge geführt zu haben. Ein zweiter Angeklagter, der einmal zuschlug und nicht weiß, wen oder was er traf.

8. Tag
Neue Stühle im Gerichtssaal. Jetzt sitzt es sich leiser. Kein geräuschintensives Korbgeflecht, das die kleinste Bewegung mit Lärmentwicklung quittiert. Immerhin. Der 8. Verhandlungstag beginnt nervtötend. Man fühlt sich an Bahnhofsdurchsagen erinnert: Der D-Zug von X nach Y, planmäßige Ankunft, wird voraussichtlich… Planmäßiger Verhandlungsbeginn: 13.30 Uhr. Schon am 7. Tag war der Beginn des 8. Tages um 30 Minuten nach hinten gerückt worden. Die Kammer betritt den Saal um 13.38 Uhr. Vorsitzender: „Können wir die Beweisaufnahme dann jetzt abschließen?“ Man hatte mit einem Tag der Plädoyers gerechnet. Jetzt meldet sich der Verteidiger von Sandra S. mit zwei Anträgen zu Wort. Es geht um ein Blutspurengutachten zum Beweis der Tatsache, dass mehr als fünf Schläge das Opfer trafen. Ziel des zweiten Antrags: Nochmals soll der Mageninhalt des Opfers untersucht werden. Es geht um die Feststellung, dass sich im Magen von Mark M. weder Heroin noch sedierende Medikamente befanden. Der Staatsanwalt meldet sich zu Wort. Die in den Beweisanträgen festzustellenden Tatsachen seien, sagt er, nicht von Bedeutung.
Um 13.45 – die Verhandlung hat bisher sieben Minuten gedauert, zieht sich das Gericht zur Beratung zurück. „Halten Sie sich für 14.15 bereit“, sagt der Vorsitzende und fügt hinzu: „Erwarten sie aber nicht, dass wir dann hier sitzen.“ Um 15.15 verlässt einer der Anwälte von Sven G. den Gerichtssaal. Er hat anderswo zu tun. Um 15.31 kehrt die Kammer in den Saal zurück. Beide Anträge werden abgelehnt. Um 15.37 zieht sich die Kammer, nachdem die Verteidigung von Mario A. einen weiteren Beweisantrag bezüglich des Baseballschlägers eingereicht hat, zur Beratung zurück und kehrt um 16.41 zurück. Der Beweisantrag wird abgelehnt.

Plädoyer
Wer ist schon das Volk? Richter? Schöffe? Verteidiger? Der Staatsanwalt? Das Publikum? Wenn vor Gericht im Namen des Volkes geurteilt wird, wünscht man sich, dass, was verhandelt und endlich beschieden wird, auch vom Volk unterschrieben werden kann. Aber von welchem Volk? Es gibt ein Volk der Täter und eines der Opfer. Es gibt ein Volk der Unschuld und eines … Nein – es geht so nicht. Der Wunsch: Das Volk soll nicht rachsüchtig sein, nicht vorschnell in seinem Urteil. Alles soll ein Gewicht bekommen. Das Für. Das Wider. Wenn nach Abschluss der Beweisaufnahme die Staatsanwaltschaft plädiert, tritt das Volk gegen das Volk an. Man wünscht sich einen Ankläger, der nach bestem Wissen und Gewissen eine Tat begutachtet und argumentiert, was zu argumentieren ist. Man wünscht sich einen, der das Volk auf beiden Seiten vertritt. Keinen Racheengel. Keine Diva der Gerechtigkeit. Man wünscht sich einen, zu dem man ginge, weil man auf etwas hofft, das vielleicht Fairness genannt werden kann. Ausgewogenheit. Vielleicht ist Hendrik Timmer ein solcher Ankläger. Am 8. Verhandlungstag – die Beweisaufnahme ist beendet – steht einer auf und plädiert 60 Minuten, von denen keine zu viel und keine zu wenig ist. Da macht sich einer nicht nur auf den Weg zur Schuld. Er ist auch unterwegs zum Zweifel. Der Zweifel ist vor Gericht ein heiliges Gut. Letzte Rettung vor der Willkür des Rechthabenwollens. Der Zweifel beschützt den Angeklagten. Der Zweifel markiert das Terrain der Verantwortlichkeit, die mancherorts Gewissen genannt wird, wobei es nicht auf das Wort ankommt – nicht auf die Verpackung. Was die einen Gewissen nennen, ist den anderen die Moral. Der Inhalt zählt. Einer wie Timmer hinterlässt den Eindruck des integren Anklägers. Er ist einer, der mit der Taschenlampe in der Hand unter den Tisch des Anscheins leuchtet und sich auf die Suche nach dem Aber macht. Es gibt das Aber beider Seiten. Der das Volk vertritt – beide Seiten des Volkes – muss jedes Aber finden und dann – so unbefangen wie möglich – die Waagschalen der Justizia befüllen. Wo ihr die Augen verbunden sind, braucht es einen sehenden Ankläger.
Timmers Reise in die Tat enthält, denkt man, jedes mögliche Aber. Er stellt fest, was als bewiesen gelten kann und was nicht. Er macht Zweifel geltend. Die Konstellation des Falles lässt verschiedenste Kombinationen zu. Timmer, daran bleibt kein Zweifel, hält die Erzählungen von Sandra S. bezüglich der jahrelangen Vergewaltigungen für „wahrheitswidrig“. Timmer denkt Variationen des Geschehens durch. Jeder der drei Angeklagten kann Zweifel geltend machen. Zugunsten von Mario A., sagt Timmer, muss davon ausgegangen werden, dass er nur einen Schlag ausgeführt hat und dieser Schlag nicht das Opfer, sondern den Boden traf. Zugunsten von Sven G. muss angenommen werden, dass nicht sein Schlag der todbringende war. Nein – es bleibt offen, ob Sandra S. ein Essen für das Opfer zubereitete – eines, das wohlmöglich Heroin oder ein Schlafmittel enthielt. Es gibt, sagt Timmer, keine eindeutige Beschreibung des Tatgeschehens. Vielleicht führte Sven G. den totbringenden Schlag, vielleicht war es Mario A., vielleicht trat Sandra S. auf das Opfer ein. Mindestens eine dieser Möglichkeiten muss angenommen werden. Ist da einer auf dem Pfad der Gnade unterwegs? Nein. Auf dem Weg des Zweifels begibt sich einer ins Zentrum der Schuld. Sandra S. hat, sagt Timmer, nicht nur zwei Menschen zum Instrument eines Mordplans – ihres Mordplans – gemacht. Sie hat nach der ersten Tat einen weiteren Mord nicht nur geplant sondern in Auftrag gegeben. Es geht um das „Selbstleseverfahren“. Zuvor war beschlossen worden, den gesamten Chattverkehr nicht zu verlesen. Ein Loch in der Berichterstattung, das erst jetzt durch das Plädoyer des Staatsanwaltes notdürftig gestopft wird. Man erfährt von Whatsapp-Nachrichten, nach denen erwiesen zu sein scheint, dass Sandra S. auch ‘den Polen’ ermorden lassen wollte. Per Whatsapp wurde ein Preis diskutiert. Nach Auftragserteilung schreibt Sandra S. an den Vermittler: „Das wird ja lustig.“ Vorher hatte der Vermittler des Auftragsmordes an Sandra S. geschrieben: „Und du bist wirklich sicher, dass ich Kollegen kommen lassen soll? Sag einfach nur ja oder nein.“ Antwort Sandra S.: „Ganz oder gar nicht. Weg mit dem.“ Vermittler: „Kann dir nur sagen, einer ist Albander und der andere Jugoslawe. Beide kriegsgeschädigt. In der Regel kostet so ein Ausflug zw 5 und 10 Mille.“ Sandra S.: „Okay. Das wird lustig.“ Es geht um die von Sandra S. erwähnte Eskalation des Tatgeschehens. Ja – von einer Eskalation kann ausgegangen werden, sagt Timmer. Im Zentrum des Plans hat anfangs nicht die Tötung mit einem Baseballschläger gestanden. Ursprünglich ging es um den „Goldenen Schuss“. Timmer seziert die Aussage der Zeugin B. – einer Freundin von Sandra S.. Die beiden sprachen immer wieder über Sandras Beziehung zum späteren Opfer. Dabei sei nie die Rede von Vergewaltigung gewesen. B. sitzt im Zuschauerraum und leidet darunter, dass sie zum Bestandteil einer Argumentation wird, die auf ein Lebenslänglich hinausläuft.
Timmer hält es für erwiesen, dass Sandra S. nie ein Gespräch mit dem Opfer wollte. Sie wollte die Beseitigung von Mark M.. Sie habe Mark loswerden wollen. Die Zubereitung eines vergifteten Essens sei der Angeklagten nicht nachzuweisen. Auch die Tritte, von denen sie selbst im Chat gesprochen habe, müsse man nicht als wirklich geschehen annehmen. Sie hätten auch Prahlerei sein können. Man erinnert sich an den Gutachter, der über die Grenzlinienverwehung bezüglich Fantasie und Wirklichkeit gesprochen hatte. Es wiederholen sich Für und Wider. Zugunsten von Sandra S.: Tritte auf das Opfer sind nicht nachzuweisen. Die Schläge auf das Opfer kamen nicht von ihr. Sie wurden von den Mittätern geführt. Zugunsten von Sven G.: Die Schläge kamen von Mario A. – dazu die möglichen Tritte von Sandra S.. Zugunsten von Mario A.: Er muss angenommen werden, dass er das Opfer nicht traf. Wahrscheinlich zerbrach der Schläger auf dem Boden und nicht am Kopf des Opfers. Für Timmer steht fest: Es ist zu keinem Zeitpunkt um ein Gespräch gegangen. Noch einmal überfliegt der Staatsanwalt das Nachtatverhalten der Angeklagten. Sie hat einen Mordauftrag erteilt. Dann die Landung. Der Landeplatz kann nicht Totschlag heißen. Es geht um Mord. Totschlag und Mord unterscheiden sich unter anderem dadurch, dass beim Mord die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers ausgenutzt wird. Mark M. war arglos. Er konnte nicht mit einem Angriff rechnen. Die Tat: Heimtückisch. Das Ergebnis: Totschlag kommt nicht in Betracht. Dann geht es um die Mittäterschaft, es geht um etwas, das Tatherrschaft genannt wird. Längst geht es um Feinheiten der Rechtsprechung, die nur noch von Profis wirklich verstanden werden, Es geht darum, ob im Fall Mario A. „nur Beihilfe“ zum Tragen kommt. Ja, Mario A. hat dem Opfer die Spritze nicht verabreicht. Er hat vielleicht nur einmal zugeschlagen und dabei möglicherweise nur den Boden getroffen, aber (Timmers Aber kommt fettgedruckt daher) „aber er hat zugeschlagen“. Immer wieder wird jetzt der Bundesgerichtshof zitiert. Es gibt ähnlich gelagerte Fälle. Eine Zahl wird genannt. Ein Wort dazu. Paragraf 24, Strafgesetzbuch. Dazu das Wort „Rücktritt“.

(1) Wegen Versuchs wird nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert. Wird die Tat ohne Zutun des Zurücktretenden nicht vollendet, so wird er straflos, wenn er sich freiwillig und ernsthaft bemüht, die Vollendung zu verhindern.
(2) Sind an der Tat mehrere beteiligt, so wird wegen Versuchs nicht bestraft, wer freiwillig die Vollendung verhindert. Jedoch genügt zu seiner Straflosigkeit sein freiwilliges und ernsthaftes Bemühen, die Vollendung der Tat zu verhindern, wenn sie ohne sein Zutun nicht vollendet oder unabhängig von seinem früheren Tatbeitrag begangen wird.

Timmer sieht die Voraussetzungen nicht erfüllt. Als es um die Strafzumessung geht, beantragt er auch für Mario A. eine lebenslängliche Freiheitsstrafe. Bei einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe, erklärt Timmer dann, kann frühestens nach 15 Jahren geprüft werden, ob der Rest der Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Wird die besondere Schwere der Schuld festgestellt, ist auch das nicht möglich.
§ 57a Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe
(1) Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn 1. fünfzehn Jahre der Strafe verbüßt sind, 2. nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet und 3. die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 vorliegen. § 57 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 6 gilt entsprechend. (2) Als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 1 gilt jede Freiheitsentziehung, die der Verurteilte aus Anlaß der Tat erlitten hat. (3) Die Dauer der Bewährungszeit beträgt fünf Jahre. § 56a Abs. 2 Satz 1 und die §§ 56b bis 56g, 57 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 5 Satz 2 gelten entsprechend.
(4) Das Gericht kann Fristen von höchstens zwei Jahren festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag des Verurteilten, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen, unzulässig ist.

Timmer sieht bei Sandra S. die besondere Schwere der Schuld als gegeben. Sie hat ihre Mittäter mittels wahrweitswidrigen Erzählungen (die Vergewaltigungen) manipuliert und instrumentalisiert und sie hat einen zweiten Mordauftrag erteilt. Sie hat das Herrschaftswissen genutzt – gemeint sind die Vergewaltigungserzählungen. Vielleicht also müsste von Herrschaftsfantasien gesprochen werden.
Für Sven G. beantragt Timmer eine lebenslängliche Freiheitsstrafe und anschließende Sicherungsverwahrung. Für die Sicherungsverwahrung im Sinne des Paragrafen 66 müssen vier Voraussetzungen erfüllt sein. Sven G., so Timmer, sei zu gefährlich für die Gesellschaft. Das Wort vom „Wegsperren für immer“ findet Gebrauch und ist die einzige Eintrübung in einem Plädoyer, das von den Verteidigern anders gesehen werden kann. Was Timmer argumentiert, hat Hand und Fuß – ist nachvollziehbar und wirkt an keiner Stelle gewollt oder herbeigebogen. Eine Tat hat viele Aspekte und Vieles hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. Einem wie Timmer kann man glauben, dass er sich an allen Perspektiven abgearbeitet hat.
Am Ende des 8. Tages ist den Angeklagten anzumerken, dass sie auf dem Weg zum Urteil erstmals wirkliche Tragweiten verspüren. Nach sieben Tagen, in deren Verlauf Hoheitsgebiete abgesteckt wurden, wird die Trostlosigkeit greifbar.

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
(1) Das Gericht ordnet neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn 1. jemand zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt wird, die a) sich gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung richtet, b) unter den Ersten, Siebenten, Zwanzigsten oder Achtundzwanzigsten Abschnitt des Besonderen Teils oder unter das Völkerstrafgesetzbuch oder das Betäubungsmittelgesetz fällt und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist oder c) den Tatbestand des § 145a erfüllt, soweit die Führungsaufsicht auf Grund einer Straftat der in den Buchstaben a oder b genannten Art eingetreten ist, oder den Tatbestand des § 323a, soweit die im Rausch begangene rechtswidrige Tat eine solche der in den Buchstaben a oder b genannten Art ist, 2. der Täter wegen Straftaten der in Nummer 1 genannten Art, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, 3. der wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und 4. die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist. Für die Einordnung als Straftat im Sinne von Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b gilt § 12 Absatz 3 entsprechend, für die Beendigung der in Satz 1 Nummer 1 Buchstabe c genannten Führungsaufsicht § 68b Absatz 1 Satz 4.
(2) Hat jemand drei Straftaten der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 genannten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen.
(3) Wird jemand wegen eines die Voraussetzungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe a oder b erfüllenden Verbrechens oder wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 174c, 176, 179 Abs. 1 bis 4, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder wegen einer vorsätzlichen Straftat nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und 4 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen. Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt.
(4) Im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 2 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3. Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind; bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung beträgt die Frist fünfzehn Jahre. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine Straftat der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, in den Fällen des Absatzes 3 der in Absatz 3 Satz 1 bezeichneten Art wäre.

Das Ende des 8. Tages macht zum ersten Mal die Aussichtslosigkeit für die Angeklagten deutlich. Natürlich spricht der Staatsanwalt nicht das Urteil – er gibt eine Handlungsempfehlung, ausgerichtet am Raster der Justiz. Er gibt eine erste Richtung vor. Würde das Gericht ihm folgen, hieße das: Im Fall Mario A. würde sich frühestens im Jahr 2031 die Frage nach einem vorzeitigen Ende stellen. Bei Sandra S. zehn Jahre später und bei Sven G. nie. Man kann solche Zeiträume erst erfassen, wenn man sie konkret denkt. Ein Kind, heute geboren, wäre, wenn es für Sandra um eine Entlassung aus der Haft geht, 25 Jahre alt – hätte einen Beruf oder studiert … könnte selbst Kinder haben. 25 Jahre: Eine Zahl. Schnell ausgesprochen. Für die Angeklagten eine Weiche ins Nichts. Niemand wird dem Staatsanwalt vorwerfen können, er habe es sich leicht gemacht. Wenn Sandra S. das Gefängnis verlässt, wird er längst Pensionär sein. Man merkt den Angeklagten an, dass die Perspektive eines Lebens hinter Gittern stückweise bei ihnen eintrifft – die Seele erreicht. Einschnürt. Man spürt nicht nur ihr aufdämmerndes Entsetzen – man spürt auch die eigene Sprachlosigkeit. Was Sven G. erwartet, ist eine freud- und trostlose Unendlichkeit ohne die Hoffnung auf ein Freikommen.
Am Anfang des Prozesses stand eine Erwartung. Es muss ein Lebenslänglich werden, hatte man gedacht und auf das Eintreffen des Erwarteten gehofft. Jetzt sitzt man – taub geworden von aller Hoffnungslosigkeit – da und fragt sich, wie ein Staat, wie das Volk auf eine solche Tat reagieren muss. Welche Antworten gibt es? Ist das Wegsperren bis zum Ende die Antwort, die das Volk geben möchte? Das hängt sicherlich vom Standpunkt ab. „Womit bekämpft man eine Idee“, heißt es in einer Schlüsselszene aus dem Kino-Klassiker „Ben Hur“. Die Antwort ist so überraschend wie simpel: „Mit einer anderen Idee.“ Mit welcher Idee kann das Volk eine Tat beantworten, deren Gnadenlosigkeit erschauern lässt? Kannmuss man die Gnadenlosigkeit der Täter mit Hoffnungslosigkeit beantworten?

Architekturen III
Es ist noch weit bis zum Urteil. Die Verteidiger werden sprechen und eine andere Sicht auf die Dinge freilegen, bevor als vorerst letzte Instanz die Kammer ein Urteil, ihr Urteil fällen wird. Ein Prozess ist gefüllt mit der Suche nach Handlungsanweisungen. Gutachter können Handlungsanweisungen geben, indem sie ihr Wissen zur Verfügung stellen.Gerichtsmedizin: Wie kam jemand zu Tode? Lassen sich die Ursachen in einer Reihenfolge anordnen? Psychologisches Gutachten: Der Seelenrundgang mit Klärung der Frage, ob ein Täter einsichts- und steuerungsfähig war. Schließlich: Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Die einen auf der Suche nach dem Bösen, die anderen auf der Suche nach dem Guten. Natürlich ist nichts so schwarz oder weiß. Natürlich ist, anders als in Amerika, ein deutscher Staatsanwalt verpflichtet, auch nach Entlastung zu suchen. Am Ende gilt es, eine Tat zu werten, einzuordnen, zu bestrafen oder doch wenigstens einen Strafrahmen zu nutzen. Lebenslänglich für Mario A.. Der Mann, der die Spritze mit dem goldenen Schuss nicht setzte – sie nicht setzen konnte und wollte. Der Mann, der einmal zuschlug und vielleicht den Boden traf. Ist einer, der so handelt, von der Tat zurückgetreten? Nein, sagt der Staatsanwalt. Die Verteidigung wird, muss es anders sehen. Sandra S.: Lebenslänglich mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Sie war der Kopf dieser Tat – hat Menschen zu Instrumenten gemacht. Vergewaltigung ja oder nein? Spielt das eine Rolle? Gab es keine Vergewaltigung, rücken Anstiftung und Tat in ein noch fahleres Licht. Gab es Vergewaltigungen, rechtfertigt auch das keine Tat, aber es macht sie – man erinnert sich an das psychologische Gutachten – greifbarer. Am Ende landet man bei Sven G.. Lebenslänglich? Ja. Es gibt eine Tat. Da ist die Strafe. Ein Mord lässt wenig Spielraum. („Wie bekämpft man eine Idee?“ „Mit einer anderen Idee.“) Sven G., wird, sollte das Gericht der Einschätzung des Staatsanwaltes folgen, das Gefängnis nie wieder verlassen.
Der Blick zurück – er hat immer wieder stattgefunden – ist der Blick in eine grausigunmenschliche Tat. Es ist der Blick auf und in ein Geschehen, das nirgendwo Gnade zeigt. Keinen Lichtblick offenbart. Keine Hoffnung übrig lässt. Trotzdem stellt sich die Frage nach der Antwort, die das Gesetz einem wie Sven G. zu geben in der Lage ist. Ein Staat, der ein Lebenslänglich fordert und die anschließende Sicherungsverwahrung verhängt, ist auch ein Staat, der einen Menschen verloren und sich selbst geschlagen gibt. Der Staat ist das Volk. Das Volk ist – siehe oben – nicht ein Volk. Das Volk im Gerichtssaal beim Prozess der Staat gegen Sandra S., Mario A. und Sven G. ist vertreten durch die Eltern des Opfers, die Angehörigen der Täter und denen, die es in den Gerichtssaal geweht hat – sei es aus Neugier, sei es, um über den Prozess zu berichten. Man darf von den Eltern des Opfers keine Gnade erwarten. Und man muss die Betroffenheit der Täter und ihrer Angehörigen und Freunde relativieren. Was aber ist mit den anderen? Welches Urteil würden sie unterschreiben? Denkt man an Sven. G., so ist das Urteil letztlich das Anerkennen der eigenen Ohnmacht im Angesicht des Unfassbaren. Der Staat soll und muss strafen. Am Ende aber stellt sich die Frage, ab welchem Punkt der Staat einen seiner Bürger verloren geben darf. Ist einer wie Sven G. ein Rettungsloser? Während man so denkt, taucht auch der Gedanke auf, wie man dächte, wenn das Opfer dieser brutalen Tat der eigene Sohn, die eigene Tochter gewesen wäre. Weder die Eltern des Opfers noch die der Täter sollten auf dem Richterstuhl sitzen. Am Ende des Prozesses wird es um die Frage gehen, ob die Kammer einen Menschen ins Rettungslose schickt – ihm jegliche Hoffnung nimmt. Ihn verloren gibt. Will man die Gnadenlosigkeit der Tat mit der Perspektivlosigkeit der Strafe beantworten?

Vorletzter Tag
… Gehirne suchen Geschichten. Zusammenhänge. Vier Bilder hängen an der Wand. Eines fällt hinunter …

Kadenzen
Wenn Prozesse Instrumentalkonzerte sind, dann sind die Plädoyers die Kadenzen. Endlich konzentriert sich alles auf den Solisten. Sogar der Dirigent lässt den Taktstock sinken. Der Solist fasst zusammen und liefert sich selbst den Befähigungsnachweis. Motive ziehen vorbei, Themen, Gedanken. Die Realität wird neu gesehen. Publikum und Orchester staunen. Der Solist bedient sich aus der Vorratszentrifuge. Was wie improvisiert klingt, ist vorgedacht, nutzt Effekte, setzt auf Mitdenken. Der Solist wird zum Nachschöpfer. Niemand darf jetzt unterbrechen, bis das Ensemble wieder einsetzt und der Dirigent die Vorherrschaft zurückgewinnt.

… vier Bilder hängen an der Wand. Die Tür öffnet sich. Eines fällt hinunter …

Am vorletzten Tag haben die Verteidiger das Wort. Manche von ihnen scheinen es nicht zu wissen, denn sie erscheinen zu spät. Irgendwann hatte es geheißen: 13. 30 Uhr. Dann wurde auf 13 Uhr geändert. Nicht alle scheinen es mitbekommen zu haben. Man mag nicht glauben, dass es um drei Leben geht.

… das Huhn oder das Ei …?

Es geht immer um Sichtweisen. Immer um Positionen. Um Deduktionen. Um Ausschluss. Um Einschluss. Es ist an der Zeit, dem Staat zu widersprechen. Ein Verteidiger, der nicht widerspricht, ist vielleicht kein Verteidiger.

… vier Bilder hängen an der Wand. Ein Auto fährt vorbei. Eines der Bilder fällt hinunter …

Kaleidoskop
Es ist ein Tag der Schmerzen für die Eltern des Opfers. Sie werden hören, dass alles auch ganz anders gewesen sein könnte. Irgendwann fällt das Wort vom Tyrannenmord. Ein Opfer muss nicht notwendigerweise ein nur guter Mensch gewesen sein. Auch Täter sind nicht zwingendnurschlecht.
Plädoyers offenbaren Sichtweisen – entlarven andere Sichtweisen. Plädoyers sind Denkanstöße und können Drohungen sein. Bitten. Appelle. Skizzen einer anders ausgeleuchteten Wirklichkeit. Wenn es eine Tat und einen Täter gibt – dazu vielleicht nur einen Verteidiger – kann über Wirklichkeit auf zwei Seiten nachgedacht werden. Hier die Anklage – dort die Verteidigung. Diese Tat ist ein Kaleidoskop. Diese Tat fordert die Gehirne. Das menschliche Gehirn ist angetreten, Ursachen und Wirkungen zu verschränken. Ein Bild fällt von der Wand. Vorher öffnete sich eine Tür. Die Geschichte: Das Bild ist aufgrund der Erschütterung durch sich öffnenende Tür von der Wand gefallen. Eine klare Sache. Vielleicht war es auch ein Luftzug.

… vier Bilder hängen an der Wand. Die Tür öffnet sich. Eines der Bilder fällt hinunter. Lag es an der Tür? Warum sind nicht alle Bilder von den Haken gerutscht …

… vier Bilder hängen an der Wand. Eines fällt hinunter. Die Türe war geschlossen. Aber: Es fuhr ein Auto vorbei. Das Auto war der Auslöser. Was, wenn nicht das Auto? Ein Bild fällt nicht einfach von der Wand …

… ein Bild fällt von der Wand. Kurz danach passiert vor dem Fenster ein Unfall? Ein Zusammenhang? Nein. Ein Bild, das von der Wand fällt, kann nicht einen Unfall auslösen …

… vier Bilder hängen an der Wand. Eines fällt hinunter. Was werden die Anwälte sagen? Nun – das könnte davon abhängen, wen sie vertreten …

… zeitig
Plädoyers sind der Versuch, Ursachen und Wirkungen anders zu kombinieren – sie vielleicht auch zu entkoppeln. Sandra S.s Anwälte machen den Anfang. Es ist 13.21 Uhr. Der Staatsanwalt hat die Mandantin dämonisiert. Der Staatsanwalt hat nicht gesagt, warum er die Argumente des Gutachters ausgeklammert hat. Der hat Sandra S. geglaubt. Er hat ihr geglaubt, dass die Vergewaltigungen stattgefunden haben. Er hat von der geschundenen Kreatur gesprochen. Er hat von einer unterdurchschnittlich aggressiven Frau gesprochen, die überdurchschnittlich sozial handelt und in einer depressiven Grundstimmung lebt, deren spontane Aggressivität unterdurchschnittlich ist – die in dauernder Angst vor dem Verlassenwerden lebte. Der Gutachter hat von erhöhten Borderlinewerten gesprochen, er hat das Wort persönlichkeitsprägend benutzt. Er hat, das Gericht wird sich vielleicht erinnern, mehrmals das Wort „leider“ benutzt. Die Angeklagte: Kein Dämon. Eine Verliererin. Eine, die ihr Leben an die Wand gefahren hat. Das Opfer war ihr ein „Objekt der Hilfbereitschaft“. Jahrelang hat sie seine Übergriffe erduldet, ertragen, erlitten. Nur die Freundin von Mario A. hat wirklich verstanden, welche Tragödie da gelebt wurde. Die Angeklagte hat nichts gewollt als einen Denkzettel. Es gab keine Tötungsabsicht. „Sie schwamm in einer Gefühlssuppe.“ Das Kanzlerinnenvokabel wird in Tatnähe postiert: Alternativlos. Ging es um eine gerechtfertigte Notstandslage? Das Plädoyer des Staatsanwalt hat, sagt Sandra S.s erster Verteidiger, einen schalen Geschmack hinterlassen. Es kann nicht um die besondere Schwere der Schuld gehen. Kein Mord. Also: Eine „zeitige Freiheitsstrafe“ unter zehn Jahren – ins Ermessen des Gerichts gestellt.

14.32 Uhr: Sandra S.s zweiter Verteidiger. Er hat eine andere Erwartung an das Plädoyer des Staatsanwaltes gehabt. Der hat mit einem Federstrich alle Verteidigungsversuche niedergebügelt. Man sucht den Ton zu einem solchen Gedanken und könnte an ein aggressives Tremolo denken, aber der Verteidiger ist ruhig. Er setzt nicht auf Effekt. Er arbeitet an einer anderen Perspektive.

… vier Bilder hängen an der Wand. Das Huhn – das Ei. Was war zuerst. Man müsste diese Frage vor einem Gericht klären …

Dem Verteidiger fehlt es an Gründen dafür, dass der Staatsanwalt eben die Sicht der Dinge präsentiert hat, die er präsentiert hat. „Warum gehen wir eigentlich immer davon aus, dass es einen Tatplan gegeben hat?“ [Tatpläne verknüpfen Ursachen mit Wirkungen. Sie beschleunigen den Weg in eine Beurteilung.] Das sagt der Verteidiger nicht. Er sagt, dass es aus seiner Sicht keinen Tötungsvorsatz gegeben hat. „Können wir einfach sagen: Das ist nicht wahr?“ Der Verteidiger hat „Kontrollfragen“ an den Staatsanwalt: Wieso die Tat zu eben jenem Zeitpunkt, an dem sie geschah? War das ein Plan? Wenn man vom Ergebnis argumentiert, sagt der Verteidiger, dann hat der Staatsanwalt schlüssig operiert. „Warum denken wir immer an einen konkreten Plan?“ Der Verteidiger sieht „eine Sache, die aus dem Ruder gelaufen ist“. Gab es überhaupt einen Tötunsvorsatz? Nein. Es ging um einen Denkzettel. Auch der Verteidiger arbeitet mit Denkzetteln: Er legt Karteikarten ab – sie enthalten die Eckdaten seiner Argumentation. Er ist – wie der Gutachter – fest davon überzeugt, dass die Übergriffe des späteren Opfers auf seine Mandantin stattgefunden haben. Zwischendurch wird das Dilemma dreier Angeklagter deutlich. Das Heil des einen liegt im Untergang der anderen. Angriff ist eine Spielart der Verteidigung. „Die beiden Herren“, sagt Sandra S.s Verteidiger und meint natürlich Sven G. und Mario A. – „die beiden Herren wollten, dass auch meine Mandantin hängt“. Dass seine Mandantin, nachdem sie „die beiden Herren“ nach der Tat nachhause brachte, auf das Opfer eingetreten haben könnte: „Unsinn.“. Natürlich: Durch ihre unsägliche Prahlerei hat sie sich selbst schweren Schaden zugefügt. Die Tritte: „Unsäglicher Unsinn!“ Eine Frau wollte sich wichtig machen. Ja – diese Nachrichten lassen sich nicht aus der Welt diskutieren. Aber sie stammen von einer Frau, von der auch der Gutachter sagte, dass sie Schwierigkeit bei der Abgrenzung von Fantasie und Wirklichkeit hat. Es gibt zu viele Ungereimtheiten. Ein Tötungsvorsatz lässt sich nicht mit Sicherheit nachweisen. Die zweite Kadenz endet mit einem Antrag auf eine „zeitige Freiheitsstrafe wegen Körperverletzung mit Todesfolge“. Der Verteidiger hat beeindruckend plädiert – hat dem Staatsanwalt vorgeworfen, er habe nach einem Ergebnis argumentiert. Es hängt immer vom Standpunkt ab. Sandra S. Verteidiger hat nicht davon gesprochen, dass es Whatsapp-Nachrichten mit einem Tötungsauftrag gab. Dass das Tottreten Wichtigmacherei war, hat auch der Staatsanwalt zugunsten der Angeklagten angenommen. Aber wenn eine zwei Killer engagiert, wird es am Ende schwierig, „ätschibätschi“ zu sagen. Natürlich: Dass eine einen Tötungsauftrag erteilt, kann nicht rückwirkend in die hier zu verhandelnde Tat eingedeutet werden. Eine Tat, die Vieles ungeklärt lässt, erzeugt viele Fragen.

… vier Bilder hängen an der Wand. Die Tür öffnet sich. Eines fällt hinunter …

Um 14.03 übernehmen die Verteidiger von Mario A. das Spielfeld. Jetzt geht es um andere Ziele. Es geht ans Eingemachte der Justiz. Um Feinheiten. Fachvokablen beherrschen die Auslegung des Geschehenen. Zurechnung, Rechtsfolge. Zahlen werden genannt. Natürlich gehören die Zahlen zur Paragrafen. Der Paragraf 213 des Strafgesetzbuches befasst sich mit Totschlag in einem minder schweren Fall.

Minder schwerer Fall des Totschlags
War der Totschläger ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Mißhandlung oder schwere Beleidigung von dem getöteten Menschen zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden oder liegt sonst ein minder schwerer Fall vor, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.

Es geht auch um die „Hilfe zur Aufklärung oder Verhinderung von schweren Straftaten“. Die Zahl lautet jetzt: 46. Dazu ein Buchstabe: b.

§ 46b Hilfe zur Aufklärung oder Verhinderung von schweren Straftaten
(1) Wenn der Täter einer Straftat, die mit einer im Mindestmaß erhöhten Freiheitsstrafe oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist,
1. durch freiwilliges Offenbaren seines Wissens wesentlich dazu beigetragen hat, dass eine Tat nach § 100a Abs. 2 der Strafprozessordnung, die mit seiner Tat im Zusammenhang steht, aufgedeckt werden konnte, oder
2. freiwillig sein Wissen so rechtzeitig einer Dienststelle offenbart, dass eine Tat nach § 100a Abs. 2 der Strafprozessordnung, die mit seiner Tat im Zusammenhang steht und von deren Planung er weiß, noch verhindert werden kann, kann das Gericht die Strafe nach § 49 Abs. 1 mildern, wobei an die Stelle ausschließlich angedrohter lebenslanger Freiheitsstrafe eine Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren tritt. Für die Einordnung als Straftat, die mit einer im Mindestmaß erhöhten Freiheitsstrafe bedroht ist, werden nur Schärfungen für besonders schwere Fälle und keine Milderungen berücksichtigt. War der Täter an der Tat beteiligt, muss sich sein Beitrag zur Aufklärung nach Satz 1 Nr. 1 über den eigenen Tatbeitrag hinaus erstrecken. Anstelle einer Milderung kann das Gericht von Strafe absehen, wenn die Straftat ausschließlich mit zeitiger Freiheitsstrafe bedroht ist und der Täter keine Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verwirkt hat.
(2) Bei der Entscheidung nach Absatz 1 hat das Gericht insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und den Umfang der offenbarten Tatsachen und deren Bedeutung für die Aufklärung oder Verhinderung der Tat, den Zeitpunkt der Offenbarung, das Ausmaß der Unterstützung der Strafverfolgungsbehörden durch den Täter und die Schwere der Tat, auf die sich seine Angaben beziehen, sowie
2. das Verhältnis der in Nummer 1 genannten Umstände zur Schwere der Straftat und Schuld des Täters.
(3) Eine Milderung sowie das Absehen von Strafe nach Absatz 1 sind ausgeschlossen, wenn der Täter sein Wissen erst offenbart, nachdem die Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 207 der Strafprozessordnung) gegen ihn beschlossen worden ist.

Es geht um um eine anzuordnende Maßragel nach dem Paragraf 64 des Strafgesetzbuches. Es geht um etwas, das die Verteidigung Zurechnungszusammenhang nennt. Es geht um ähnliche gelagerte Fälle. Der Holffällerfall wird genannt. Der Bratpfannenfall. Da sitzt man und fühlt sich irgendwie zurückgelassen. Noch eine Zahl: 49.

§ 49 Besondere gesetzliche Milderungsgründe
(1) Ist eine Milderung nach dieser Vorschrift vorgeschrieben oder zugelassen, so gilt für die Milderung folgendes:
1. An die Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe tritt Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren.
2. Bei zeitiger Freiheitsstrafe darf höchstens auf drei Viertel des angedrohten Höchstmaßes erkannt werden. Bei Geldstrafe gilt dasselbe für die Höchstzahl der Tagessätze.
3. Das erhöhte Mindestmaß einer Freiheitsstrafe ermäßigt sich im Falle eines Mindestmaßes von zehn oder fünf Jahren auf zwei Jahre, im Falle eines Mindestmaßes von drei oder zwei Jahren auf sechs Monate, im Falle eines Mindestmaßes von einem Jahr auf drei Monate, im übrigen auf das gesetzliche Mindestmaß.
(2) Darf das Gericht nach einem Gesetz, das auf diese Vorschrift verweist, die Strafe nach seinem Ermessen mildern, so kann es bis zum gesetzlichen Mindestmaß der angedrohten Strafe herabgehen oder statt auf Freiheitsstrafe auf Geldstrafe erkennen.

Wieder geht es um eine „zeitige“ Strafe. Die Zurechnungsfrage ist eine Wertungsfrage. Der Verteidiger beschreibt einen „bußfertigen Mandanten“. Die Vokabeln: Tyrannentötung. Das Opfer: Ein Tyrann aus subjektiver Sicht.

[Wikipedia: Als Haustyrannenmord wird die Tötung eines misshandelnden Ehegatten, insbesondere nach einem Streit, bezeichnet. Dabei handelt es sich meist um eine Tötungsform, die nach deutschem Recht den Tatbestand des Mordes erfüllt; in der Regel werden Situationen ausgenutzt, in denen der körperlich überlegene Ehegatte arg- und wehrlos ist (Heimtückemord).
Nach deutschem Recht ist die Tat selbst bei jahrelangen Misshandlungen nicht durch Notwehr im Sinne des § 32 Strafgesetzbuch (StGB) gerechtfertigt. Es mangelt an der Gegenwärtigkeit eines Angriffs. Auch scheitert nach herrschender Meinung ein rechtfertigender Notstand nach § 34 StGB daran, dass das Rechtsgut Leben einer Abwägung nicht zugänglich ist. Eine Entschuldigung nach § 35 StGB wird häufig mit der Begründung versagt, dass die Tat im Sinne dieser Vorschrift anders abwendbar war, beispielsweise durch die Inanspruchnahme staatlicher Hilfe.[1]

Problematisch ist in Haustyrannenfällen die Vereinbarkeit der an sich obligatorischen lebenslangen Freiheitsstrafe nach § 211 I StGB mit dem Schuldgrundsatz.[2] Daher versucht die Rechtsprechung, auf der Ebene der Strafzumessung eine angemessene, den oft jahrelang vorausgehenden Misshandlungen gerecht werdende mildere Strafe gemäß § 49 I Nr. 1 StGB auszusprechen.[1] Juristen nennen dies die Rechtsfolgenlösung.

[Wikipedia: Der Ausdruck Rechtsfolgenlösung bezeichnet eine vom Bundesgerichtshof entwickelte ungeschriebene Strafzumessungsvorschrift zum Mord. An Stelle lebenslanger Freiheitsstrafe tritt ein gemilderter Strafrahmen ein, wenn die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe trotz der Schwere des tatbestandsmäßigen Unrechts unverhältnismäßig wäre, weil außergewöhnliche Umstände vorliegen, die das Ausmaß der Täterschuld erheblich mildern z. B. tiefes Mitleid, „gerechter Zorn“, schwere Provokation.]

… vier Bilder hängen an der Wand. Eines fällt hinunter. Was, wenn einer der Nagel wäre, an dem das Bild hing? …

Paragraf 46. Es geht um „Grundsätze des Strafzumessung.

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.
(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht: die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende, die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat, das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.
(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.

Immer wieder appelliert der Verteidiger an das Gericht. Der Mandant „verdient Milderung“. Es muss Maßregel nachgedacht werden.

Auf der Heimfahrt vom Gericht: Im Radio ein Essay über den Krieg. Der Mann einer am 13. November in Paris getöteten Frau. Die Frau ging ins Konzert. Der Mann blieb mit dem 17 Monate alten Sohn zuhause. Er sagt: „Am Freitagabend hat ihr einem außergewönhlichen Menschen das Leben genommen. Die Liebe meines Lebens. Die Mutter meines Sohnes.Aber meinen Hass bekommt ihr nicht. Ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen.“

Wie bekämpft man eine Idee? Mit einer anderen Idee.

Der Verteidiger bittet um eine „zeitige Freiheitsstrafe im Ermessen des Gerichts“. Er bittet um die Verhängung der Maßregel. Längst fragt man sich, welcher Geschichte man folgen möchte. Kann. Muss. Will.
14.25. Mario A.s zweiter Verteidiger ergreift das Wort. Es ist längs mühsam geworden, den hochspezialisierten Gedanken der Spezialisten zu folgen. Es ist vom „nachträglichen Vorsatz“ die Rede. Alles endet bei einer Körperverletzung mit Todesfolge. Es ist 14.34 Uhr.
Jetzt übernimmt Sven G.s erster Verteidiger den Staffelstab. Man habe – über die Dauer des Prozesses – auch auf dem Gang viel gesprochen. Varianten diskutiert. Jeder versuche nun, aus den möglichen Varianten etwas herauszupicken. Diesmal geht es um eine „abgebrochene Kausalität“. Es geht noch einmal darum, was man zu wessen Gunsten annehmen muss. Es gehe, sagt der Verteidiger, um eine realistische Einschätzung. Wieso haben sich die Angeklagten keinerlei Gedanken um die Entsorgung eines Leichnams gemacht? „Sie sie einfach zu doof gewesen?“ Nein. Die Angeklagten sind davon ausgegangen, dass am Ende des Geschehens ein Notarzt kommen würde, um festzustellen, dass sich da einer in den Tod gespritzt hat. „Wir müssen“, sagt der Verteidiger, „Zusammenhänge herstellen“. [Vier Bilder hängen an der Wand …] Geht es um eine „abgebrochene Kauslalität“?

Um im Strafrecht von einem Taterfolg im Sinne des StGB sprechen zu können, müssen diverse Tatbestände erfüllt sein. Doch zunächst muss erst einmal überprüft werden, ob beziehungsweise inwieweit der Taterfolg dem Täter überhaupt anzurechnen ist. Um dies herauszufinden, wird zunächst die Kausalität zwischen der Handlung des Täters und dem Taterfolg geklärt. Als zweiter Schritt wird gegebenenfalls die objektive Zurechnung geprüft, wobei jedoch zu beachten ist, dass ein Taterfolg dem Täter grundsätzlich zugerechnet wird, wenn dieser ihn kausal verursacht hat.
Um den ursächlichen Zusammenhang zwischen Tat und Taterfolg festzustellen, finden im Strafrecht verschiedene Theorien Anwendung. Die relevanteste zur Bestimmung der Kausalität ist die Äquivalenztheorie, in der die Conditio-sine-qua-non-Formel Anwendung findet: hierbei wird davon ausgegangen, dass der Taterfolg sich nicht eingestellt hätte, wenn die eigentliche Tat nicht als Bedingung hierfür anzusehen wäre. Ist die Kausalität gegeben, kann von einem objektiven Tatbestand im Sinne des StGB ausgegangen werden, das bedeutet, dass derjenige, der deinen Schaden verursacht oder einen Taterfolg erzielt hat, für diese Tat bestraft werden kann.
Die Kausalität im Sinne der Äquivalenztheorie ist beispielsweise bei einem Schuss aus einer Pistole gegeben, wenn dieser den Tod eines Menschen zur Folge hatte.
Auch die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung ist relevant für die Beurteilung von Kausalität im Strafrecht, wobei sich diese inhaltlich an die Äquivalenztheorie anschließt. Demnach würde es ausreichend sein, wenn die Tathandlung in irgendeiner Weise den Taterfolg herbeigeführt hat. Dies bedeutet, dass die Ursächlichkeit im Sinne des StGB gegeben ist, wenn der Taterfolg mit dem Verhalten durch eine Reihe von Veränderungen in der Außenwelt gesetzmäßig verbunden ist.
Des Weiteren wird die Kausalität nach der Adäquanztheorie beurteilt, die dazu dienen soll, einen weit hergeholten Zusammenhang auszuschließen und somit die Kausalität zu begrenzen. So kann beispielsweise der Vater, der einen späteren Mörder gezeugt hat, nicht für dessen Tat verantwortlich gemacht werden.

Wieder wird die Beurteilung des Zusammenhangs in das Ermessen des Gerichts gestellt. Wieder geht es darum, was zu wessen Gunsten angenommen werden muss. Dann geht es um den Gutachter. Gutachter, sagt der Verteidiger, sind ein Hilfsmittel. Dem Gutachter von Sven G. stellt die Verteidigung kein gutes Zeugnis aus. Unzureichend und nicht objektiv war seine Arbeit. Sven G.s Verteidigung geht es darum, die Sicherungsverwahrung in Zweifel zu ziehen. Der Gutachter, so der Verteidiger, hat Dinge getan, die ihm nicht zustehen. Er hat Beweiswürdigung vorgenommen. Er war nicht unvoreingenommen. Das Gutachten: Fragwürdig. Bundesweit gibt es 550 Sicherungsverwahrte. Der Verteidiger fragt das Gericht, ob man Sven G. wirklich in diese Phalanx einreihen möchte. Aberwitzig sei das. Gutachter, so der Verteidiger, seien nicht selten von der Angst vor einer Fehlprognose geleitet. Was, so der Verteidiger, dächten die Gutachter, wenn sie einen Irrtum eingestehen müssten? Lieber gleich auf Nummer sicher gehen. Der Verteidiger sagt das nicht. Aber es lässt sich denken. Das Wort „Schwachsinn“ fällt.

[Wikipedia: Als Schwachsinn wird im ursprünglichen Sinn eine leichte bis schwere Intelligenzminderung bzw. Minderbegabung bezeichnet. Während der Begriff in der Psychiatrie heute nicht mehr verwendet wird, ist er in der Rechtswissenschaft noch in Gebrauch. Umgangssprachlich wird der Ausdruck heute auch synonym für „Unsinn“ verwendet.]

Ist Sven G. der Ausnahmemensch? Ist er einer von 550, die zu gefährlich sind, um sie je wieder in Freiheit zu setzen? Da ist einer, der sich selbst als Outlaw bezeichnet hat. Da ist einer, in dessen Person das Klischee vom Bösen sich vergestaltet. (Der Verteigider sagt das nicht.) Aber er spricht vom Outlaw. Er spricht von den Tätowierungen. Er sagt, dass Sven G. vielleicht nicht einzuschätzen vermochte, wie solche Tätowierungen von anderen eingeschätzt werden. Er klopft seinem Mandanten auf die Schulter. Der möge das nicht falsch verstehen. Vielleicht meint der Verteidiger, dass sich Sven G. in ein Aus manöviert hat, das er nur unzureichend einzuschätzen in der Lage ist. Nein – er will nichts beschönigen. Es geht um eine grausame Tat. Aber es geht auch darum, dass sein Mandant die Verantwortung zu tragen bereit ist. Es geht darum, dass das Gericht eine Strafe verhängt, die noch eine Perspektive lässt. Eine, die nicht alle Hoffnung absterben lässt. Es ist 14.58 Uhr.
Sven G.s zweiter Verteidiger offenbart ein Armutszeugnis. Er habe, sagt er, genau das sagen wollen, was sein Kollege gesagt habe und schließe sich den Ausführungen an. Man möchte hingehen und sagen: Nimm ernst, was du tust. Du kannst dich so nicht wegstehlen. Arbeitslos.
Nach den Kadenzen übernimmt die Kammer die Regie. Es gilt, letzte Worte der Angeklagten zu hören. Sandra S.: „Es tut mir unendlich leid. Ich wollte nicht, das Mark zu Tode kommt.“
Sven G. ist kaum in der Lage zu sprechen. Aussehen und Wirklichkeit trennen sich. „Nichts holt den Mark zurück.“
Mario A. schließt sich den Worten seiner Verteidiger an. Das Gericht verkündet, dass man sich in zwei Tagen um 14.30 Uhr wieder treffen wird. Dann: Das Urteil. Es wird ein großer Bahnhof werden.

Regieanweisungen
„Schreib über die Plädoyers“, sagen sie. „Platz is“, sagen sie. Also:
Am vorletzten Tag des Prozesses um den Tod eines jungen Mannes in Kalkar hatten am Montag die Verteidiger das Wort.
Den drei Angeklagten (Sandra S., Mario A. und Sven G.) wird vorgeworfen, im September letzten Jahres Mark M. mit einem Baseballschläger erschlagen zu haben. Acht Verhandlungstage dauerte die Beweisaufnahme. Danach folgte das beeindruckende Plädoyer von Staatsanwalt Hendrik Timmer. Der hatte für die Angeklagte Sandra S. Lebenslänglich und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld gefordert, für Mario A. Lebenslänglich und für Sven G. Lebenslänglich mit anschließender Sicherungsverwahrung.
Bei Plädoyers geht es um Sichtweisen. Um Positionen. Um Deduktionen. Um Ausschluss. Um Einschluss. Es ist an der Zeit, dem Staat zu widersprechen. Ein Verteidiger, der nicht widerspricht, ist vielleicht kein Verteidiger. Plädoyers offenbaren Sichtweisen – entlarven andere Sichtweisen. Plädoyers sind Denkanstöße und können Drohungen sein. Bitten. Appelle. Skizzen einer anders ausgeleuchteten Wirklichkeit. Wenn es nur eine Tat und einen Täter gibt – dazu vielleicht nur einen Verteidiger – kann über Wirklichkeit auf zwei Seiten nachgedacht werden. Hier die Anklage – dort die Verteidigung.
Diese Tat in Kalkar ist ein Kaleidoskop. Sie fordert die Gehirne. Das menschliche Gehirn ist angetreten, Ursachen und Wirkungen zu verschränken. Plädoyers sind der Versuche, Ursachen und Wirkungen anders zu kombinieren – sie vielleicht auch zu entkoppeln. Wenn es drei Angeklagte gibt, entstehen diffuse Kombinationen. Das Heil des einen gründet im Untergang der anderen.
Wenn Prozesse Instrumentalkonzerte sind, dann sind die Plädoyers die Kadenzen. Endlich konzentriert sich alles auf die Solisten. Sogar der Dirigent lässt den Taktstock sinken. Der Solist fasst zusammen und liefert sich selbst den Befähigungsnachweis. Motive ziehen vorbei, Themen, Gedanken. Die Realität wird neu gesehen. Publikum und Orchester staunen. Der Solist bedient sich aus der Vorratszentrifuge. Was wie improvisiert klingt, ist vorgedacht, nutzt Effekte, setzt auf Mitdenken. Der Solist wird zum Nachschöpfer. Niemand darf jetzt unterbrechen, bis das Ensemble wieder einsetzt und der Dirigent die Vorherrschaft zurückgewinnt.
Sandra S.s Verteidiger haben einen Staatsanwalt gesehen, der ihre Mandantin dämonisiert – einen, der vom Ergebnis her argumentiert, einen, der Kernaussagen des psychologischen Gutachtens „mit einem Federstrich übergebügelt“ hat. Sandra S.s Verteidiger wiederholen Eigenschaften. Ihre Mandantin: Unterdurchschnittlich aggressiv, überdurchschnittlich sozial. Eine Frau, die auf der Grenze von Fantasie und Wirklichkeit taumelt. Eine Frau, die sich durch ihre Prahlerei selbst am meisten geschadet hat. Sandra S. hat keine Tötung gewollt – einen Denkzettel vielleicht. Den Denkzettel für einen Peiniger. Alles ist aus dem Ruder gelaufen. Der Verteidiger wirft dem Staatsanwalt vor, zu wenig begründet zu haben. Man kann das nachvollziehen. „Die beiden Herren“, sagt er und meint Sven G. und Mario A., wollen, „dass Sandra S. mit hängt.“ (Das Heil der einen ist im Untergang der anderen gegründet.) Von einem erteilten Mordauftrag für eine zweite Tötung spricht er nicht. Prahlerei? Vielleicht nicht, denn man erteilt besser keinen Mordauftrag, um anschließend „ätschibätschi“ zu sagen.
Sandra S.s Verteidiger haben keinen Mord „gesehen“. Sie sprechen von einer Körperverletzung mit Todesfolge und einer „zeitigen“ Freiheitsstrafe unter zehn Jahren.
Mario A.s Verteidiger treffen andere Feststellungen. Sie besetzen ein anderes Segment der Strafminderung. Ihnen zu folgen fällt schwer, weil es um Spezialfälle geht. Es werden Paragrafen genannt. Im Paragraf 213 geht es um einen minder schweren Fall des Totschlages; es geht um den Paragraf 46 b. der sich mit der „Hilfe zur Aufklärung oder Verhinderung von schweren Straftaten“ befasst. Das Volk hat von der Kronzeugenregelung gehört. Mario A., so eine der Verteidigungslinien, hat umfänglich ausgesagt und also zur Aufklärung beigetragen. Auch der Begriff „Tyrannenmord“ wird genannt. Urteile des Bundesgerichtshofes werden angedeutet. Da und da ist es so und so gelaufen. Es geht um den Paragraf 64 – die Maßregel. Es geht um Begriffe wie „Zurechnungszusammenhang“, „Rechtsfolgelösung“. Es geht ans Eingemachte der Justiz. Experten sprechen für Experten. Mario A.s Verteidiger beschreiben einen „bußfertigen Mandanten“. Der Paragraf 46 beschreibt die Grundsätze der Strafzumessung.
Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.
Das Ziel: Eine zeitige Freiheitsstrafe, ins Ermessen des Gerichts gestellt. Verhängung der Maßregel. Man hat keinen Mord gesehen. Die Tat: Körperverletzung mit Todesfolge.
Dann Sven G.s Verteidiger. Er schickt sich an, wenigstens die Sicherungsverwahrung für seinen Mandanten abzuwenden. Dass es ein Lebenslänglich wird, scheint klar. „Wir müssen gar nicht aussprechen, worum es geht“, sagt der Verteidiger. Er sagt auch: Man habe viel diskutiert während der Verhandlungspause. Jetzt picke sich jeder aus dem Lösungspool, was dem Mandanten nützlich ist. Es folgt ein Frontalangriff auf den psychologischen Gutachter, der alles andere als unvoreingenommen gewesen sei, der Beweiswürdigungen vorgenommen habe – etwas, das einem Gutachter nicht zusteht. Gutachter, sagt der Verteidiger, sind ein juristisches Hilfsmittel. Er sagt auch, dass es in Deutschland 550 Sicherungsverwahrte gibt. Er sagt, frei übersetzt, dass einer wie Sven G. nicht in dieser Liga spielt. Sven G. ist einer, der sich selbst als Outlaw bezeichnet und damit den Gutachter in falsche Schlüsse gelenkt hat. Sven G. ist einer, der mit seinem Aussehen provoziert. Sven G. ist einer, in dem sich das vermeintlich Böse vergestaltet. Das sagt der Verteidiger nicht so, aber man spürt, dass er genau das sagen möchte. Er möchte ein Urteil, das Spielraum für Hoffnung übrig lässt.
Dann der Kollege: Er habe genau das, was der Kollege gerade ausführte, auch sagen wollen und schließe sich daher dessen Ausführung an. Man möchte aufspringen, hinrennen, ihn schütteln. Hier geht es um ein Leben. Man erwartet Einsatz, Engagement und nicht einen, der sich hinstellt und öffentlich nicht einen einzigen eigenen Gedanken beisteuert.
Am Ende des vorletzten Tages steht fest, dass nicht nur der Staatsanwalt Eindruck hinterlassen hat. Dann die letzten Worte der Angeklagten. Sandra S.: „Es tut mir unendlich leid. Ich habe nicht gewollt, das der Mark zu Tode kommt.“ Sven G. ist kaum zu Sprechen in der Lage. Aussehen und Wirklichkeit trennen sich. „Nichts holt den Mark zurück.“ Mario A. schließt sich den Worten seiner Verteidiger an.
Der Vorsitzende übernimmt: „Das Urteil dann am Mittwoch, 14.30 Uhr.“ Auf dem Heimweg im Radio ein Essay über den Krieg. Der Ehemann einer in Paris getöteten Frau. Die Frau ging ins Konzert. Der Mann blieb mit dem 17 Monate alten Sohn zuhause. Er sagt: „Am Freitagabend habt ihr einem außergewöhnlichen Menschen das Leben genommen. Die Liebe meines Lebens. Die Mutter meines Sohnes. Aber meinen Hass bekommt ihr nicht. Ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen.“ Eine Antwort? Vielleicht.

Kürzungen II
„Der Platz reicht nicht“, sagen sie. „Die Hälfte muss raus. Hilft ja nix“, sagen sie. Eine Text wandert in die Unkenntliche. Ab wo stirbt der Denkzusammenhang? Längst wird es schwierig, den Prozess im Kopf zu jonglieren – mal so, mal so.
KLEVE/KALKAR. Am vorletzten Tag des Prozesses um den Tod eines jungen Mannes in Kalkar hatten am Montag die Verteidiger das Wort.
Den drei Angeklagten (Sandra S., Mario A. und Sven G.) wird vorgeworfen, im September letzten Jahres Mark M. mit einem Baseballschläger erschlagen zu haben. Bei Plädoyers geht es um Sichtweisen. Es ist an der Zeit, dem Staat zu widersprechen. Ein Verteidiger, der nicht widerspricht, ist vielleicht kein Verteidiger.
Sandra S.s Verteidiger haben einen Staatsanwalt gesehen, der ihre Mandantin dämonisiert – einen, der vom Ergebnis her argumentiert, einen, der Kernaussagen des psychologischen Gutachtens „mit einem Federstrich übergebügelt“ hat. Sandra S.s Verteidiger wiederholen Eigenschaften. Ihre Mandantin: Unterdurchschnittlich aggressiv, überdurchschnittlich sozial. Eine Frau, die auf der Grenze von Fantasie und Wirklichkeit taumelt. Eine Frau, die sich durch ihre Prahlerei selbst am meisten geschadet hat. Sandra S. hat keine Tötung gewollt – einen Denkzettel vielleicht. Alles ist aus dem Ruder gelaufen. „Die beiden Herren“, sagt er und meint Sven G. und Mario A., wollen, „dass Sandra S. mit hängt.“ (Das Heil der einen ist im Untergang der anderen gegründet.) Sandra S.s Verteidiger haben keinen Mord „gesehen“. Sie sprechen von einer Körperverletzung mit Todesfolge und einer „zeitigen“ Freiheitsstrafe unter zehn Jahren.
Mario A.s Verteidiger besetzen ein anderes Segment der Strafminderung. Ihnen zu folgen fällt schwer, weil es um Spezialfälle geht. Es werden Paragrafen genannt. Im Paragraf 213 geht es um einen minder schweren Fall des Totschlages; es geht um den Paragraf 46 b. der sich mit der „Hilfe zur Aufklärung oder Verhinderung von schweren Straftaten“ befasst. Auch der Begriff „Tyrannenmord“ wird genannt. Es geht um Begriffe wie „Zurechnungszusammenhang“, „Rechtsfolgelösung“. Es geht ans Eingemachte der Justiz. Mario A.s Verteidiger beschreiben einen „bußfertigen Mandanten“. Das Ziel: Eine zeitige Freiheitsstrafe, ins Ermessen des Gerichts gestellt. Die Tat: Körperverletzung mit Todesfolge.
Dann Sven G.s Verteidiger. Er schickt sich an, wenigstens die Sicherungsverwahrung für seinen Mandanten abzuwenden. Dass es ein Lebenslänglich wird, scheint klar. Man habe viel diskutiert während der Verhandlungspausen. Jetzt picke sich jeder aus dem Lösungspool, was dem Mandanten nützlich ist. Es folgt ein Frontalangriff auf den psychologischen Gutachter, der alles andere als unvoreingenommen gewesen sei, der Beweiswürdigungen vorgenommen habe – etwas, das einem Gutachter nicht zusteht.
Er sagt auch, dass es in Deutschland 550 Sicherungsverwahrte gibt. Er sagt, frei übersetzt, dass einer wie Sven G. nicht in dieser Liga spielt. Sven G. ist einer, der mit seinem Aussehen provoziert. Er möchte ein Urteil, das Spielraum für Hoffnung übrig lässt. Dann der Kollege: Er habe genau das, was der Kollege gerade ausführte, auch sagen wollen und schließe sich daher dessen Ausführung an. Man möchte aufspringen, hinrennen, ihn schütteln. Man erwartet Einsatz, Engagement und nicht einen, der sich hinstellt und nicht einen einzigen eigenen Gedanken beisteuert.
Dann die letzten Worte der Angeklagten. Sandra S.: „Es tut mir unendlich leid. Ich habe nicht gewollt, das der Mark zu Tode kommt.“ Sven G. ist kaum zu Sprechen in der Lage. Aussehen und Wirklichkeit trennen sich. „Nichts holt den Mark zurück.“ Mario A. schließt sich den Worten seiner Verteidiger an.
„Das Urteil dann am Mittwoch, 14.30 Uhr.“ Auf dem Heimweg im Radio ein Essay über den Krieg. Der Ehemann einer in Paris getöteten Frau. Die Frau ging ins Konzert. Der Mann blieb mit dem 17 Monate alten Sohn zuhause. Er sagt: „Am Freitagabend habt ihr einem außergewöhnlichen Menschen das Leben genommen. Die Liebe meines Lebens. Die Mutter meines Sohnes. Aber meinen Hass bekommt ihr nicht. Ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen.“ Eine Antwort? Vielleicht.

Abkürzungen
Es entsteht ein Abbild des Prozesses. So kann man es auch sehen. Alles verdichtet sich – läuft in einen Trichter, in dem zunehmend weniger Platz bleibt. Zunehmend weniger – das ist wie nachträglicher Vorsatz. Die Tat: Langfassung. Kurzfassung. Gekürzte Kurzfassung. Berichterstattung ist wie der Prozess selber. Abstände ändern sich, weil sich Plätze ändern. Aus „vier Spalten 280“ [Millimeter] werden „vier Spalten 135“. Der Film zum Film zum Film. Was bleibt vom vorletzten Tag: Die Stimme eines Ehemannes aus Paris. „Ich werde euch nicht meinen Hass schenken“, sagt er. Wie bekämpft man eine Idee? Mit einer anderen Idee.

Der letzte Tag
Es hat lange genug gedauert. Es ist der zehnte Tag. Finale: Für 14.30 Uhr hat die Kammer zur Urteilsverkündung geladen. Um 14.39 – der Saal ist reichlich mit Zuschauern besetzt – betritt das Gericht den Saal. Jetzt also: Im Namen des Volkes. Gefordert: Lebenslänglich plus Feststellung der besonderen Schwere der Schuld (Sandra S.), Lebenslänglich (Mario A.) und Lebenslänglich mit anschließender Sicherungsverwahrung (Sven G.). Die Anwälte von Sandra S. plädierten auf Körperverletzung mit Todesfolge und eine „zeitige“ Strafe unterhalb von zehn Jahren. Mario A.s Verteidiger plädieren ebenfalls für eine Körperverletzung mit Todesfolge. Die „zeitige“ Freiheitsstrafe stellen sie ins Ermessen der Kammer. Sven G.s Verteidigung hatte nur ein Ziel: Keine Sicherungsverwahrung im Anschluss an das für sie sicher zu erwartende „Lebenslänglich“.
Jetzt spricht das Volk. Es sagt: Drei Mal Lebenslänglich. Ein „Gewinn“ für Sven G.s Verteidigung, die mit dem bescheidensten Ziel angetreten war. Ein Gericht urteilt nicht einfach und verlässt den Saal. Ein Gericht begründet. Ein Gericht erzählt die Geschichte der Tat ein letztes Mal. Vorgeschichte – Geschichte. Der Vorsitzende braucht viele Anführungsstriche. Das zehn Jahre dauernde Verhältnis zwischen Sandra S. und dem späteren Opfer sei „sehr speziell“ gewesen, sagt er. Das Gericht glaubt nicht an 60 Vergewaltigungen und mehr. Das Problem des Falls: Vieles lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Hat es wirkliche Vergewaltigungen im Sinne des Gesetzes gegeben? Nein. Aber vielleicht nicht immer einvernehmlichen Sex. Gewalt hat in der sexuellen Beziehung von Sandra S. und dem Opfer in jedem Fall eine Rolle gespielt. Über eine Stunde lang begründet Norbert Scheyda das Urteil. Da wollten, sagt er an einer Stelle, Mario A. und Sven G. Sandra beim Lösen ihres Problems behilflich sein. Alles jetzt ist vermint mit Anführungszeichen. Sandras drastische Schilderungen dessen, was Mark ihr angetan habe, führten die Angeklagten in die Tat. In einem Nebensatz hat die Verlobte von Mario A. nochmals einen Kurzauftritt. Sie sei, sagt Scheyda, „stärker in die Tat eingebunden, als sich nachweisen lässt“. In der Schilderung des Gerichts ist es so, dass „Sandra S. am Tatort dem Sven G. den Baseballschläger aushändigte“. Dunkle Stellen gab es reichlich. Bis zuletzt wird unklar bleiben, wie weit Sandra S.s Ehemann in das Geschehen eingebunden war. Was er wusste er? Was nicht? War er während der Tat im Haus? All das: Ungeklärt. „Vielleicht wollte er es auch nicht wissen“, sagt Norbert Scheyda in Bezug auf den Ehemann.
Für die Kammer besteht kein Zweifel daran, dass es um einen Mord ging. Das Opfer war arg- und wehrlos. Der Angriff: Eine vollkommene Überraschung. Ein Gespräch, auch da ist die Kammer sicher, war nie geplant. Wäre das der Fall gewesen, hätte man erwarten dürfen, dass Sandra S. die beiden Männer einfach neben sich gestellt hätte, um zu demonstrieren, dass da jemand auf sie aufpasse. Allein die Postierung von Sven G. und Mario A. (einer mit dem Baseballschläger gleich neben der Tür, der andere in einem Nebenraum – eine Heroinspritze bereithaltend) mache klar: Es ging nicht um ein Gespräch. Die Kammer habe aucch über das Mordmerkmal der „niederen Beweggründe“ gesprochen, dafür jedoch nicht genügend Anhaltspunkte gefunden. Fest stehe: Sven G. habe den ersten Schlag geführt, Mario A. den letzten. „Was dazwischen passiert ist, wissen wir nicht.“ Dass Sven G. möglicherweise aus Hilfbereitschaft gehandelt habe, wirke angesichts der Tat  surreal und absurd. Scheyda begründet, dass die Kammer im Fall von Sandra S. die besondere Schwere der Schuld nicht aussprechen will. Er erklärt, warum man sich gegen eine Sicherungsverwahrung für Sven G. ausspricht, warum die Kammer für Mario A. die Kronzeugenregelung nicht als gegeben sieht. Sandra S., sagt Scheyda, hatte das Hauptinteresse an der Tat. „Sie hatte das Problem.“ Eine Maßregel im Fall von Mario A.? In Anlehnung an das psychologische Gutachten zwecklos. Bei Sven G. wären die formalen Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung gegeben, aber das Gericht sieht in Sven G. keine besondere Gefahr. Frühestens nach 15 Jahren, im Jahr 2030 also, wird man sich von Seiten der Justiz damit befassen, ob Sandra S., Mario A. oder Sven G. eventuell auf Bewährung entlassen werden können. Fast 70 Minuten hat das Gericht gesprochen. Natürlich gibt es die Möglichkeit, Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen.
Muss man Mitleid haben? Gewiss nicht. Man hat eine Tat besichtigt, in der es keine Gnade gab. Das Volk hat seine Antwort gegeben. Sie ist nicht blutrünstig. Nicht von Rache gesteuert, aber klar in ihrer Konsequenz. Das Volk beruhigt sich selbst. Urteile sind Signale, Verweise auf das, was nicht sein darf. Urteile sind gestutzte Wirklichkeiten. Übereinkünfte. Nicht Taten werden bestraft – es geht um die Schuld, aber Schuld ist relativ. Taten sind – manchmal – greifbar. Schuld ist es nicht. Ob das Gericht gut gearbeitet hat ist wie die Frage nach der Schuld vom Standpunkt des Betrachters abhängig. Im Fall von Sven G. ist das Schlimmste abgewendet. Die Verteidiger von Mario A. und Sandra S. werden über Revision nachdenken.
Man macht sich auf den Weg zurück in den Tag. Der Kollege von der „Zeit“ muss zum Zug nach Berlin. Er hat morgen Geburtstag. Fast ist man erschreckt, wie schnell Trio und Urteil aus dem Bewusstsein sacken. 2030 – eine Zahl außerhalb der Vorstellung, dass man bis dahin eingesperrt wäre. Mindestens bis dahin. Alles Weitere wird man sehen.