Schreibkraft
Heiner Frost

Lunte am Leben

Michael Hennig ist 40. Er ist verheiratet und hat einen Sohn. Michael Hennig ist ein eher stiller Typ. Könnte er sich einen Platz für sein Leben aussuchen – es wäre wohl eher nicht der Mittelpunkt. Michael Hennig ist es eher unangenehm, wenn sein Name in acht Reportagenzeilen dreimal erwähnt wird. Michael Hennig hat studiert. Maschinenbau. Und er hat – ein paar
Jahre ist das jetzt schon her – das geführt, was andere wohl ‘ein ganz normales Leben’ nennen würden. Dann kam der Tag, an dem das Schicksal eine Lunte an Hennigs Leben legte. Sie war
von roter Farbe und zeigte sich im Urin. Heftig. Aber ohne Schmerzen.

Ein Ahnungsloser sucht denUrologen auf und – wird weiter gereicht. Ziel: Ein Nephrologe. Nephrologie ist ein Teilgebiet der Inneren Medizin, das sich mit der Diagnostik und der nichtchirurgischen Therapie von Nierenerkrankungen befasst. Nach Entnahme einer Gewebeprobe aus der Niere bekommt Michael Hennig eine Diagnose: Nephritis. Ein Wort wird erst dann zum Urteil, wenn du seine Bedeutung verstehst. Nephritis ist – vereinfacht gesagt – eine chronische Nierenentzündung, die in drei verschiedenen Formen auftritt. In Hennigs Fall hat die Nephritis den Vornamen ‘Glomerulo’. Eine Autoimmunerkranung, deren genaue Ursachen noch unegklärt sind. Ungefähr zwei Monate, bevor Hennig Blut im Urin sah, hatte er eine Lungenentzündung. Ein Zusammenhang zwischen der Lungenentzündung und der Glumrulonephritis ist wahrscheinlich, aber nicht gesichert. Hennig bekommt Medikamente. Längst brennt die Lunte, aber Hennig weiß nichts über die Entfernung zur Sprengladung. Die offenbart sich vor einem Jahr. Bei beiden Nieren fällt die Filterfunktion aus. Jetzt ist er ein Dialysepatient. Allerdings wird er nicht mehrmals wöchentlich an eine künstliche Niere angeschlossen. Es geht in seinem Fall um die sogenannte Bauchfelldialyse. Die Bauchfelldialyse funktioniert nach einfachen physikalischen Gesetzen. Das Bauchfell ist eine halbdurchlässige Membran. Halbdurchlässig bedeutet in diesem Fall, dass Stoffe bis zu einer gewissen Größe vom Blut ins Dialysat, aber auch umgekehrt vom Dialysat ins Blut wandern. So können dem Körper bestimmte Stoffe wie Elektrolyte und Medikamente verabreicht werden, andererseits gehen Eiweiß und Medikamente, hier Albumin, und wasserlösliche Vitamine verloren. Bei der Bauchfelldialyse wird das Bauchfell mit 2-3 Liter Dialyselösung (Dialysat) umspült. Die harnpflichtigen Substanzen wandern aus dem Blut in das Dialysat. Nach vier bis fünf Stunden ist das Dialysat mit Giftstoffen gesättigt und wird aus dem Bauchraum über den Katheter abgelassen und durch frische Dialyselösung ersetzt. Um ein optimales Ergebnis zu erzielen, wird das Dialysat vor dem Einlauf auf Körpertemperatur erwärmt. (http://www.bauchfelldialyse.de/html/bauchfelldialyse.html). Fünfmal täglich muss Hennig jetzt 3,5 Liter Dialyselösung über einen Katheter in den Bauchraum leiten. Das funktioniert nach der Infusionsmethode. Ein Beutel wird an den Katheter angeschlossen, und
die Lösung träufelt ein. Rund 20 Minuten dauert die Prozedur. Nach Dreieinhalb Stunden wird die Lösung abgelassen. (Was wieder 20 Minuten dauert.) Die ‘Nachtfüllung’ reicht für elf Stunden. Wenn Hennig sein Hemd aufknöpft, sieht man ein Schlauchende aus der Bauchdecke ragen. Die Lunte diktiert den Stundenplan.
Um die Dialyse durchführen zu können, muss Hennig in kein Krankenhaus. An seinem Arbeitsort hat er sich ein kleines Büro gemietet. Dahin fährt er zum ‘Flüssigkeitswechsel’. Eigentlich ist er durch seine Krankheit arbeitsunfähig. Aber: So lange er es schafft, willer arbeiten. (Wer will schon ein leeres Leben?) Und er will auch nicht die Blutwäsche an der künstlichen Niere. Die Vorstel-
lung, stundenlang auf einem Bett zu liegen, einen Arm fixiert, erträgt er nicht. Dass seine Nieren irgendwann komplett versagen, kann als sicher gelten. Trotzdem hat er sich noch nicht auf einer
Transplantationsliste eintragen lassen. Die Wartezeit für eine neue Niere liegt irgendwo zwischen sechs und acht Jahren. Für Hennig ist eine Transplantation nicht einfach ein Organwechsel. Der erste Schritt für ihn war, die Krankheit zu begreifen: „Du musst erst einmal den Gedanken an deine Krankheit akzeptieren und dich mit den Folgen auseinandersetzen.“ Und natürlich bedeutet
eine Transplantation immer auch ein Risiko. Das Thema Transplantation ist ein Minenfeld im Kopf. Nicht nur Hennig hat viel darüber nachgedacht. Auch seine Mutter. Die hat sich entschlossen, dem Sohn eine Niere zu spenden. Wenn er davon spricht, zeigt sich keine spontane Freude – keine Euphorie. „Ich habe lange nachgedacht, ob ich eine solche Spende überhaupt annehmen kann“, sagt er. Natürlich: Bei einer Lebendspende gibt es ein doppeltes Risiko und die Vorstellung, nach der OP mit einer funktionieren neuen Niere aufzuwachen, dabei aber die Mutter verloren zu  haben, gehört zu eben den Gedanken, deren Unerträglichkeit schlimmer ist als das Sich-Abfinden mit der eigenen Krankheit. „Das Risiko ist zwar gering, aber es ist da.“ Mittlerweile kann Hennig
sich vorstellen, eine Niere von seiner Mutter transplantiert zu bekommen, und trotzdem scheint er zu zögern. Während seine Innereien gegen ihn kämpfen, kämpft er gegen sein Inneres.
Einen Organspendeausweis hat er selber noch nicht unterschrieben, obwohl er auf jeden Fall für die Organspende ist. „Wenn ich das jetzt täte, könnte jemand sagen: Das macht der doch nur, weil es für ihn ernst wird“, umschreibt er sein Dilemma. Er wäre jederzeit für die Widerspruchslösung: Jeder, der nicht ausdrücklich eine Spende ablehnt, wird im Fall aller Fälle als Organspender
betrachtet. Denkt einer wie er ständig an seine Krankheit? Die dauernde Dialyse zumindest lässt der Verdrängung keinen Platz, aber sie ist auch ein bisschen zum Teil des Alltäglichen geworden. Du kannst nicht ständig nur an diese Lunte denken. Das hält keiner aus. Und du kannst auch nicht immer darüber sprechen – aber: Es fragt dich niemand, ob du damit leben möchtest.
Michael Hennig starb am 17. September 2008 im Alter von 41 Jahren.