Schreibkraft
Heiner Frost

Lebenslieder – ein Soundtrack

Von Lebenslinien hatte man schon gehört. Kundige Menschen inspizieren Hand(innen)flächen und treffen Voraussagen. Es geht um den Blick nach vorn. Um Zukunften. Es kann mehrere geben – das hängt davon ab, wen man fragt …

Kein alter Mann

… und dann kommt einer und schreibt ein Buch über „Lebenslieder“. Der Blick wendet sich zurück. Das bringt das Sujet mit sich. Lieder des Lebens sind gesungen. Niemand kann wissen, was morgen zu hören ist. Thomas Quartier ist Mönch. Man denkt an Kirche und Klausur – ans Zurückgezogensein: in den Glauben. Woher kommt es nur, dass man beim Wort Mönch an einen älteren Herrn denkt? Vielleicht liegt es daran, dass man für schwer vorstellbar hält, dass einer heute ins Kloster geht. Klosterleben – denkt man – die Steigerung des Priestertums.

Die Welt entern

Und dann sitzt da dieser Mann. Jahrgang 72 ist er und sieht aus wie 35. Das Kloster im Leben. Quartier ist – es sei gleich mal angemerkt – irgendwie gar nicht weltfremd. Das Gegenteil ist der Fall. Quartier ist Doktor der Theologie, lehrt liturgische Studien an der Radboud Universität in Nimwegen und „Monastische Spiritualität“ an der Uni Löwen in Belgien und ist Gastprofessor an der Hochschule Sankt Anselmo der Benediktiner in Rom.
Da hat es einer geschafft, von Schottheide aus die Welt zu entern – hat irgendwann den Entschluss gefasst, ins Kloster zu gehen und hat – wir nähern uns dem Thema – einen Schnitt getan.

Schnitt durchs Hören

Der Schnitt ging durchs Hören. „Ich habe damals zum Beispiel meine gesamten Dylan-CDs einem Freund geschenkt.“ Ballast abwerfen? Quartier mag gedacht haben, dass Dylan nicht ins (Mönchs)Leben passt. Kunze auch nicht. Heinz Rudolf. „Das war mein erstes Konzert“, erinnert sich Quartier.

Wunderkindertour

Kunze war auf Tour. Es war die Wunderkindtour. Es war das Jahr 1987. Quartier war 14. Die frühen Heiligen eines jungen Mannes: Lennon, Dylan – später Niedecken, Wecker, Joan Baez. Irgendwie war sie mit dem Eintritt ins Kloster Geschichte geworden. Aber: Geschichte streifst du nicht ab. Niemand kann das. Musik ist eine Prägung. Sie wohnt in dir wie ein Seelentatoo.

Back to Bob

Das wurde auch Quartier irgendwann klar. Er wollte zurück zu Dylan (back to Bob), aber „der Freund, dem ich meine CDs geschenkt hatte, konnte mit Dylan nichts anfangen und hatte sie verkauft.“ Das erste Gebot: Ebay. Der Freund schenkte Quartier eine Box: 43 Dylan-Alben. Die Rückkehr der Vergangenheit.

Ein Dialog

Quartier allerdings nahm das Ganze nicht als einen unreflektierten Anflug von Melancholie. Es interessierte ihn, was er aus der Musik gemacht hatte und die Musik aus ihm. Warum also nicht in einen Dialog eintreten? Aber was ist schon ein Dialog mit einer CD? Quartier nahm Kontakt auf. Gut – Dylan kann man abhaken. Der ist nicht mal zur Nobelpreisabholung erschienen. Aber Kunze, Niedecken, Wecker – da kann man‘s versuchen. Selbst die Folk-Ikone Joan Baez hat Quartier getroffen. „Mir ist aber sehr wichtig, dass ich kein Buch mit Reportagen oder Biografien dieser Menschen geschrieben habe. Wer sich mit dieser Erwartung an die Lektüre begibt, wird wahrscheinlich enttäuscht.“

Gegenentwurf?

Ist Lennon der Gegenentwurf zu einem Mann, der im Kloster lebt? Das muss nicht sein. Auch Berühmtheit kann zum Kloster werden. „Mich an Lennon interessiert, wie einer an den eigenen Ansprüchen scheitert“, sagt Quartier. Scheitern auf hohem Niveau.

Idole?

Fragen wie ‚Darf einer als Mönch Idole haben?‘ tauchten auf. Oder: Wie denkt einer, der einen Schlaganfall gehabt hat (Niedecken), über die Ewigkeit nach? „Wolfgang Niedecken spricht von seinem Glauben und sagt, er sei rheinisch-restkatholisch.“ Sacken lassen. „Ewigkeit versteh‘ ich nicht“, sagt Niedecken. Es geht um das Unstillbare als Schnittmenge.

Zeilenhure

„Das Paradies ist hier“, singt einer wie Kunze und Quartier hat diese Zeile beeindruckt. Er spricht mit dem Sänger. Kunze sagt, er sei nicht mehr als eine Zeilenhure, aber irgendwie habe ihn dieser Satz geflasht. So entstehen Schnittmengen. Dialoge sind Schnittmengen, Standortbestimmungen. Eigentlich ist „Bestimmung“ schon zu viel. Es geht um Orientierung. Orientierung im eigenen Leben. Wenn es darum geht, wie man wurde, wer man ist, muss die Musik als „weicher Standortfaktor“ erwähnt werden. Der Soundtrack als Soultrack.

Hinter den Liedern

Das Treffen mit den Künstlern ist ein Treffen mit den Menschen hinter den Liedern. „Lebenslieder“ ist viel mehr als eine musikalische Autobiografie. „Wer mein Buch liest, sollte schon ein spirituelles Interesse mitbringen“, sagt Quartier. Verständnis hat immer etwas mit Wiederfinden zu tun. Wer sich wo und wie in Quartiers Zeilen (wieder)findet, ist nicht vorhersehbar. Es geht um Lebenslieder und nicht um Lebenslinien – schon gar nicht um Lebenslügen. Quartier tritt nicht als Musikwissenschaftler an, obwohl er sich auskennt. 20 Jahre hat er in Niel Orgel gespielt, hat einen Chor geleitet und sich sein Studium zum Teil mit Straßenmusik finanziert.

Auf Seelenhöhe

Auch Tanzmusik hat er gespielt – Erfahrung genug, um denen, die er getroffen hat, auf Augenhöhe zu begegnen, aber letztlich ging es – was soll man sagen – um Seelenhöhe. Einer, der ins Kloster geht, muss Fragen stellen. Und: Er muss sich den Fragen stellen – denen, die das Leben stellt. Längst steht fest: Du musst als Mönch nicht Dylan abschwören und fortan dein einziges Seelenheil im Gregorianischen Choral suchen.

Eine Reisebeschreibung

Fest steht aber auch: Musik zu hören, um sich schließlich gedankenlos dahinter zu verschanzen – das kann es nicht sein. So ist „Lebenslieder“ am Ende eine Art Reisebschreibung – eine, die nachhaltig daherkommt. Es geht darum, die Fremde im eigenen zu erklären und hinzureisen. Übrigens ist Quartiers „Lebenslieder“ – um im Bild zu bleiben – kein One-Hit-Wonder. Der Mann hat schon einiges veröffentlicht. Unter anderem „Heilige Wut“ und „Das Kloster im Leben“.

Orte, Pforte

Da sucht einer das Leben im Kloster, das Kloster im Leben, die Welt in sich und sich selbst in der Welt. Das Kloster ist die Heimatadresse für eine besondere Art des Denkens. Das Klosterleben – eine Art „Work in progress“.
„Wenn man das Kloster im eigenen Leben betreten will, muss es eine Pforte geben. Keine grenzenlose Offenheit und keine fanatische Abgeschiedenheit“, schreibt Quartier und irgendwie können auch Lieder zu Pforten werden, durch die man Räume betritt, die ins eigene Leben führen, aber manchmal auch ins Leben der anderen – ob sie berühmt sind, spielt keine Rolle.