Schreibkraft
Heiner Frost

Lauter nette Menschen

Foto: Rüdiger Dehnen

Frau O. ist eine vom Stamme Nimm. Kaum sieht sie etwas im Internet, will sie es auch schon haben – es können Reinigungsmittel sein, künstliche (Finger) Nägel mit Premium Acryl Liquid, Twisterscheiben oder Activity Tracker.

Frau Frau O. ist gewieft: Sie geht zu den Nachbarn und lässt sie die Sachen im Netz bestellen. Sie lässt sich von ihnen Emailaccounts einrichten und gibt falsche Telefonnummern an. Frau O. leistet sich einen eigenen Fuhrpark. Sind es nun zwei PKW oder drei? Ist doch egal! Die Nachbarn zahlen die Versicherung. Sie zahlen der O. mehr als sie für die Versicherung zahlen muss. Monat für Monat bleiben auf diese Weise mindestens 10 Euro bei der O. hängen. Kleinvieh macht schließlich auch Mist. Die Sache hat nur einen Haken: Die netten Nachbarn sind ihr drauf gekommen. Jetzt sitzen alle vor Gericht und – kaum zu glauben, aber wahr – Frau O. ist das Opfer, und die anderen haben es getan. Aber sie inszenieren sich als die Betroffenen. Verkehrte Welt.

Ein schräges Quartett

Der Reihe nach: Zwei Ehepaare sitzen auf der Anklagebank. Drei der Angeklagten sind Blutsverwandte: Vater (V), Mutter (M), Sohn (S). Dazu die Schwiegertochter (St). Ein tolles Quartett. Wirklich beeindruckend. Natürlich sagen sie aus. Zur Person. Zur Sache. Alle vier leiden an schweren Gedächtnisstörungen. Aber das macht nichts. Das Entscheidende haben sie gespeichert: Frau O. hat all das haben wollen. O. hat drauf gezeigt: „Das will ich“, hat sie dann gesagt, zeigte auf die Sachen, und das Quartett musste es bestellen. Für O.s Enkelin die Kunstnägel und das, was der Richter „Acrylzeugs“ nennt. Rührend haben sich die Damen des Quartetts um die O. gekümmert. Täglich saß man zusammen. Dann passierte es eben, dass auf Geheiß der O. und selbstverständlich in ihrem Beisein die Dinge bestellt wurden, von denen die O. (sie ist anstrengende 77 Jahre alt) wahrscheinlich nicht einmal weiß, worum es sich handelte. Twisterscheibe. Activity-Tracker. Was ist eigentlich ein Activity Tracker? Ach so, das ist eine Art Schrittzähler zur Selbstoptimierung.

Der Bruch

Irgendwann hat es einen Bruch in der so rührend fürsorglichen Beziehung gegeben. Die O. wurde nicht zu einem Familiengeburtstag (es könnte der des Vaters oder der des Enkels gewesen sein – wer soll sich an so etwas schon erinnern?) eingeladen. Jetzt rächt sie sich für den Liebesentzug. So wird es sein.
Die Mutter des Quartetts hat die O. irgendwann gefragt, ob man auf ihren, O.s Namen, ein Kraftfahrzeug anmelden dürfe. Ein Steuersparmodell. Die O. ist behindert – da gibt‘s Ermäßigungen. Man muss doch das Geld nicht verschenken. Ob es am Ende zwei Autos waren oder drei, spielt nach den ersten 90 Verhandlungsminuten ohnehin keine Rolle mehr. (Für das Gericht natürlich schon.) Die Angeklagten, leiden – siehe oben – an zwischenzeitlicher Orientierungslosigkeit in Bezug auf das Vergangene. Auf wen war das Auto zugelassen? St: „Auf mich.“ (Die anderen winken kommentierend ab; kramen in den mitgebrachten Aktenordnern.) St:„Ich kann mich nicht mehr erinnern.“ Der Richter hat seine liebe Mühe, das Quartett mit den Regeln des Kommunizierens vertraut zu machen, denn zwischenzeitlich scheint das Quartett auch noch an Anflügen von Hypakusis zu leiden. (Sie hören schlecht oder könnenwollen nicht verstehen, dass der Richter hier das Rederecht erteilt und dass niemand die Aussagen eines anderen zu kommentieren hat – nicht in Wort, nicht mit Gesten.)
Irgendwann jedenfalls weiß im Saal keiner mehr, welches Kraftfahrzeug zu welchem Zeitpunkt auf wen zugelassen wurde. Eines allerdings ist sicher: Wie viele PKW es auch gewesen sein mögen – die O. hat sie nicht gefahren. Sie besitzt nicht einmal eine Fahrerlaubnis. Oder ist sie etwa auch noch schwarz gefahren – den schicken Activity Tracker am Handgelenk? Keine Sorge. Davon ist nicht auszugehen. Allerdings sind Strafzettel und andere Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung in Form von Zahlungsaufforderungen bei ihr, O., gelandet. S. hat einen Wagen zum Verkauf angeboten, in desssen Papieren zwar der Name der O. stand … aber das Fahrzeug hat „natüüürlich“ ihm, S. gehört.

Die O. wohnt ja im selben Haus – treppauf. Ihr Strom läuft über einen Zwischenzähler. So kommt es, dass O. (man muss das nicht verstehen) allmonatlich 50 (oder sind es 60) Euro Stromkosten an V. und M. zu zahlen hat. M. fährt ein Auto (der Versicherungsvertrag wurde bei einem Online-Portal auf O.s Namen abgeschlossen) und zahlt der O. den Versicherungsbetrag. „Finden Sie das nicht kompliziert?“, interessiert es den Richter. Auf der Hand läge doch, dass M. einfach die Versicherung für den Wagen zahlt und von der O. das Stromkostengeld einstreicht. M. findet, dass es so doch auch einfach ist. Aha. M. hatte – natürlich ist das nicht lustig – einen Schlaganfall und hat Probleme mit der Erinnerung. Dass sie sich an alles Nützliche erinnert, vermeintlich Belastendes allerdings vergessen hat, bringt Vieles in den Bereich dessen, was man selektive Wahrnehmung nennen könnte.

„Nein, nein, nein!“

So vergehen die ersten beiden Stunden des Prozesses. Dann erscheint Frau O. im Saal. Sie hört ein bisschen schwer und für die Blicke, die sie während der anschließenden Befragung durch den Richter von Seiten des Quartetts zugeworfen bekommt, wäre andernorts ein Waffenschein zu beantragen. Nein, O. hat all diese Sachen nicht bestellt. Sie besitzt keinen Computer. Sie hat keine Emailadresse. Sie könnte sich all das doch gar nicht leisten. („Ich kann mir das alles doch gar nicht leisten.“) Von Vollmachten ist die Rede: Blanko. Sie scheint da mal was unterschrieben zu haben. Auch Frau O. ist nicht vollständig souverän im Vergangenen unterwegs. „Ich bin doch nicht verrückt“, antwortet sie auf die Frage des Richters, ob sie da mal was unterschrieben habe. Hat sie aber doch. Es existieren Vollmachten, die sie der M. unterschrieben hat – die aber im Haushalt von S. und St. gefunden wurden. O. bricht in Tränen aus, als der Vorsitzende ihr vorhält, was sie alles bestellt haben soll. „Nein, nein, nein!“, ruft sie und das Quartett stellt unisono und pantomimisch dar, dass man der O. nicht wirklich glauben kann. Sie schnauben, erleiden Gesichtskrämpfe, winken verächtlich ab. Der Richter fährt dazwischen. Erklärt noch einmal, wie es zu laufen hat. Aber das Quartett will sich all diese Ungerechtigkeit nicht gefallen lassen. Nicht auch im Gerichtssaal Opfer werden.
Das Tragische: Natürlich lässt sich zwar nachweisen, dass Bestellungen aufgegeben worden sind, aber niemand kann sagen, welcher Mitspieler aus dem Quartett wann am Rechner gesessen und den Bestellbutton gedrückt hat. Juristen sind scharfe Denker. Sie brauchen Fakten. Erst Fakten machen aus Angeklagten Täter. Frau O. bricht nach ihrer Aussage auf dem Gang kurz zusammen. Die Sache hat ihr zugesetzt. Gut, dass mittlerweile eine Zeugenbetreuerin vor Ort ist und sich kümmert. Man hätte sie schon vorher gebraucht – als Stauwehr gegen die bösen Blicke, als helfende Hand in einer Situation, der die O. anscheinend nicht gewachsen ist.

Anfangs herzlich

Nach der Mittagspause: Ein Kripomann. Er geht von einem bandenmäßigen Betrug aus. Der Frau O. sind scharenweise Gerichtsvollzieher auf die Bude gerückt. „Die zahlt heute noch 30 Euro jeden Monat für Dinge, mit denen sie nichts zu tun hat.“ Das hat die O. auch ausgesagt. Sie hat auch gesagt, dass ihr Verhältnis zu den Angeklagten anfangs sehr herzlich gewesen sei. „Die haben sich rührend um mich gekümmert. Auch, als ich im Krankenhaus war.“ Frau O. lag in Duisburg. Mitglieder des Quartetts haben ihr Sachen gebracht, Sachen zum Anziehen und so. Klar: Das ist die Rechtfertigung für O.s Fuhrpark.

Vertagt

Zwischendrin bekommt auch das Quartett Fragerecht: „Wann hast du uns kennengelernt?“, will St. von O. wissen. „2014“, antwortet sie, und St. triumphiert mit einem Grinsen, das man gemein nennen könnte: „Das ist falsch.“ Dass St. locker 40 Jahre jünger ist als die O. – sich aber ihrerseits nicht einmal erinnern kann, ob ein Auto, das sie gefahren hat, ihr gehörte oder auf sie zugelassen war, das kommentiert niemand. Frau kann sich halt nicht alles merken.
Die Verhandlung ist auf den 3. Mai, 9 Uhr vertagt. Wird man dann mehr über Gut und Böse erfahren? Wird es Freisprüche geben für das Quartett? Man mag nicht darüber nachdenken, dass O. und das Quartett weiterhin Decke an Fußboden – nein: Decke an Decke im selben Haus wohnen.
Das Quartett, hat der Kripomann ausgesagt, habe sich irgendwann zwischen O. und die anderen Nachbarn gedrängt. „Die war vorher sozial gut vernetzt, und dann hörte irgendwann alles auf.“ Das Wort Gehirnwäsche findet seinen Weg in den Saal. Am Ende aber geht es um Fakten. „Natürlich haben wir auch Gefühle“, sagt der Richter, „aber am Ende zählt nur, was sich auch beweisen lässt.“ Aber: Was lässt sich nachweisen? Was nicht? Klar ist: Frau O. zahlt noch immer. Sie zahlt mit Geld und dem Verlust von Vertrauen.

Finale Presto

Die Uhr im Gerichtssaal geht falsch. Sie geht nach. „Die Beteiligten in der Sache … bitte eintreten“, sagt der Richter. Nichts passiert. Der einzige Zeuge am Finaltag: Nicht erschienen. Wohl erschienen: A1 bis A4. Die netten Helfer. Vater, Mutter, Söhne und Schwiegertochter. Sie sind angeklagt, allerlei Schindluder mit einer alten Frau O. getrieben zu haben. (Siehe oben.) All das kam am ersten Verhandlungstag zur Sprache und man will die Betrügereien nicht noch einmal betreten. Es ist Vieles bestellt worden – angeblich im Auftrag der O. und mit ihrem Einverständnis. Zutreffend ist der Satzteil vor dem Bindestrich.

Einstellen

Heute: Ein letzter Zeuge. Er soll Aufklärung in eine angeklagte Urkundenfälschung bringen. Aber: Der Mann ist nicht erschienen. Richter: „Was sollen wir tun?“ Verteidigerin: „Einstellen.“ Richter: „Und die Kosten?“ Verteidigerin: „Landeskasse.“ Es wird kurz erörtert – ein die Situatuion umkleidender Paragraph aus der Strafprozessordnung wird erwähnt. Dann wird der Punkt Urkundenfälschung eingestellt.

Absehen von der Verfolgung bei Geringfügigkeit

(1) Hat das Verfahren ein Vergehen zum Gegenstand, so kann die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts von der Verfolgung absehen, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht. 2Der Zustimmung des Gerichtes bedarf es nicht bei einem Vergehen, das nicht mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedroht ist und bei dem die durch die Tat verursachten Folgen gering sind.

(2) Ist die Klage bereits erhoben, so kann das Gericht in jeder Lage des Verfahrens unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten das Verfahren einstellen. 2Der Zustimmung des Angeschuldigten bedarf es nicht, wenn die Hauptverhandlung aus den in § 205 angeführten Gründen nicht durchgeführt werden kann oder in den Fällen des § 231 Abs. 2 und der §§ 232 und 233 in seiner Abwesenheit durchgeführt wird. 3Die Entscheidung ergeht durch Beschluß. Der Beschluss ist nicht anfechtbar.

Schon klopft es an der Tür. Der Zeuge ist erschienen. Er hat einen Parkplatz gesucht. Dann hat er an der Personen-Schleuse Schlange gestanden. „So etwas müssen sie einplanen“, sagt der Richter. Hat der Zeuge. Aber dass er 20 Minuten an der Schleuse warten muss – wer soll das planen? Nein – seine Verspätung wird kein Nachspiel haben, erfährt der sichtlich nervös Gewordene. Aber: „Ihre Aussage wird nicht mehr benötigt.“ Und: „Hatten Sie Auslagen?“ Hatte er. Es gibt für alles ein Formular.

Und fertig

Staat und Verteidigung sind sich einig: Vater und Sohn sind freizusprechen. Nichts ist ihnen nachzuweisen. Sie waren – das haben alle ausgesagt – zum Zeitpunkt der Bestellungen nicht anwesend. „Wir können nichts anderes beweisen“, wird später der Richter sagen. Die beiden Damen aus dem Quartett werden mit Bestrafung zu rechnen haben. Vorher hat der Richter Auszüge aus dem Bundeszentralregister verlesen – dort stehen Unartigkeiten – sprich Vorstrafen – zu Buch. Nur die Mutter ist vertreten. Mit zehn Taten ist sie verzeichnet. Irgendwie geht es immer um Betrug – meistens gemeinschaftlich begangen. Diesmal war es natürlich anders. „Wir haben der O. nicht geschadet“, hört man die Frauen sagen. Unschuldslämmer. „Gestern Abend war die noch bei uns unten“, sagt die Mutter. Dann spricht der Richter. Zwei Freisprüche für die Männer. Für die Mutter beantragt die Staatsanwältin neun Monate. Für die Schwiegertochter auch. Beide Strafen: Zur Bewährung. Der Richter verhängt gegen die Mutter zehn Monate. Trotz aller ihrer bisherigen Strafen hat sie nie gesessen. Das wird auch diesmal so sein, denn es hat sich – so der Richter – „gezeigt, dass Sie eindrucksvoll nachgewiesen haben, dass Sie zu beeindrucken sind.“ Alle Bewährungsstrafen ohne Kratzer überstanden. Diesmal wird die Frist vier Jahre betragen. „Wenn Sie sich in dieser Zeit etwas zuschulden kommen lassen, werden Sie die Strafe absitzen.“ Die Schwiegertochter: Sieben Monate. Bewährungszeit zwei Jahre. Keine weitere Auflagen. Es regnet blaue Augen, mit denen man ja bekanntlich in Glücksfällen davonkommen kann. Mindestens die Mutter sollte also vier bis acht Veilchen haben. Und Frau O. – so viel steht fest – braucht Unterstützung. Nach 50 Minuten ist alles vorbei: Finale Presto.