Schreibkraft
Heiner Frost

In einem kaputten Leben

Wagner war‘s. Die Kammer sieht die Anklagepunkte bestätigt. Drei Jahre und sechs Monate für einen Adoptivvater, der – 25 Jahre ist es her – seine damals 13-jährige Adoptivtochter vergewaltigte.

Sachlich, nüchtern, ohne Emotionen

Es sei darum gegangen, so der Vorsitzende in seiner Urteilsbegründung, sich „sachlich, nüchtern und ohne Emotionen“ mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen und „wir sind zu der Überzeugung gelangt, dass sich die Vorwürfe aus der Anklage als begründet erwiesen haben“.
Der Finaltag im Prozess gegen Herrn Wagner begann mit einem Gutachten, bei dessen Inhalt es um die Glaubhaftigkeit der Aussagen des Opfers – der Adoptivtochter Wagner also – ging. „Es besteht ein Unterschied zwischen Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit“, hatte die Gutachterin ihre Ausführungen eingeleitet. Es gehe ausschließlich um die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage und nicht um die Glaubwürdigkeit der Aussagenden. Es gehe darum, herauszufinden, ob die geschilderten Vorgänge erlebnisbasiert seien oder nicht.

Erlebnisbasiert

Das Ergebnis des Gutachtens: Die Aussagen der jungen Frau sind erlebnisbasiert. Für die Gutachterin galt es, die Aussagen der jungen Frau während der Begutachtung mit dem Text der von ihr zuvor gemachten Anzeige und dem Inhalt einer polizeilichen Vernehmung zu vergleichen. Die polizeiliche Vernehmung bezeichnete sie als „grottig“. Die Aussagen der jungen Frau hätten zwar Inkonsistenzen aufgewiesen, aber sie sei von der Schilderung der Kernhandlung nie abgewichen. Die Schilderung der ersten Vergewaltigung durch den Adoptivvater sei zwar nicht detailreich gewesen, aber das sei mit einem zeitlichen Abstand von 25 Jahren auch schwierig. Die „kleinen Widersprüche“ in den verschiedenen Aussagen seien, so die Gutachterin, „dokumentationsbasiert“. „Wir haben jedenfalls eine Zeugin erlebt, der keine Belastungstendenzen in Bezug auf ihren Adoptivvater anzumerken waren.“ Die junge Frau habe über Zeitsprünge hinweg konstante Schilderungen der Vorgänge gemacht. Die Aussage sei erlebnisbasiert und nicht ausgedacht. Es gebe keine alternativen Erklärungen.

Ein Schwelbrand

Die Staatsanwaltschaft sah die gegen Wagner erhobenen Vorwürfe als erwiesen an. Man habe einen Menschen erlebt, in dessen Innerem sich über die Jahre ein Schwelbrand vollzogen habe. Die junge Frau habe nicht abgestritten, dass es ihr um Genugtuung gehe. „Wir haben keine übermäßige Belastungstendenz in der Aussage erkennen können.“ Ein minderschwerer Fall liege mit Sicherheit nicht vor. So lautete der Strafantrag für Herrn Wagner auf drei Jahre.
Der Nebenklagevertreter fand in Bezug auf Wagner, der mit seiner Frau zwei leibliche Kinder hat und dann fünf weitere adoptierte, deutliche Worte: „Der Mann ist ein Tyrann, ein Sadist, ein Kinderschänder.“ Das Leben – vor allem – der Adoptivkinder: eine Hölle aus Schlägen. Am ersten Verhandlungstag hatte Wagner nach anfänglichem Leugnen einegräumt, seine Kinder geschlagen zu haben.

Eine Zwickmühle

In den Aussagen der Familienmitglieder, die sich teils diametral widersprachen, sah der Nebenklagevertreter für die ‚Entlastungszeugen‘ eine Zwickmühle aus Loyalität und erlebter Wirklichkeit. Was den Missbrauch angehe, hätten es alle gewusst „oder mindestens geahnt“. Wagner habe seinen Kinder wiederholt gesagt, seine Ehefrau wolle nicht mit ihm schlafen, „und dann sitzt die hier auf dem Zeugenstuhl und sagt wie aus der Pistole geschossen, dass es drei Mal pro Woche Verkehr zwischen ihr und ihrem Mann gegeben hat, weil ‚das sonst keine Ehe sei‘. Das eigentlich Entlarvende hier waren doch die Entlastungszeugen.“ Ja, seine Mandantin habe von Rache gesprochen, „aber das heißt doch nicht, dass etwas deswegen nicht passiert ist.“ Seine Mandantin: ein auf ewig gestörter Mensch. „Da ist jemand auf ewig tot. Da hockt ein Mensch in einem kaputten Leben.“

Lange her

Er selbst sei, 50 Jahre sei das her, einmal per Anhalter gefahren. Im Auto habe der Fahrer dann gesagt: „Im Handschuhfach liegen Pornos. Die kannst du dir anschauen. Ich kann mich an diese Begebenheit erinnern, aber ich könnte heute nicht mehr sagen, in was für einem Auto ich gesessen habe. Das ändert nichts daran, dass ich das erlebt habe. Natürlich könnte ich von einem roten BMW sprechen und sagen, dass ich das weiß, weil wir zuhause das gleiche Auto hatten. Ich könnte den Fahrer beschreiben und sagen, er sah so aus wie mein Mathelehrer damals. Erhöht das die Glaubhaftigkeit meiner Aussage?“ Seine Mandantin habe die Kernhandlung, die sich vor 26 Jahren abspielte, zwar detailarm geschildert, aber was solle man nach einer solchen Zeitspanne denn erwarten?

Der Standpunkt

Dann das Plädoyer der Verteidigung. Wenn es einen Satz gibt, den man in Bezug auf Verhandlungen nicht oft genug wiederholen kann, dann ist es ohne Zweifel dieser: Wie man auf einen Sachverhalt schaut, hängt (natürlich) vom eigenen Standpunkt ab.
Wagners Verteidigerin plädierte lange, eindrücklich, eindringlich und engagiert – machte klar, dass man alles auch anders sehen könne. Unwidersprochen: Da hat einer seine Kinder jahrelang tyrannisiert und mit Strafen terrorisiert. Die Körperverletzungen: verjährt. Was tun, wenn man den Täter trotzdem zur Rechenschaft ziehen will: Da komme der Vergewaltigungsvorwurf ins Spiel, aber: Die Aussagen der Belastungszeugin: nicht detailreich. Es brauche kein großes Konstrukt, um eine solche Geschichte zu entwickeln und zu erzählen. Es stehe Aussage gegen Aussage. Eine erforderliche Sicherheit bei der Beurteilung der Vorwürfe sei nicht gegeben. Die Folge: Freispruch.

Lange Beratung

Die Kammer beriet ungewöhnlich lange und sah – anders als Wagners Verteidigung und einer von dessen leiblichen Töchtern im Zuschauerraum – die Anklage als erwiesen. „Dieses Verfahren hat gezeigt, dass auch lange zurückliegende Sachverhalte aufklärbar sind.“ Der Dreiklang: sachlich, nüchtern, ohne Emotion.
Man könnte auch eine andere Geschichte erzählen. Sie würde ein anderes Ende haben – würde in einen Freispruch münden, dessen Begründung nicht die erwiesene Unschuld wäre, sondern der aus einem diffusen Zweifel erwachsen würde, aber das Gericht hat das vorerst letzte Wort gesprochen. Es ist ein Schuldspruch gegen Herrn Wagner. Einen Haftbefehl verhängte die Kammer nicht: „Wir sind sicher, dass Sie sich, wenn dieses Urteil rechtskräftig wird, ihrer Strafe stellen werden.“

Ein Fazit

Was hat man erlebt: Die gebotene und respektgebietende Ernsthaftigkeit bei dem Versuch einer Aufklärung; besonnene und umsichtige Plädoyers und ein Gericht, dass sich – das zumindest lässt die Beratungszeit vermuten – seine Entscheidung alles andere als leicht gemacht hat. Nach der Aussage der Hauptzeugin – des Opfers also – hatte man ein implodierendes Kartenhaus gesehen und war vielleicht nicht nüchtern genug. Herr Wagner wird über sich, sein Leben und das Leben seiner Kinder nachdenken. Schuld hat er auf sich geladen – daran kann kein Zweifel bestehen. Eine Bestrafung Wagners wegen Körperverletzungen an seinen Kindern wäre verjährt und somit nicht mehr (be)strafbar gewesen.

Der Finaltag des Prozesses: ein Wechselbad. Und ein Prüfstand für die eigene Sachlichkeit – verbunden mit der Frage, ob es möglich ist, einer Katastrophe wie der wagner’schen gefühlsbefreit gegenüberzutreten. Was ist zu tun, wenn zwei Seiten (Anklage hier – Verteidigung dort) Argumente vobringen, denen man in gleicher Weise folgen kann? Ist diese Synchronität des Gegensätzlichen ‚Zweifel‘ zu nennen? Was gibt am Ende den Ausschlag? Das Gutachten: schlüssig, aber – wie sollte es auch anders sein – nicht eindeutig. Es bleibt Raum für Zweifel. Ist die Detailarmut einer Aussage dem zeitlichen Abstand geschuldet oder ist sie der kleinste gemeinsame Nenner, der sich zwischen Erinnerung und erdachter Wirklichkeit aufspüren lässt?

Manchmal wünscht man sich andere Worte. Vielleicht diese: „Die Kammer hat nach bestem Wissen alle Argumente dieses Falles erörtert und für uns ist es erwiesen, dass sich die Taten wie angeklagt zugetragen haben.“ Würden sich daraus Revisionsansätze ergeben? Man ist kein Jurist, aber wenn es eine „freie Beweiswürdigung“ gibt, dann muss sie die Möglichkeit beinhalten, dass eine andere Kammer bei identischer Faktenlage zu einer anderen Sichtweise gelangen und schließlich ein anderes Urteil fällen würde. Sprache ist eine Form der Kleidung: „Wir sind absolut sicher“ – das ist ein undruchdringliches Kettenhemd ohne Spielraum – ein Platz im gedanklichen Windschatten – eine Kathedrale der Hoffnungslosigkeit – eine Drohung mit Unabänderlichkeit: niemand soll es anders sehen. Wagner war’s. Alles andere: undenkbar.
Zum ersten Teil der Reportage