Schreibkraft
Heiner Frost

Das Volk gegen Peter S.

Auftakt
Es ist 9 Uhr morgens am 4. Juni. Landgericht Kleve. Die Tür von Saal A 110 wird geöffnet. Auf dem Programm: Das Volk gegen Peter S. Das Volk ist nicht erschienen – nur die Frau des Angeklagten mit zwei jungen Männern. Söhne? Als sie den Saal betritt, sitzt Peter S. schon auf der Anklagebank.

Das Gericht ist noch nicht eingetreten. Der Justizwachtmeister fragt den Angeklagten mit einer Handbewegung in Richtung der Frau: „Kennen Sie die?“ „Das ist meine Frau“, sagt Peter S. und der Justizwachtmeister erlaubt einen Kuss. „Wo waren Sie denn, als der Angeklagte gebracht wurde?“, fragt der Wachtmeister. „Ich musste auf Toilette“, sagt die Frau. Nach dem Kuss tritt das Gericht ein: Ein Vorsitzender Richter, eine Richterin, zwei Schöffen. Dazu: Ein Staatsanwalt, ein Verteidiger, ein Gerichtsschreiber. Der Angeklagte ist geständig. Vielleicht ist das unspektakulär für das Volk. Kein Blut, kein Sex, keine Leichen. Vielleicht hat das Volk kein Interesse an 40 Kilo Haschisch und einskommafünf Kilo Koks. Seit Januar sitzt S. in U-Haft. Als der Zoll  sein Auto auf der A3 rauswinkte und kontrollierte, kam S.’ bisheriges Leben mit einer Vollbremsung zu Stillstand. Seitdem ist nichts mehr wie es war, und das wird für eine lange Zeit so bleiben. Für den Angeklagten geht es um viel: 15 Jahre kann er bekommen, und er hat schlecht geschlafen in den letzten Nächten. Kopfkino. Immer wieder. Es ist diese unaussprechliche Erwartung dessen, was kommen wird. Kommen kann. Peter S. ist kein Serientäter. Einmal, das ist schon lange her, haben sie ihm einen Monat Fahrverbot erteilt: Alkohol am Steuer. Aber 40 Kilo Hasch und das Koks sind eine andere Hausnummer. Viel wird davon abhängen, ob S. eigenständig Handel treiben wollte oder nicht.

Ein Leben
Der Angeklagte wird aussagen. „Äußern Sie sich zur Person“, fordert das Gericht ihn auf. S. äußert sich und ist, wo er nur sein Leben abliefern soll, schon wieder auf dem Weg ins Geständnis. Der Anwalt bremst. „Erzählen Sie von Ihren Eltern, der Kindheit, der Jugend.“ S. ist in Russland aufgewachsen. Das ist nicht zu hören. S. spricht akzentfrei. Als er sechs war, kam die Familie nach Deutschland. S. hat vom ersten Schuljahr an Deutsch gelernt. „Zuhause haben wir immer nur Deutsch gesprochen“, sagt er. „Haben Sie Geschwister?“, fragt das Gericht und tastet sich weiter ins Leben des Angeklagten. „Sieben.“ „Und was machen die so?“ „Theologin, Hausfrau, Maschinenschlosser, Akustikbauer, Drucker, Hausfrau, Hausfrau.“ S. selber hat Tischler gelernt und arbeitete zuletzt als Auslieferungsfahrer. Damit meint er nicht seine bisher letzte Fahrt, die im Knast endete. Im Januar haben sie ihn verhaftet. Im Jahr davor, am 31. Juli, ist er arbeitslos geworden. Dazu: Über 60.000 Euro Schulden. Schulden für ein Auto. Steuerschulden beim Finanzamt. („Das kommt noch von meiner Selbständigkeit.“) Dann der Kontakt zum vermeintlichen Auftraggeber der Drogenfahrt. „Ich habe den gefragt, ob er was für mich hat.“ Zu diesem Zeitpunkt hat er, sagt S., von den Geschäften des M. nichts gewusst. Er hat den Kontakt zu M. über einen Bekannten bekommen. Der Bekannte, das allerdings weiß S. schon damals, sitzt. Er war als Drogenkurier unterwegs. Die Frau des Kuriers, Kambodschanerin, spricht kein Deutsch. In ihrer Wohnung sind sich S. und M. erstmals begegnet. M. verspricht, sich zu melden, wenn er „mal was haben sollte“. Zwei Wochen vor der Tat dann eine Nachricht: M. hätte da „eine Kleinigkeit zu tun“. 550 Euro werden in Aussicht gestellt. „Das war im Januar diesen Jahres?“, fragt das Gericht und man möchte sagen, dass es „dieses Jahres“ heißt. „Ja, “sagt der Angeklagte und wiederholt –  wenn das Gericht es sagt, wird es wohl stimmen – „im Januar diesen Jahres“.

550 Euro
S. und seine Frau – es ist seine zweite Ehe – leben von 620 Euro. „Bekommen Sie Wohngeld?“, fragt das Gericht. „Zum Schluss wohl.“ Mit Schulden von mehr als 60.000 Euro und dem Versprechen von 550 Euro für eine Kleinigkeit, wird der Kurierlohn zum Angebot, das man nicht ablehnen möchte. Jeder Euro hat Rettungstendenz. Zu diesem Zeitpunkt ahnt S. vielleicht schon, dass es um Drogen geht. Zwei Tage vor der Fahrt, noch einmal die Frage, ob er’s machen will. Er will. „Das war an einem Wochenende. Die eigentliche Fahrt sollte dann dienstags stattfinden.“ S. schildert den Tag: Mit zwei Autos fahren sie Richtung Holland. M. vorneweg – S. hinterher. Irgendwann kommt es zur Übergabe und S. wundert sich, wie viel Kleinigkeit in seinem Auto versteckt wird: Hinter Seitenverkleidungen und in der Reserveradmulde landen die Päckchen – manche braun, andere in schwarzes Plastik geschlagen. Dass es sich nicht nur um Haschisch handelt, dass auch Kokain im Spiel ist, „hat der nicht gewusst“, vermutet einer der ermittelnden Beamten, der später aussagt. Die Päckchen werden von einer Frau übergeben. Ja, S. würde sie wiedererkennen, wenn man ihm ein Lichtbild zeigt. Er würde auch die Stelle wiedererkennen, an der die Übergabe stattgefunden hat. Nein, geredet hat die Frau nur mit M. „Die beiden haben Englisch gesprochen.“ „Wie alt war die Frau nach Ihrer Schätzung?“, fragt das Gericht. „Zwischen 45 und 55“, sagt S., und seine Frau flüstert im Zuschauerraum: „Älter.“ Die Päckchen werden in S.’ Auto versteckt. S. erinnert sich nicht an ein System. „Das wurde hingepackt, wo es gerade passte.“ Einer der ermittelnden Beamten  beschreibt es anders: „Das Haschisch war im Kofferraum in der Reserveradmulde, das Koks hinter der Seitenverkleidung.“

Zu spät
Dass sie S. aufs Korn genommen haben – vielleicht nicht mehr als ein Instinkt. Sie folgen dem Auto, winken S. raus, fragen, wo er herkommt. „Der sagte, er hätte einen Freund besucht. In der Nähe von Amsterdam“, erinnert sich einer der Beamten. „Wir haben ihn dann gefragt, ob er Waren dabei hat.“ S. verneint. Auch die Drogenfrage verneint er. Was soll er auch sagen: „Meine Herren, ich habe da eine Kleinigkeit im Wagen versteckt.“ Andererseits: Für Ausflüchte ist es doch längst zu spät. Die Zollbeamten beginnen die Suche und werden fündig. 39,7 Kilo Haschisch (über den Wirkstoffgehalt wird nicht gesprochen) und das Koks; 1.500 Gramm. „Wie hoch schätzen Sie den Wert“, fragt das Gericht einen der Zeugen. Auch er hat Ermittlungen durchgeführt. „Ich habe mich da jetzt nicht extra schlau gemacht“, sagt er und schätzt dann, das Koks koste pro Kilo vielleicht 50.000 Euro, das Haschisch pro Gramm vier Euro. Da kommt einiges zusammen. Im Knast sagt einer: „Locker eine halbe Million.“ Das Volk ist nicht anwesend, aber es würde sich spätestens jetzt fragen, wie einer für 550 Euro 15 Jahre seines Lebens riskiert. „Du denkst natürlich, dass sie dich nicht schnappen“, sagt einer im Knast, der sein Urteil längst hat. Anfangs hat der Angeklagte nicht eingeräumt, dass es einen zweiten Mann gab. Er hat nicht erwähnt, dass auf dem Rückweg er, S., vorneweg fuhr und M. in einem zweiten Wagen folgte. Er lehnt ab, die Drogen zu übergeben, was ihm von den Beamten nach einer entsprechenden Belehrung angeboten wird. „Ich hatte den Eindruck, dass der Angeklagte Angst um seine Familie hatte“, sagt einer der Beamten, die für den Zugriff verantwortlich waren. Ein anderer sagt, er habe den Eindruck gehabt, S. habe von dem Kokain nichts gewusst. Als er es dann erfahren habe, sei er ängstlich gewesen. „Haben Sie beim M. je eine Waffe gesehen oder ist ihnen gedroht worden?“, fragt das Gericht. Nein. Weder Waffe noch Drohung hat es im Vorfeld gegeben. Aber spätestens während der Übernahme der Drogen, sagt S., habe er sich gewundert. Das sei ja irgendwie keine Kleinigkeit gewesen. Er habe gedacht, man müsse über die Bezahlung noch einmal reden. Immer wieder fragt man sich, wie einer für 550 Euro so viel riskieren kann. Man fragt sich, ob S. total ahnungslos gewesen sein kann. Die Zeugen sagen übereinstimmend aus, dass S, sich „gegen Ende“ kooperativ gezeigt hat. „Ich wollte reinen Tisch machen“, sagt S. dazu. Die Geschichte, die S. bei seiner Verhaftung erzählte war in Teilen eine andere. Er sei einem niederländischen BMW bis zur Übergabestelle gefolgt, sagt er in seiner ersten Vernehmung. „Ich wollte den Namen des M. damals nicht preisgeben.“ Im Raum spürt man Schlingen. Sie legen sich zwar nicht um S.’ Hals, aber um sein Leben. Was, wenn der Auftrag des M. nur eine Erfindung ist? Dann würde es um eigenhändigen Handel gehen. Dann würde das Strafmaß, so muss man vermuten, hoch ausfallen. S. als einer, der für 550 Euro Kurierlohn nichts als ein Werkzeug ist, wird wohl mit einer milderen Strafe rechnen können. Und wo steckt M.? Der ist zurzeit in Thailand. Längst wird gegen ihn ermittelt. Die Zeugenbefragungen sind abgeschlossen. Das Gericht legt eine 20-minütige Pause ein. „Was, wenn M. die Version meines Mandanten bestätigt?“, möchte der Anwalt vom Gericht wissen. „Glauben Sie das im ernst“, fragt das Gericht zurück. „Als Jurist habe ich gelernt, dass alles möglich ist“, sagt der Anwalt. Ohne eine Aussage von M. wäre die Verhandlung nach den Plädoyers beendet. Nach der Pause vertagt sich das Gericht. Vielleicht schafft es der Anwalt, etwas über M. zu erfahren. Eine letzte Chance. S. bekommt Verlängerung für das Kopfkino. Im Knast hat er mittlerweile eine Einzelzelle. Arbeit hat er auch. Trotzdem dreht sich das Strafenkarussell und kommt nicht mehr zum Stehen.

Finale
Jetzt also die Zielgerade. Ein sonniger Montag. Es soll heiß werden. 37 Hitzegrade sind im Anmarsch. Wie gut, dass der Termin schon um 8 Uhr beginnt. Fünf Zeugen sind geladen. Damit hatte man nicht gerechnet. Einer von ihnen: M. – dass der sich traut …
Unten im Gerichtshof fährt der Gefangenentransporter vor. Es ist 7.50 Uhr. S. in Handschellen. Der Justizvollzugsbeamte übergibt dem Justizwachtmeister ein Lunchpaket für den Gefangenen. Jetzt könnte S. gleich in den Saal, aber sie bringen ihn in den Keller. Da sind die Wartezellen. Dass die Angeklagten vor dem Prozess und zum Warten auf das Urteil in den Keller müssen, hat besser nichts Symbolisches. Um kurz nach acht ertönt der Summer im Saal A 110. Das Finale kann beginnen. Sie bringen S. zur Verhandlung. Er muss nicht hinter die Absperrung. Er darf neben seinem Anwalt Platz nehmen. Wie beim letzten Mal. Auf der Zeugenliste: S.’ Frau. Wird es doch noch Überraschungen geben? Die Zeugen werden in den Saal gerufen und belehrt. Vier werden erst einmal wieder auf den Gang geschickt. M. bleibt als Solist – ein kleinerer Mittfünfziger, sportlich gekleidet. Scharpingbart. Sein sandfarbenes Jackett hängt er über die Stuhllehne. M. fragt sich, warum sie ihn als Zeugen einbestellt haben. „Ich muss Sie belehren“, sagt der Richter und M. erfährt, dass niemand sich vor Gericht mit einer Aussage selbst belasten muss. Ansonsten gilt die Wahrheitspflicht.

Briketts
M. gibt zunächst Auskunft über sein Bisherleben. Derzeit handelt er mit Kokosnussölbriketts. Neuland für das Gericht. M. klärt bereitwillig auf, und ein bisschen klingt das Ganze jetzt nach einer Werbeveranstaltung. M. sieht die Kokosnussölbrikettbranche als seine Chance für die Zukunft. Da liegt Geld vergraben. S. hat von ihm, M., mal eine Palette Briketts bezogen. 30 Säcke à 20 Kilo. Das Kilo zu 84 Cent. So hat es angefangen. Den S. hat er über einen anderen Kunden kennengelernt. Ja, man hat sich auch zwischendrin getroffen. Kundenbetreuung ist schließlich wichtig. Und die Vergangenheit? Nun ja – M. hat schon gesessen. Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. 37 Monate hat er abgesessen. Ja, den S. kennt er. Der ist Kunde. Briketts. Wie schon gesagt. Die Akustik im Gerichtssaal lässt Wünsche offen. Nuschelt einer im Zeugenstand oder auf der Richterbank, wird das Verstehen blockiert. Bei Zeugen ist das Zuhören schwieriger als beim Gericht. Das Gericht spricht in Richtung des Volkes. Die Zeugen adressieren das Gericht. Sie sind ja Teil des Volkes. Beim vierten Aussprechen wird deutlich, dass M.s Briketts nicht auf den Vornamen Kokosnussöl hören. Es sind Kokosnussgrillbriketts. Jetzt endlich wird auch M.s Affinität für Gartencenter sinnfällig. M. liefert seine Waren auch nach Holland. Die Probepakete enthalten drei Kilo Grillkohle aus Kokosnussfasern. Ein bisschen ähneln die Probepackungen der Grillkohle vor dem geistigen Augen des Zuhörers den Rauschgiftpaketen des ersten Verhandlungstages. Zufall.
Vorstellung, Erinnerung und Wirklichkeit durchmischen sich. Dabei liegt der erste Tag der Verhandlung kaum 14 Tage zurück. M. ist einer von denen, die alles erklären können. Er ist ein talentierter Geschichtenerzähler. Die Wahrheit scheint eine modellierbare Masse. Tattag war der 15. Januar. M. jongliert die Details, als wäre er in der Gegenwart auf Reisen. Gerade kommt er aus Thailand. Da ist er verheiratet. Und der Tattag? M. kann sich erinnern, S. getroffen zu haben. Vielleicht war er bei ihm zuhause. „Haben Sie was getrunken?“, fragt das Gericht und M. sagt fast ein bisschen beleidigt: „Ich trinke nicht, wenn ich mit dem Wagen unterwegs bin.“ Das Gericht sagt: „Ich hatte eher an Kaffee gedacht.“ Niemand lacht. Das Gericht fragt sich durch den Tattag, und M. ist gern behilflich bei der Wahrheitsfindung. Stets zu Diensten. Er ist bei S. gewesen, weil der vielleicht einen neuen Kunden für ihn hatte. Im Ostwestfälischen. Natürlich hätte S. eine Provision bekommen. Das „Was dachten Sie denn“ bleibt ungesagt und man denkt an die mickrigen 550 Euro Kurierlohn für eine Ware mit dem Marktwert von einer halben Million.

Sonnenschirme und Strippenzieher
Das Gericht fragt M. nach Frau V. Das ist die, von der S. sagt, sie sei bei der Übergabe dabei gewesen – habe die Drogen übergeben. Ja, M. kennt sie. Schon seit 20 Jahren. „Die habe ich mal auf einer Messe in Holland getroffen. Damals war ich noch mit doppellagigen Sonnenschirmen unterwegs.“ (Man denkt an das Nachmittagswetter.) Ja, M. kennt die V. auch außergeschäftlich. V. war sogar zu M.s Hochzeit eingeladen. Zuletzt hat er sie Mitte Januar getroffen. Ja, es könnte am Tattag gewesen sein. („Das könnte hinkommen.“) M. war in Holland unterwegs. Kundenakquise. Bei einem Gartencenter. Nein, er hat niemand angetroffen. Er hat ein Musterpaket an der Rezeption hinterlassen. Das Gericht fragt nach M.s Handy. Ja, ein Handy hat er. Mit einer Twin Karte. Eine Nummer in Deutschland, eine in Thailand. Das Handy hat er immer dabei, wenn er im Außendienst ist. Das Gericht lässt jetzt erstmals durchblicken, dass S. den Tattag anders modelliert hat. In der Version von S. wird M. zum Auftraggeber eines Deals, bei dem es um 40 Kilo Haschisch und 1,5 Kilo Koks ging. M. als Strippenzieher. Regisseur. Der Gemeinte zeigt sich virtuos überrascht. Will er etwas dazu sagen? Nein. „So etwas müsste man ja erst mal mit dem Anwalt besprechen.“ M. bleibt ausgesucht höflich und mitteilungsfreudig. Nur zur Version des S.: „Kein Kommentar.“ (Am besten ist weiträumiges Umfahren.) M. spricht wieder über sein Produkt. Er ist einer, der dir einen Kühlschrank verkauft und weiß, dass es  weit und breit keinen Strom, gibt. Man kann die Muster nicht einfach mit der Post an künftige Kunden schicken. Man muss dieses Produkt erklären. Die Kohle ist nur schwer entzündbar. „Aber wenn’s einmal läuft …“ Das muss man wissen. Das Gericht würde jetzt schon gern wissen, warum M. das Musterpaket am Tattag einfach an der Rezeption des Gartencenters abgegeben hat. Hat er ja nicht. Er hat den Damen am Empfang etwas dazu gesagt. Nachher hat sich ein Kontakt entwickelt. Emails hin und her.
Wahrheit, denkt man, hat unterschiedliche Aggregatszustände. Hier und jetzt ist der Übergang von der festen in die flüssige Form erlebbar. Später erklärt M., dass bayerische Kunden keine Erklärung brauchen. Da genügt auch schon mal ein Anruf. Holland, sagt er, ist anders. Stimmt, denkt man: In Holland muss man die Drogen holen. Die kommen nicht von selbst. Hat M. eigentlich immer ein Muster seines Produktes und seine Visitenkarten dabei? „Wenn ich gewusst hätte, wie interessant das für Sie ist, hätte ich was mitgebracht.“ Auch der Verteidiger hat Fragen. Wie lange hat M. gesessen? 37 Monate. Der Grund? Zwölf Zentner Amphetamine und 25 Kilo Haschisch. Das Gericht hat den Tattag hinreichend rekonstruiert. M. kann, wenn er mag, im Saal bleiben. Vielleicht wird er noch gebraucht. M. nimmt das Jackett, das über der Stuhllehne hängt, und marschiert in Richtung der Zeugenplätze.

Formulare
Frau W. ist die Schwägerin des Angeklagten. Sie möchte keine Aussage machen. Sie bekommt das Formular für Fahrtkostenerstattung und Arbeitsausfall. Auf Wiedersehen. Dann: Die Frau des Angeklagten: Als sie in den Saal kommt, sagt sie „Hallo“, und es klingt ein bisschen, als würde Sie sich um einen Job bewerben. Ängstlichmutig. Nein, aussagen möchte sie nicht. Auch sie bekommt die Formulare. So schnell kann’s gehen. Dann: Herr W., Gerichtsvollzieher. Ja, er kennt den Angeklagten und seine Frau. Er schaut regelmäßig vorbei. Sein Verhältnis zur Familie S.? „Normal halt. Die Frau zahlt Schulden für ihren Schwager, dem das Haus gehört, in dem sie zusammen wohnen.“ Ja, er hat den M. mal beim S. gesehen. Ob es der Tattag war, kann er nicht mehr sagen. Das ließe sich aber aus den Unterlagen rekonstruieren. „Die haben Sie aber nicht dabei?“, fragt das Gericht. Nein, hat er nicht. „Hier ist heute Hauptverhandlung, das wissen Sie schon?“, sagt das Gericht. W. könnte anrufen und die Unterlagen faxen lassen. An dem Tag, den er meint, hat man zusammen beim Kaffee gesessen. S., seine Frau, M. und er, W. Irgendwann hat M. zu S. gesagt: „Wir müssen jetzt los.“ Weitere Fragen? Nein. W. soll zwei Etagen höher gehen und den Beamten im Gerichtsbüro nach der Faxnummer fragen. Hat W. Auslagen gehabt? Das übliche Formular. Abzugeben in Raum soundso. Dann nochmals der Kripobeamte des ersten Tages. Ja, es hat Nachermittlungen gegeben. Es ging um den Tattag und W.‘s Anwesenheit.  Außerdem hat man Frau V. fotografiert. S. hat sie als die Frau erkannt, die bei der Übergabe dabei war. Ein ebenfalls fotografiertes Haus hat S. nicht erkannt. Der Beamte spricht von Bildvorlagen. Was war mit M.s Handy? Am Tattag konnte es nicht in Holland geortet werden. Das Gericht fragt den Kripomann, ob er weiß, dass es zu M.s Handy eine zweite Nummer gibt. Nein. Er weiß es nicht. Dann, nochmals, M.: Ja, an den W. erinnert er sich jetzt wieder. Der war tatsächlich am Tattag bei S. zuhause. Schon auf dem Gang hat M. sich gefragt: Woher kennst du den? Jetzt weiß er‘s. Jetzt hat er wieder ein Gesicht zur Geschichte. [Oder umgekehrt.] Aber als er, M., gekommen ist, war S. noch nicht da. Nur dessen Frau hat mit dem W. am Tisch gesessen. „Irgendwann musste ich dann los.“ M. handhabt die Wahrheit virtuos. Allerdings verheddert er sich auch. Und das Handy? „Das hatte ich dann wohl ausgeschaltet. Man telefoniert ja nur das Nötigste.“ [Sagt einer, der vom Verkauf lebt und von der Akquise.] Keine weiteren Fragen. Hatte M. Reisekosten und sonstige Auslagen? Das Formular. Zimmer soundso. Aus dem Zuschauerraum eilt ein Mann auf den Gang. Das Gericht verabschiedet den Zeugen. M. kann gehen. M. geht. Auf dem Gang wird es kurz laut. Das Gericht verliest Auszüge aus dem Bundeszentralregister und der Staatsanwalt überreicht einen Haftbefehl: Für M.. Die Kür ist beendet. M. muss in die Pflicht. Sie haben ihn schon hops genommen. Der Mann im Zuschauerraum war ein Staatsanwalt. Jetzt also auch die Vollbremsung in M.s Leben. Zurück zum Zentralregister. S.’ Leben ist ohne Eintrag.

15 Minuten
Dann: Die Plädoyers. Eigentlich, so der Staatsanwalt, gehe es bei der in Rede stehenden Menge um ein Strafmaß von zwei bis 15 Jahren. Ein schweigender Angeklagter hätte mit neun Jahren zu rechnen gehabt. Leicht. Durch die umfangreichen Einlassungen rede man nun über ein Strafmaß zwischen sechs Monaten und elf Jahren, drei Monaten. Zugunsten des S.: Er hat vom Kokain wohl nichts gewusst. Vor der Aussage hatte niemand etwas versprochen. S. hat ins Leere gestanden. Strafschärfend: S. hat beim Verpacken Hand angelegt. Der Staatsanwalt schaut in den Rückspiegel: Anfangs habe man S. nicht geglaubt. Zu viele unterschiedliche Versionen. Jetzt aber, nach dem Auftritt des M., sieht die Anklage es anders. Vor Gericht werden oft unscheinbare Netze geknüpft, die erst im Nachhinein Tragfähigkeit offenbaren. Da gab es diesen einen Satz des Gerichtvollziehers. „Wir müssen jetzt los“, soll M. am Tattag gesagt haben. Der Satz legt sich jetzt als Fessel um M.s Leben. Vier Wörter – eine Fallgrube: Wir. Müssen. Jetzt. Los. Wenn M. der Prozess gemacht wird, wird es um viel gehen. Für S. beantragt der Staatsanwalt fünf Jahre, sechs Monate. Dann die Verteidigung. Sie stimmt der Staatsanwaltschaft größtenteils zu. Hinzuzufügen ist ein Ausrufzeichen beim Geständnis des Angeklagten. Dass der zunächst anders ausgesagt hat, führt die Verteidigung auf eine Art Schockstarre in Zusammenhang mit der Verhaftung zurück. S. ist Erstverbüßer. Zu M.s Aussage fällt der Verteidigung nur so viel ein: „Der lügt doch von A bis Z.“ Dem beim Lügen zuzusehen – fast schon ein Ereignis. Der Angeklagte war für M. – die Verteidigung will es mal etwas flapsig ausdrücken – nur ein Dummy. Ahnungslos bis zuletzt. Die Strafzumessung – schwierig. Der Verteidiger ist in einem Verfahren in Münster beteiligt: Da geht es um einskommavier Tonnen Rauschgift. Ton-nen! „Was gibt man da?“ [Was gibt man hier?] Die Staatsanwaltschaft muss nicht milde sein. („Das ist nicht Ihre Aufgabe.“) Der Antrag: Vier Jahre, drei Monate. Die Verteidigung findet dieses Strafmaß nicht mehr richtig als sie es verkehrt finden kann. Von Bewährung wird nicht gesprochen – vielleicht aber vom Außervollzugsetzen des Haftbefehls. Der Angeklagte würde dann im besten Fall einen Stellungsbefehl für den offenen Vollzug erhalten. Er hat Familie und festen Wohnsitz. Muss man ihm das antun, dass er in den geschlossenen Vollzug kommt? Es braucht ein deutliches Signal: Gestehen muss sich lohnen. Dann S.‘ letztes Wort: Es tut ihm leid. „Ich habe noch immer Angst um meine Familie.“ Das Gericht wird in 15 Minuten ein Urteil verkünden.
Wem soll man glauben? Was soll man denken? Hier geht es um Lebenszeit, und draußen scheint frech die Sonne. Man möchte nicht in der Haut derer stecken, die zu urteilen haben. Man möchte nicht S. sein und nicht M. Man möchte nicht S. sein und im Knast auf M. treffen. Auf dem Gang geht es locker zu. Die Verteidigung simst. Die Frau des Angeklagten bietet dem Staatsanwalt Kaugummi an. Der Verteidiger sagt zu Frau S.: „Die vierdrei mussten sein, damit die mich noch ernst nehmen.“ Mit die meint er das Gericht. Jetzt beraten sie – sind sich einig oder auch nicht. Sie haben zugehört. Die Schöffen haben nichts notiert. Nach 17 Minuten ertönt der Summer. Jetzt wird Recht gesprochen. Im Namen des Volkes. Das Volk ist abwesend.