Schreibkraft
Heiner Frost

„Ich bin da ganz ehrlich“

Herr A. ist Schulbusfahrer – ein irgendwie unbeschriebenes Blatt: eigentlich. Vorstrafen: keine. Schulden: keine. Drogen: „Bringt mir nichts.“ Alkohol: „Hier und da mal ein Bierchen.“ Verheiratet: zwei Söhne. Der erste ist schon über 30. Der zweite: unter zehn. Die Frauen: abhanden gekommen. A. – irgendwie ein Musterbeispiel an Unauffälligkeit. A. – auch einer, der eine Frau niemals hängen lassen würde. „Da bin ich ganz ehrlich.“ Aber wenn eine fremd geht, ist halt Schluss.

Vielleicht zitiert man zunächst einmal die Pressemitteilung des Landgerichts: „Verhandlung gegen einen 52-jährigen Deutschen aus Kleve wegen verschiedener Delikte des sexuellen Missbrauchs in fünf Fällen sowie Besitzes kinder- und jugendpornografischer Schriften. Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte vier Fälle des sexuellen Missbrauchs im Rahmen seiner Tätigkeit als Schulbusfahrer im Schulbus aber auch in seiner damaligen Wohnung in den Jahren 2013 und 2014 gegenüber einem 15 beziehungsweise 16 Jahre alten Mädchen begangen haben. Eine weitere Tat soll in den Sommerferien zum Nachteil einer damals 13-Jährigen auf einem Campingplatz in den Niederlanden erfolgt sein. Zudem sollen im Rahmen einer Wohnungsdurchsuchung im August 2021 kinder- und jugendpornographische Bilddateien und Videodateien aufgefunden worden sein.“

Ein virtuoser Erzähler

Herr A. ist ein virtuoser Erzähler: „Also, ich bin da ganz ehrlich“, sagt er immer wieder. Herr A. hat auf jede Frage eine Antwort – ist dem Gericht mit ausführlichen Schilderungen behilflich. „Also, ich bin da ganz ehrlich.“ Wenn die eine oder andere Nachfrage der Vorsitzenden Richterin zu konkret ist, kann A. sich nicht erinnern. „Ist ja schon lange her.“ Vielleicht müsste man – eigens für Herrn A. – einen Jugendhilfepreis ausloben und ihm verleihen. Wer würde schon einem Mädchen mit Inaugenscheinnahme ihrer Vagina bei der Beantwortung der Frage behilflich sein, ob sie noch Jungfrau ist? Wer würde mit einer Nachbarstochter, die im selben Haus wohnt, zusammen in die Badewanne steigen? Herr A. hat das getan, „denn die Z. hatte ihre Mutter gefragt, nachdem ich Nein gesagt hatte.“ Die Mutter der Z., sagt A., habe es dann erlaubt, „und ganz ehrlich: da wollte ich mich nicht quer legen.“

Das muss man verstehen

Dasselbe Mädchen war es auch, die A. gewissermaßen angemacht hat. Die spielt an sich herum – da kann A. nicht an sich halten. „Man ist ja auch nur ein Mann.“ Auf die Frage, wer denn die Schuld trage, sagt A., er wolle die Schuld nicht von sich weisen, „aber ganz ehrlich: was sollte ich denn machen?“ Das muss man verstehen, scheint A. zu glauben. Er ist den Mädchen – sie sind noch Kinder – ein Unterstützer: Er hilft ihnen ins und durchs Leben. Das sagt er so nicht – aber es fühlt sich so an. A. ist – mal ganz ehrlich – ein Opfer? Natürlich ist er Täter. Die Y. lernt er kennen, als er sie von Kleve aus nach Rees befördert. A., der Busfahrer, unterwegs für ein Taxiunternehmen. Y., so erfährt man, ist ein Pflegekind. Sie ist geistig zurückgeblieben. A. – selber „Sonderschulabsolvent“ und Legastheniker – sieht das anders: „Die hatte mehr drauf als ich.“

Auf Video

Y. fährt regelmäßig in A.s Bus. Man lernt sich kennen und irgendwann zeigt die Y. dem völlig überraschten A. ihre Brüste. Natürlich sagt er ihr, dass das nicht geht. Später kommt es zum Verkehr zwischen ihr und dem Busfahrer. Manches wird auf Video festgehalten und später – im Rahmen einer Wohungsdurchsuchung – sichergestellt. Eigentlich hatte A. die Filme gelöscht, aber wie das so ist mit der Technik: Manches lässt sich wiederherstellen, wenn die „Vernichtung“ nicht gründlich war.
Auf Rechnern, Notebooks und Festplatten finden sich hunderttausende Bilder. A. weiß nicht, wie diese Bilder zu ihm gekommen sind. Irgendwann waren sie auf seinem Rechner. Er war Mitglied in einer Internet-Tauschbörse. „Wieso sind Sie nicht zur Polizei gegangen, als die Bilder auf Ihrem Rechner auftauchten?“, fragt die Vorsitzende. „Ich bin da ganz ehrlich: Die Tauschbörse war vielleicht nicht ganz legal und ich wollte keinen Ärger.“ A. ist noch einmal ganz ehrlich: „Ich habe das alles gelöscht, aber irgendwann waren die Bilder wieder da.“
„Aufgeflogen“ ist A., weil eines der Mädchen sich einer Freundin anvertraute, die dann der Mutter davon erzählte. Das zweite Opfer wurde aufgrund des Videomaterials gefunden. A.s Fall: wieder einer der Klassiker. Die Mutter der Z. sagt aus, sie habe A. vertraut. Seinem Opfer Y. – A. brachte sie regelmäßig von Kleve nach Rees – soll A. gedroht haben, er werde ihren (Pflege)Eltern schlimme Dinge über sie erzählen. Dass das Mädchen zum Tatzeitpunkt keine 16 Jahre alt war, will A. nicht gewusst haben. „Ich dachte, die war 16“, sagt er und irgendwie vermisst man das „ich bin da ganz ehrlich“.

Kein Geständnis

A. stellt die Dinge anders dar als seine Opfer – findet keinen Weg ins Gestehen. So kommt es, dass die Mädchen – mittlerweile junge Frauen – aussagen müssen: immerhin unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Ohne die Öffentlichkeit werden auch die Videos gezeigt, die man bei A. gefunden hat. Da sitzt, denkt man, einer, dem das Unrechtsbewusstsein abhanden gekommen zu sein scheint. Oder hat er keines? A. ist einer, der wunde Punkte bei anderen sucht. Ein netter Kerl, möchte man meinen. Er passt in das Muster eines Unauffälligen und eben das ermöglicht Raubzüge dieser Art.

Nur eines kann stimmen

Man mag sich nicht vorstellen, was die beiden Opfer (eines sagte am ersten Tag aus) fühlen, wenn sie – keine fünf Meter entfernt von A. – zurücktauchen müssen ins Opfer-Sein. A. ist da ganz ehrlich: Nie hat er etwas gegen den Willen eines der Mädchen getan. Die Videos scheinen eine andere Version der Wirklichkeit zu zeigen. A., der Rücksichtnehmer? A., der Vergewaltiger? „Die Mädchen“, sagt die Vorsitzende Richterin zu A., „erzählen ja eine andere Geschichte als Sie.“ A. schweigt. „Fest steht: Nur eines von beiden kann stimmen“, sagt die Richterin.“