Schreibkraft
Heiner Frost

Herzangelegenheit

Auf dem Tisch im Wohnzimmer: Die Karten. Vielleicht 30 Stück sind es. Sie haben die Größe einer Bankkarte. „Es muss weitergehen!“, steht drauf – das „es“ in einem roten Herz, dem zwei Füße gewachsen sind …

Die Maske

Dass Andreas Weßling zur Begrüßung nicht Hände schüttelt: Den besonderen Umständen geschuldet. „Haben Sie eine Erkältung?“, fragt Marion Weßling. „Husten hab‘ ich schon“, sage ich. Andreas Weßling setzt die Schutzmaske auf. Er muss sorgsam umgehen mit seinem zweiten Leben. „Das ist ein Teil meiner Verantwortung“, sagt einer, der so gut wie tot war. Nein – man kann das nicht schreiben: Tot und „so gut wie“. Andreas Weßling ist 55, und dank seines neuen Herzens könnte er auch 100 werden. Weßling war selbstständiger Versiegler. Im ersten Leben. Und wenn es nach ihm geht, wird er im zweiten Anlauf genau dahin zurückkehren.

Das kriegen wir hin

Die Geschichte von Weßlings Ausnahmezustand begann 2014. Ein Gefäßverschluss in den Beinen. Wer denkt da schon an ein todkrankes Herz? Als der Arzt Weßlings Puls fühlte, stand schnell fest: Da stimmt was nicht – und zwar ganz gewaltig. Der Gefäßverschluss in den Beinen: Ein Resultat mangelnder Pumpleistung des Herzens. Das Ganze, erfährt Weßling, könnte das Ergebnis einer verschleppten Grippe sein.
Man verschreibt ihm Medikamente. „Das kriegen wir in den Griff.“ Trotzdem ist Weßling nicht mehr der Alte. Es geht ihm besser, aber 2016 merkt er: „Ich war schnell k.o., wenn ich was gemacht habe.“ Gründonnerstag 2017 werden Wasseransammlungen in Bauch, Beinen und Lunge festgestellt. „Ich bin zehn Meter gelaufen, dann ging nichts mehr.“

Herzstillstand

Am 3. Mai setzen sie Weßling einen Herzschrittmacher und einen Defibrilator ein. Am 8. Mai wird er entlassen. Am 12. Mai erleidet Weßling einen ersten Herzstillstand. „Ich war eine Minute lang tot“, sagt er. Am 21. Mai: Der zweite Herzstillstand. Er kommt – wieder mal – „auf Intensiv“. Im Juni: Das Endgespräch im Krankenhaus. „Wir können nichts mehr für Sie tun.“ Der Hausarzt rät Weßling, eine zweite Meinung einzuholen. Die Adresse: Bad Oeynhausen. Am 12. Juli: Der erste Untersuchungstermin. „Vorher wurde noch von zwei Optionen gesprochen: Kunstherz oder Transplantation“, erinnert sich Weßlings Frau Marion. Nach der Untersuchung steht fest: Es kommt nur noch eine Transplantation in Frage. Bei Eurotransplant in Leiden (NL) gibt es zwei Listen: Meldestatus „T“ und „HU“.
[Meldestatus T: Stabile Patienten, bei denen nicht unmittelbar und dringlich eine Transplantation nötig ist, können unter gut kontrollierten Bedingungen zu Hause auf die Operation warten. Regelmäßige Kontrollen (mindestens zwei Mal pro Jahr) im Transplantationszentrum stellen sicher, dass die medizinische Stabilität vorhanden ist. Meldestatus HU: Patienten, die in einer weiter fortgeschrittenen Entwicklung ihrer Herzerkrankung stationär behandelt werden müssen, kommen prinzipiell für eine Anmeldung als „HU“-Patient in Frage. Die erforderlichen Kriterien legt die Bundesärztekammer in den Transplantationsrichtlinien fest. Das Transplantationszentrum stellt einen Antrag an ein dreiköpfiges Gutachtergremium bei Eurotransplant, das die Voraussetzungen prüft und den Status entweder genehmigt oder ablehnt. Patienten im Meldestatus „HU“ müssen sich auf einer Überwachungs- bzw. Intensivstation des Transplantationszentrums befinden und bis zur Operation dort betreut und überwacht werden.]

Letzter Strohhalm

Weßling schafft es auf die HU-Liste – außer ihm sind noch 85 weitere Patienten gelistet. Das Warten beginnt. Längst ist Weßlings Herzleistung bei 15 Prozent. Die Transplantation: Der letzte Strohhalm. Dazu dieser Wahnsinnsgedanke, dass des einen Tod eines anderen Rettung ist. Die beiden Weßlings haben vorher nie über Transplantation nachgedacht und natürlich auch nicht über Organspende. Alles war irgendwie weit weg vom eigenen Leben. Wer auf ein Spenderorgan wartet, wird zur Nummer. Namen spielen keine Rolle mehr. Es geht um Verträglichkeiten. Voraussetzungen. Weßlings Glück: Er ist nicht übergewichtig, er raucht nicht und er trinkt nicht. „Die wollen natürlich bei einer Transplantation alle Risiken minimieren“, sagt Weßling, der in Bad Oeynhausen erlebt, dass Menschen von der Liste wegsterben, weil nicht rechtzeitig ein passendes Organ „gefunden“ wurde. Zwischenzeitlich denkt er ans Aufgeben.

Viereinhalb Stunden

Mittlerweile ist es September. Am 25. September kommt die Nachricht: Ein Herz für Weßling. Sie bereiten ihn auf die OP vor, fahren ihn „nach unten“ in den OP-Trakt. Dann stellt sich heraus: Es stimmt was nicht mit dem Herz. So müssen sich Todeskandidaten fühlen, wenn das letzte Gnadengesuch verworfen wird. Am 28. September – einem Donnerstag – wird Weßling zum zweiten Mal in den OP gefahren und viereinhalb Stunden später schlägt ein anderes Herz in seiner Brust. Das neue Leben. Der Weg zurück. Und immer ist da auch der Gedanke, dass, während die Weßlings ihr Glück kaum fassen können, irgendwoanders eine Familie unendlich trauert. „Das ist meine Verantwortung“, sagt Weßling. Es geht um sein neues Leben. Marion Weßling sagt, dass sie all die Hilflosigkeit der letzten Jahre nur überwinden konnte, weil viele Menschen geholfen haben. „Das Schlimme ist doch, dass man nichts tun kann.“
Vielleicht doch. Zumindest jetzt: Die Weßlings machen Organspende zum Thema. Sie sind keine wilden Missionare, aber sie sprechen über Organspende. „Und natürlich haben wir Organspenderausweise hier.“ Da liegen sie: Es muss weitergehen! Andreas Weßling sagt: „Wenn es um dieses Thema geht, gibt es am Ende nur ein Ja oder ein Nein. Ich respektiere jeden, der Nein sagt, aber ich habe Probleme damit, wenn Menschen sich Ausreden suchen.“ Ich stecke eine Karte ein. „Ich weiß nicht, ob ich unterschreiben werde“, sage ich, „aber ich werde nachdenken. Mehr kann ich nicht versprechen.“ Andreas Weßling wird demnächst in die Reha gehen und wenn Träumen erlaubt ist, denkt er daran, irgendwann seinen Betrieb wieder zu leiten. Hölle war gestern. „Ich bin kein religiöser Mensch“, sagt Weßling, aber da gibt es diesen kleinen Engel, den er von einem Sohn von Marions Freundin geschenkt bekam. Weßling hat den Engel überall dabei gehabt. Der Engel sitzt neben einem kleinen Herz, auf dem steht: „Halt die Ohren steif!“