Schreibkraft
Heiner Frost

Herr A. schüttelt den Kopf

Zeichnung: Lena Frost

Herr A. weiß von nichts. Immer wieder schüttelt er den Kopf – sagt: „Ich verachte das zutiefst.“ Kann sein. Kann nicht sein. Vielleicht bringt die Hauptverhandlung Klarheiten. Das wäre dann der Idealfall. A. ist wegen Besitzes und Verbreitung kinder- und jugendpornografischen Materials angeklagt.


„Mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren wird bestraft“ … so beginnt der Paragraph 184b des Strafgesetzbuchs „Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Inhalte“ – in Kraft getreten am 16. Juni 2021. Für A. gilt noch der alte Strafrahmen: drei Monate bis fünf Jahre.

36 Fälle

Hier und heute geht es um 36 Fälle. Später werden Staatsanwalt und Richter sagen, das sei – gemessen am Großenganzen – eher wenig. Man hat auf A.s Laptop und Smartphone Dateien gefunden: tausende. Der Staatsanwalt verliest die Anklage und wieder einmal werden Dimensionen greifbar: Es sind Gebiete eindimensionaler Grausamkeit. Grausamkeit beginnt nicht beim Schlagen und sie endet nicht bei äußeren Verletzungen. Wenn man hört, was erwachsene Menschen Kindern antun, fragt man sich, wie ein Mensch einen anderen derart übergehen kann, um das eigene Wohlbefinden zu steigern. Kinder, die penetriert werden, wo immer sich Öffnungen finden – Kinder auch, denen … nein, das lässt sich nicht schreiben …

Gehackt

Man hat tausende Dateien auf A.s Datenträgern gefunden und er sitzt da und weiß von nichts. Ist A. ein dreister Lügner? Ist er einer, der sich der eigenen inneren Wahrheit nicht zu stellen imstande ist und daher sein Heil im Leugnen sucht? Da sitzt er kopfschüttelnd und man weiß nicht, ob er sich selber nicht ertragen kann, oder ob um das geht, was man ihm vorwirft.„Ich weiß nichts von diesen Dateien“, sagt er. Irgendwann habe jemand seinen Google-Account gehackt. Das müsse es sein. Juristen vermessen eine Tat – es geht um Kleinstareale: Alles muss vermessen und mit dem Gesetz synchronisiert werden. Die Vermessung der Anklageschrift ergibt, dass A. eine „Verbreitung“ des Materials nicht nachgewiesen werden kann. Möglich, dass er Daten „in die Cloud geladen hat“ – möglich auch, dass der Upload ein Automatismus war. Längst ist eine Technik am Werk, die vom Normalsterblichen kaum durchschaut werden kann. Vielleicht hat A. an einer Stelle ein Häkchen gesetzt, ohne sich über die Folgen im Klaren zu sein: Daten könnten in die Cloud geladen worden sein: Sicherheitskopien. Es sieht nicht so aus, als habe A. das Material anderen zur Verfügung gestellt.

Keine Verbreitung

A. hat – das sagt auch der Staatsanwalt, die Daten nicht nachweislich verbreitet. Aber: Er hat sie besessen. A. hat das zugegeben. Was hätte er denn auch sagen sollen: Bilder und Videos auf seinem Laptop – auf seinem Smartphone. Juristen sprechen von einem Teilgeständnis.

Premiere

A.s Richter hat seinen ersten Tag am Amtsgericht. Eine Premiere also. Er sei, sagt der Richter, ein Freund offener Worte. Vielleicht könne sich ja der Verteidiger nochmals mit seinem Mandanten beraten und mit dem über ein Geständnis sprechen. Derlei wirke sich bekanntlich strafmildernd aus. Schnell wird klar: Ein totes Gleis. A., sagt, er habe nichts zu gestehen – nichts, was er nicht bereits zugegeben habe. Es taucht nun die Frage auf, ob jemand etwas besitzen kann, ohne von der Existenz des Besitzes etwas zu wissen. Können sich also Daten auf A.s Laptop/Smartphone befinden, von deren Existenz er nichts weiß?

Ein Alptraum

Nachträglicher Anruf beim Fachmann: Ja, das sei durchaus möglich. Jemand hackt einen Account, setzt einen Trojaner ein. Dann wird es kompliziert – ändert aber nichts daran, dass so etwas möglich wäre. Ein Alptraum, wenn man das ins eigene Leben transplantiert: Plötzlich schellt es an der Tür. Da steht die Polizei mit einer Durchsuchungsanordnung und dann erklärt dir einer, man habe auf deinem Rechner kinderpornografisches Material entdeckt …

Eine nicht gestellte Frage

In A.s Fall befinden sich in einem Ordner für persönliche Bilder zahlreiche belastende Bilddateien, die zweifelsohne nicht dahin gehören. Wenn ein Dritter belastendes Material auf einem fremden Laptop/Smartphone lagern wollte – warum dann ausgerechnet in einem Ordner, wo sein ‚Opfer‘ größte Chancen hätte, sie schnell zu finden? Die Frage, die eigenartigerweise niemand stellt: Wann ist A.s Konto gehackt worden und wann sind Bilder und Videos auf sein Smartphone gelangt? A. jedenfalls bleibt dabei: Er hat nichts zu gestehen. Er schüttelt weiter den Kopf.

Vielleicht

Er schüttelt ihn auch beim Plädoyer des Staatsanwalts. Eine Verbreitung des Materials, sagt der, sei A. nicht nachzuweisen. A.s Einlassung, er wisse nichts von der Existenz des Materials, müsse allerdings als Schutzbehauptung gesehen werden. Immerhin sei A. ein Mann ohne Vorstrafen – ein Mann auch, der zumindest ein Teilgeständnis abgelegt habe. Auch strafmildernd: die relativ geringe Anzahl von Taten. Ergebnis: Zehn Tagessätze für jede der 36 Taten. Tagessatzhöhe: 10 Euro. Der Verteidiger sieht es anders. Freispruch für den Mandanten. Die Vorwürfe: nicht erwiesen. A. schließt sich dem Antrag seines Anwalts an. Er hat nichts gewusst von diesen Dateien.
Der Richter folgt am Ende dem Antrag des Staatsanwalts. 36 mal 10 Tagessätze à 10 Euro, die nicht einfach aufaddiert, sondern zu einer Gesamtstrafe zusammengezogen werden: 2.100 Euro wird der kopfschüttelnde A. zahlen müssen – Laptop und Smartphone werden eingezogen.
A. kann gegen das Urteil Berufung einlegen. Warum, denkt man, sind die Daten zu den Dateien nicht verglichen worden? Vielleicht hätte sich etwas daraus ergeben – zugunsten von A. oder zu Lasten.