Schreibkraft
Heiner Frost

Hausbesuch

Wikipedia: Stalking, juristisch Nachstellung ist das willentliche und wiederholte (beharrliche) Verfolgen oder Belästigen einer Person, deren physische oder psychische Unversehrtheit dadurch unmittelbar, mittelbar oder langfristig bedroht und geschädigt werden kann. Stalking ist in vielen Staaten ein Straftatbestand und Thema kriminologischer und psychologischer Untersuchungen.
Die offizielle präventivpolizeiliche Definition in Deutschland lautet: Das beabsichtigte und wiederholte Verfolgen und Belästigen eines Menschen, so dass dessen Sicherheit bedroht und er in seiner Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt wird.

Alte Hüte?

Früher musste man das Haus verlassen, um das Leben der anderen zu betreten. Heutzutage hält das Virtuelle Ersatz bereit und bringt eigene Früchte hervor, die sich benennen lassen. Sie heißen Mobbing oder Stalking. Beides funktioniert natürlich auch in der Wirklichkeit, aber die Anonymität des Netzes  vereinfacht die Jagd.
Stalking – das war (nicht nur) der Justiz vor Jahren unbekannt. Jetzt wird es verhandelt: Auch einer dieser Tatbestände, die nur Opfer erzeugen. Die einen – längst Opfer ihrer selbst und unfähig, Grenzen zu erkennen – machen andere zu Opfern mit etwas, das man nicht Liebe nennen kann. Trotzdem fragt man sich, ob das, wofür uns neue Worte angeliefert wurden, nicht eigentlich nur alte Inhalte sind. Wurde nicht immer schon gemobt oder gestalkt?

Nichts Neues

Anders gesagt: Stalking ist eine Form der Besessenheit, von der man sicher sein darf, dass sie keine Erfindung unserer Tage ist. Früher wurde anders gestalkt. Vor allem nannte man das, was heute hier verhandelt wird, nicht Stalking. Die Menschen, denen Annäherung im Virutellen keine Probleme bereitet, verlassen irgendwann die Umlaufbahn der Vernunft und werden zu obsessionsgesteuerten Satelliten ihrer selbst. Die Presse ist eingerückt. Kameras sind auch da – dabei ist im Vorfeld nicht einmal gemordet worden. Trotzdem: Das große Berichterstattungsbesteck. Was darf man erwarten? Das Schlüpfrige? Das Dringliche? Das Unaufschiebbare? Das von Erotik Gerahmte? Ein Thema als Lockruf. Schon denkt man, dass nur Frauen die Opferrolle einnehmen – dass nur Männer zum Erzwungenen neigen. Aber hat man nicht auch schon viel von der emotionalen Hartnäckigkeit der Frauen gelesen, die sich einen Mann zum Ziel nehmen? Der Prozess ist ein Sprungbrett ins Fragen. Er lotet die Grenzen zwischen Vorstellung und Realität, Wunsch und Handlung, Begehren und Zurückweisung aus.
Hier sitzt so ein fast Bubenhafter, der das Bremsen nicht geschafft hat und dem nichts Dämonisches anhaftet. Einer von denen, die denken, dass alles doch gar nicht so schlimm ist. Was sie da tun – was sie anderen antun und letztlich auch sich, hat etwas rauschhaft Entgleitendes. Dieser Täter hat die Freiheit verloren und verbringt seine Zeit in einer Klinik. Ob er ein Problem hat mit sich, scheint er noch nicht wirklich erforscht zu haben.
Richter: »Würden Sie sagen, dass bei Ihnen psychisch alles in Ordnung ist?«
Angeklagter: »Ich bin zurückhaltend.«
Richter: »Was ich meine, ist Folgendes: Es gibt Menschen, die ein psychisches Problem haben und darunter leiden. Es gibt Menschen, die nicht darunter leiden. Es gibt auch solche, die gar nicht wissen, dass sie ein Problem haben.«
Angeklagter: »Ich leide nicht.«
Richter: »Müsste man mal nach den Ursachen schauen?«
Angeklagter: »Ich sehe ein, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich habe die Konsequenzen unterschätzt.«
Man muss sich die Antworten des Angeklagten zurechtdenken. Verstehen im akustischen Sinn kann man sie nicht. Die Akustik im Saal A 105: Eine Frechheit.

Der Angeklagte hat eine besondere Art, die Welt zu sehen.
Richter: »Sie haben sich um Lehrstellen bemüht.«
Angeklagter: »Ich habe viele Bewerbungen geschrieben.«
Richter: »Und?«
Angeklagter: »Die meisten hatten keinen Erfolg.«
Richter: »Also gab es welche, die Erfolg hatten?«
Angeklagter: »Eigentlich nicht.«

Wie es war

Ein junger Mann lernt eine junge Frau kennen. Die beiden chatten. Er verliebt sich. (Was man so Liebe nennt …) Es gibt Menschen, die sich in Gegenstände verlieben. Andere begeben sich in die Einsamkeit, weil sie längst Verstorbene auf den Sockel des inneren Begehrens stellen. Nichts Besonderes. Wir leben in aufgeklärten Zeiten. Dieser junge Mann allerdings macht sich irgendwann aus seiner Heimat (Husum) auf den Weg nach Kalkar, um dem Objekt seiner Begierde gegenüberzutreten. Endlich. Blumen hat er nicht dabei. Wohl aber eine Machete. Längst vorher hat es gerichtliches Einschreiten gegeben. 90 Tagessätze musste der junge Mann zahlen, weil er nicht einzusehen in der Lage war, dass all sein Begehren auf einer Einseitigkeit beruhte. Nähere er sich der jungen Frau, so hatte das Gericht verfügt, werde ein Ordnungsgeld fällig. Papier ist geduldig.
Der Mann fährt trotzdem nach Kalkar. Ohne Blumen, ohne Pralinen. In der Hosentasche eine Sturmhaube, im Gepäck die Machete. Zwei Tage sieht er sich das Städtchen an, bevor er zum Haus der jungen Frau geht. Mit einem Trick gelangt er hinein. Eine Frau, die gerade klingelt, wird ihm zum Schlüssel. Eine Kamera vor dem Haus hat alles aufgezeichnet. Vor Gericht ist nach der Vernehmung des jungen Mannes ein Stummfilm zu sehen, der – in ruckhaften Bewegungen – das Drumherum der Tat sichtbar macht. Das Davor. Das Danach. Auch sieht man einen Strauch vor dem Eingang. Der Strauch sieht irgendwie aus wie ein zum Trocknen aufgehängter Hirtenhund oder ein Flokati.
Der Angeklagte: Aussagewillig. Leider versteht man kaum einen seiner Sätze. Irgendwann fragt der Vorsitzende: »Nachher wird ja auch das Opfer aussagen. Werden Sie sich dann benehmen?« Die Antwort könnte in eine Richtung gehen: »Ich möchte ihr sagen, dass es mir leid tut.« Könnte. Was soll man schreiben über das Unverstehbare. Und die Geschichte? Sie geht – laut Pressespiegel – wie folgt vonstatten:
Der Angeklagte soll sich als sogenannter „Stalker“ betätigt haben. Seine Tätigkeiten richteten sich gegen eine junge Frau, die im Haushalt ihrer Eltern in Kalkar lebte. Der Angeklagte war bereits im Mai 2016 durch das Amtsgericht Kleve wegen Bedrohung zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil er sein Tatopfer über das Internet mit dem Tode bedroht hatte. Das Amtsgericht Kleve hatte dem Angeklagten zudem jegliche Kontaktaufnahme zu der jungen Frau verboten.
Trotzdem soll der Angeklagte per Internet u.a. gedroht haben, sein Opfer „aufzuschlitzen“. Am 13.07.2016 soll er sich sodann von seinem über 500 km entfernten Wohnort aus nach Kalkar begeben haben. Hierbei führte er eine Machete mit sich, um seine zuvor ausgestoßenen Todesdrohungen in die Tat umzusetzen. Er drang in das Haus seines Tatopfers ei  n. Dort traf er auf sein Tatopfer und deren Mutter, die er in Todesangst versetzte und im Gerangel leicht verletzte. Den beiden Frauen gelang es dann jedoch, den Angeklagten unter Einsatz einer Gaspistole aus dem Haus zu drängen. Der Angeklagte verlangte weiterhin Einlass in das Haus, um seine Tat vollenden zu können. Er konnte jedoch von den hinzugerufenen Polizeibeamten festgenommen werden.
Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens hatte der Angeklagte angegeben, die Machete habe er eigentlich nur zur Selbstverteidigung mitgenommen, da der Vater des Tatopfers ihn am Telefon bedroht habe. Die Todesdrohungen per Internet habe er lediglich verfasst, um der jungen Frau Angst zu machen, in der Hoffnung, dass sie dann mit ihm reden würde. Sie habe ihm nämlich Hoffnungen gemacht. Möglicherweise habe er das Verhalten des Tatopfers falsch interpretiert.
Zur Hauptverhandlung ist ein psychiatrischer Sachverständiger geladen, da auch die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus in Betracht kommt. Nach dem vorläufigen Gutachten des Sachverständigen war die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei der Tatbegehung aufgrund einer komplexen Persönlichkeitsstörung möglicherweise erheblich vermindert. Aufgrund dieser Störung soll nach Darstellung der Staatsanwaltschaft mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Gefahr bestehen, dass der Angeklagte zukünftig erhebliche Straftaten begehen werde.

Ein Opfer

Nach der Mittagspause: Das Opfer. Sie bleibt hinten im Saal – geht nicht vor zum Zeugenstuhl. Sie will da nicht hin. Sie wird laut reden. Das Gericht erlaubt es. So ist die Entfernung zwischen Opfer und Täter größer. Dann wird es mysteriös.

»Was machen Sie beruflich?«, fragt der Vorsitzende. »Muss ich das sagen?» »Sie könnten es vielleicht andeuten.«„Ich möchte dazu gar nichts sagen.“ Spätestens jetzt denkt jeder darüber nach, warum eine Zeugin nicht über das sprechen möchte, was sie im Leben macht.  Man muss diesen rosa Elefanten aus dem Hirn vertreiben, aber er will nicht recht Platz machen.
Die Zeugin schildert ein Angstleben. Sie schildert, dass sie noch heute ‚paranoid‘ ist. Sie wird das nicht wörtlich meinen. Sie möchte, denkt man, etwas über den Grad der Zerstörung ihres Lebens aussagen. Ob sie, fragt die Verteidigung an einer Stelle, eine Erklärung dafür habe, dass aus einem anfangs »harmlosen Chat bei meinem Mandanten ein solches Gefühl« entstanden sei. Es macht nicht den Anschein, als möchte der Verteidiger eine Art Mitschuld konstruieren. Er ist auf der Suche nach einem Grund für das Umkippen von Gefühlen. Die Zeugin spricht von einer Empathielücke. Mal googlen: Wenn Du in einem klaren, rationalen oder auch motivierten Zustand eine unrealistische Entscheidung darüber triffst, wie Du Dich in einer zukünftigen emotionalen Situation verhalten wirst, dann spricht man von Empathielücke. Ob sie das gemeint hat? Vielleicht meint sie, dass im Virtuellen mitunter schon die Abwesenheit von Ablehnung als Zustimmung interpretiert wird.
Sie ist bis heute nicht in der Lage, das Geschehene zu verarbeiten. In Behandlung hat sie sich nicht begeben. Da ist die Angst, irgendwo könne etwas zurückbleiben. Nicht das Trauma meint sie – sie meint eine Aktennotiz. Etwas, das sich in ihr Leben einträgt – etwas, das andere über sie wissen könnten.
Als sie dabei ist, den Saal zu verlassen, sagt der Angeklagte, dass ihm all das leid tut. Dass er die Sache unterschätzt hat. Auf dem Weg zur Tür sagt die, zu der kein Zugang mehr möglich ist: »Lass dir einfach helfen.«

Klage

Es ist einer der berüchtigten Klever Prozesse, die auch Berichterstatter zu Opfern machen: Wenn der Angeklagte spricht, ist vielleicht jedes 20. Wort zu entschlüsseln. Das Gericht gibt sich zufrieden: Die da vorne verstehen, was gesagt wird, oder sie können sich dank ihrer Vorkenntnisse des Falles einen Reim machen. Wer weiter hinten sitzt, ist ausgegrenzt und nimmt am Prozess nur in den Augenblicken teil, wenn das justitiare Personal sich zu Wort meldet. Es ist ein Unding. Eine Zumutung. Etwas, das seit Jahren andauert. Für neue Tische scheint es ein Budget zu geben – für das Verstehensermöglichen nicht. Man möchte sich eine riesige Ohr-Attrappe basteln und immer dann hochhalten, wenn die akustische Wüste anbricht. Sagen darf man nichts. Wahrscheinlich würde man wegen groben Unfugs des Saales verwiesen oder mit einem Ordnungsgeld belegt. Es ist ein akustischer Skandal.

Tätertränen, Richterblut

Am Ende des Tages: Ein leicht verletzter Richter. Beim Hantieren mit einer Machete hat er sich den Finger geritzt. Kann passieren. Die Machete: Ein wichtiges Requisit in einem Fall, bei dem es auch am zweiten Verhandlungstag um das Entgleisen von Gefühlen geht. Ein junger Mann fährt mit dem Auto von Norddeutschland nach Kalkar. Aus Worten sollen Taten werden. Da gibt es diese Frau, die irgendwie ins Zentrum seines inneren Sturmes geraten ist. Längst hat er ihr gedroht. Ein Urteil war ergangen. Keine weiteren Annäherungsversuche. Da setzt er sich ins Auto – die Machete hat er auch dabei …
Schon am ersten Tag hat das Opfer gesprochen und von der Zerstörung eines inneren und äußeren Lebens berichtet. Am zweiten Tag: Weitere Zeugen. Im Zentrum eine Frage: War die Machete, als der Angeklagte seinen Angriff unternahm, noch in der Scheide, oder war der junge Mann quasi mit entschärfter Waffe unterwegs?
Der Kratzer am Richterfinger macht deutlich, dass diese Frage von großer Bedeutung ist. Geklärt werden kann sie nicht. Nicht von einer Tatzeugin und schon gar nicht von Polizeibeamten, die ja allesamt nicht dabei waren als es passierte.
Immerhin gibt es Bilder einer Überwachungskamera aus dem Eingangsbereich des Hauses, aber auch sie erzählen nichts über das Kerngeschehen, das sich im Inneren abspielte. Das trifft auf das Haus wie auf die Seelen zu. Eine Polizistin sagt aus, der Täter habe sich ohne Gegenwehr festnehmen lassen. Geweint habe er und gefragt, was jetzt passieren werde. Plötzlich rücken Tränen ins Fragezentrum. Hat da ein bereuender Täter geweint – einer, der schon Tragweiten spürte? Oder waren die Tränen nichts als die (bio)logische Folge eines Schusses mit der Gaspistole, den das Opfer auf den Täter abgab und ihn dabei im Gesicht traf? Irgendwie lässt sich auch das nicht klären.
Das Gericht hat einen Gutachter bestellt. Er wird helfen müssen bei der Beurteilung innerer Umstände, Notstände, Zwangslagen – bei der Suche nach dem Weg in die Tat, den Motiven und dem, was den Täter nach diesem Prozess erwartet: Wird man ihn dem Vollzug übergeben oder wird es (nach Paragraph 63 des Strafgesetzbuches) um die ‚Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus‘ gehen, weil da jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit begangen hat?
Für den angeritzten Finger des Richter reicht ein Pflaster. Die Seelentrümmer, die eine Tat samt ihrer Vorgeschichte hinterlässt, sind nur schwer auszumessen.

Die, für die sich alles lohnt

Am Ende wohnt ein Satz im Ohr und möchte nicht mehr abreisen: „Sie ist doch die, für die sich alles lohnt.“ Der Satz: Eine Antwort. Die Frage: Gestellt vom Vorsitzenden: „Ist denn die Sache mit Ann-Christine für den Angeklagten erledigt?“ Vor der Antwort – sie stammt von einem Psychologen der Klinik, in der der Täter untergebracht ist – ein einzelnes Wort: „Nein.“
Der Angeklagte (Prozessberichterstattung ist Wiederholung) ist ein junger Mann, dessen Gefühle verrückt spielen. Vielleicht spielt der ganze Mensch verrückt. Die Frage: Fährt man – eine Machete im Gepäck – ein paar hundert Kilometer vom hohen Norden an den Niederrhein, um dem Objekt der inneren Begierde gegenüberzutreten? Es geht um Stalking – jenes Entgleisen aller Wünsche, das am Ende zur Obsession wird – zu etwas Schrankenlosem, zu etwas, das den Menschen im Zentrum des eigenen Wünschens zum Objekt degradiert und das Zuhausesein im eigenen Leben raubt.
Die, für die sich alles lohnt, sitzt, versehen mit einer Perücke, im Zuschauerraum, und der junge Mann auf der Anklagebank hat das längst erkannt. Zwei Tage ist schon verhandelt worden – umsichtig, besonnen, ausführlich. Jetzt: Weitere Zeugen. Die Schwester des Opfers und die Mutter. Sie kann nicht wirklich sagen, ob der Angeklagte Bedrohung war. Sie kann nicht sagen, ob »dieser Mann« die Tochter vielleicht nur umarmen wollte, als er – die Arme ausgebreitet – auf sie zuging. Aber sie hat sich verhalten, wie jede Mutter es getan hätte: Gekämpft hat sie. Das ist der erste Instinkt. Und wenn einer mit Machete vor der Tür steht, hört sich vernünftig an, was die Frau getan hat.

Erzählungen

Am dritten Verhandlungstag verhalten sich die Erzählungen der ersten beiden Tage synchron zu dem, was jetzt zu hören ist. Immer noch steht die Frage im Zentrum, ob die Machete beim Angriff des jungen Mannes im Futteral verstaut war oder nicht. Die Mutter des Opfers ist eigentlich sicher, dass die Machete außerhalb des Futterals war. Aber wann und wie ist das passiert? Vielleicht während der Rangelei von Täter und Mutter. Es scheint zumindest festzustehen, dass der junge Mann seinen Hausbesuch nicht mit „entsicherter Machete“ angetreten hat. Verteidiger haben in solchen Situationen einen schweren Stand. Sie müssen fragen ohne zu diskreditieren und müssen in Frage stellen ohne zu verletzen.
Im Operationssaal der Justiz arbeitet ein umsichtiges Team. Alle sind irgendwie souverän. Auch der Täter ist souverän, aber bei ihm ist es das Scheitern – das Zerschellen an der inneren Klagemauer. Niemand kann sagen, was in seinem Kopf vorgeht – welche welchen Szenarien dort auf- oder abgerufen werden.
Gutachten
Zweimal wird an diesem Tag gegutachtet. Die Richtung bleibt erhalten. Da ist einer, der irgendwie uneinsichtig scheint – einer, der sagt, die Machete habe er zum eigenen Schutz dabei gehabt. Am Telefon habe ihm der Vater des Opfers einmal gedroht. Er werde ihm »ein paar Russen schicken«. Der junge Mann: Ein irgendwie in sich Gekehrter. Wenn man ihn beschriebe, würde man fast schon beim Bild eines Opfers landen, aber: Er ist nicht Opfer. Er ist Täter. Ein Täter, »dessen Steuerungsfähigkeit bei der Tat erheblich eingeschränkt« jedoch noch vorhanden war. Ein Täter, der in sich ein hohes Risiko für einen Rückfall trägt. So jedenfalls sehen es die Gutachter. Einer, »der ein Päckchen zu tragen hat, von dem wir hier nur den kleinsten Teil gesehen haben«, sagt Gutachter Jack Kreutz, vom Richter nach seiner ganz persönlichen Meinung befragt.
Welche Krater die Täter im sozialen Gefüge ihrer Opfer anrichten, wird oft nur in kleinen Gesten tastbar. Man versucht, das Bild eines Menschen zu malen, der an die Frau, für die sich doch alles lohnt, schreibt, dass er sie aufschlitzen will. Dass er vielleicht ein paar Jahre Knast absitzt, sie aber für den Rest des Lebens gezeichnet sein wird. Freunde hat er – allerdings nicht in dem Arreal, das andere die Wirklichkeit nennen. Seine Freunde findet er im Netz. Man vermutet, dass einer, der seiner großen Liebe gegenübersitzt nicht sagen würde, was hier geschrieben wurde. Andererseits spricht eines der Gutachten von einem Menschen, der »nicht mitschwingen kann«, wenn es um das Leben der anderen geht. Sozial inkompetent sei der Angeklagte. Das Handeln der anderen zu interpretieren sei er nur unterdurchschnittlich in der Lage.
Da sitzt er und hört sich an, wie er zur dritten Person wird. Niemand spricht ihn an – alle sprechen über ihn. Die Prognose: Deutlich ungünstig.
Nach dem zweiten Gutachten: Das Hypothesenballett. Was wäre passiert, wenn … Was könnte passieren, wenn …? War die Machete vielleicht nur der Wunsch, die eigene Person zu vervollkommnen und anzudeuten »Jetzt bin ich am Drücker«? Gutachten sind eine Art Orientierungshilfe für das Gericht. Am Ende urteilt nicht der Gutachter – die Kammer muss zu einem Urteil finden. Man ahnt eine Richtung, wenn vorher von einer sehr ungünstigen Prognose gesprochen wird – von einem Menschen, dem sein Verhalten nicht normabweichend erscheint. Die zuvor diagnostizierte »nicht näher bezeichnete Persönlichkeitsstörung« bietet Therapiemöglichkeiten, aber eben nur dann, »wenn der Mensch mitwirkt«. Eine Behandlung, so der zweite der beiden Gutachter, dauere in jedem Fall »sehr lange«.

Und draußen Karneval

Natürlich war es anders gedacht, vorempfunden, gewünscht. Ein synchrones Leben, in Liebe verbunden. Andere heiraten so. Aber du kannst die Liebe nicht erzwingen. Schon gar nicht, wenn dem Objekt aller Wünsche vorher das Leben geraubt wird.
Ein Jahr, sechs Monate wegen Nachstellens und Körperverletzung. Keine Bewährung. Stattdessen: Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik. Der Verurteilte: Eine Zeitbombe – einer, der die Leben der anderen in Besitz genommen und irgendwie auch verwüstet hat. Gibt es ein ‚Warum‘?
Wer einem Menschen unbefugt nachstellt, indem er beharrlich 1. seine räumliche Nähe aufsucht, 2. unter Verwendung von Telekommunikationsmitteln oder sonstigen Mitteln der Kommunikation oder über Dritte Kontakt zu ihm herzustellen versucht, 3. unter missbräuchlicher Verwendung von dessen personenbezogenen Daten Bestellungen von Waren oder Dienstleistungen für ihn aufgibt oder Dritte veranlasst, mit diesem Kontakt aufzunehmen, 4. ihn mit der Verletzung von Leben, körperlicher Unversehrtheit, Gesundheit oder Freiheit seiner selbst oder einer ihm nahe stehenden Person bedroht oder 5. eine andere vergleichbare Handlung vornimmt …
Draußen im Burghof des Landgerichts bereiten sie das Ganz Große vor. (Es ist der Tag vor Altweiber.) Drinnen geht es um das Großeganze. (Der Tag des Urteils.) Auf der Anklagebank: Ein junger Mann, der „die Frau, für die sich alles lohnt“ besucht – eine Machete hat er mitgebracht statt Blumen und Gastgeschenken. Längst vorher ist er für eine ganze Familie zum Besatzer geworden. Es könnte – laienhaft gesprochen – in dieser Verhandlung um Einbruch und schweren Raub gehen. Da bricht einer ins Leben der anderen ein und reißt es an sich: 30 Telefonate pro Tag. Bestellungen, die er im Namen der anderen aufgibt. Die müssen beweisen, dass sie es nicht waren. Sie müssen es dem Pizzaboten beweisen und dem Onlinehändler. Alles das – sagt die Mutter des Opfers als Nebenklägerin bei ihren letzten Worten – nur eine Art Vorhof zur Hölle. Die Hölle ist das Unbekannte. Da ist einer, von dem sie alle nicht wissen, wer er ist, wie er aussieht, was er tun wird. Ein Nebel drückt ihrer aller Leben nieder. Unaushaltbar eigentlich.
Ein Gericht muss Wege in die Tat finden und im Anschluss Wege in ein Urteil, dass nicht die Strafe ins Zentrum stellt, sondern Wiederherstellung. Eine Familie, die ins Leben zurück möchte – in ein Leben ohne Angst und Vorsichtsmaßnahmen. In etwas, dass für alle anderen so normal ist, dass nicht darüber nachgedacht wird.

Angst essen Seele auf

Am anderen Ende des Geschehens findet sich der Täter – einer, dem nichts entglitten ist. Entgleiten kann doch nur, was zuvor gefasst, begriffen, besessen wurde. Hier sitzt einer, von dem man nicht weiß, ob Einsichten ins Geschehene stattfinden, ob er Herr im eigenen Leben ist und im eigenen Empfinden. Ihn zu verteidigen: Keine leichte Aufgabe. Längst hat der Staat zwei Jahre und die Unterbringung beantragt, hat sich die Nebenklage angeschlossen, hat eine Mutter ihr zerhacktes Leben ausgebreitet und gesagt „dass ich hier sitze, ist für mich eine Art Therapie“. Sie ist kein Racheengel. Sie will sich etwas von der Seele beschreiben. Ihre Tochter – das Opfer – in der letzten Reihe. Immer wieder schickt der junge Mann auf der Anklagebank Blicke in ihre Richtung. Die Mutter sagt dem Täter, dass er sich behandeln lassen soll  – sie sagt es ruhig, irgendwie gefasst. Es schwingt nichts Böses in diesen Worten. Man ahnt etwas über die Qualen derer, denen hier nachgestellt wurde und man ahnt auch, dass nicht nur Getanes Menschen zerstören kann sondern das Diffuse – die Angst, die Bedrohung, die kein Gesicht hatte und keinen Namen – alles das, was nicht zu benennen ist. Man denkt an Faßbinder: „Angst essen Seele auf.“
Der Verteidiger sieht einen Entgleisten – einen, der sich Aufmerksamkeit erobern wollte. Kein Millimeter Zweifel bleibt an der Heftigkeit des Vorgefallenen. Das ‚Was‘, sagt der Verteidiger, sei geklärt, es gehe jetzt um das ‚Warum‘. Ein Mensch ohne Maß, der – das hat er am ersten Tag gesagt – das lustig fand und wahrscheinlich nicht ahnt, wie fürchterlich das wirken kann. Die Frau, für die sich alles lohnt – eine Art Star in seinem Leben. Alles ist entgleist.  Am Ende versucht der Verteidiger einen Weg in Richtung Bewährung. Ambulante Therapie, strikte Auflagen. Man kann ihm folgen in diese Sichtweise. Am Ende eines Prozesses soll es nicht um Strafe gehen – es muss um Wege zurück ins Leben gehen. Für alle Beteiligten.
Dann: Die letzten Worte. Alles tut ihm leid, sagt der Angeklagte. Er wird sich therapieren lassen, sagt er. Und dann sagt er: Er wird es für sie tun. Sie – das ist die, für die sich alles lohnt. Jetzt ahnt man, dass da einer noch immer im Traum feststeckt und ein Gefangener der eigenen Fehleinschätzung ist.
Das Gericht verurteilt: Ein Jahr, sechs Monate. (Strafen sind ein Abstraktum. Manchmal hilft es, sich vorzustellen, dass ein Urteil nicht nur Jahre und Monate auflistet sondern Wochen, Tage, Stunden, Minuten – dann wird alles unscharf.)Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik. Das Wort von der Zeitbombe wird gesprochen. Der Täter: Eine Gefahr. Der Richter wünscht alles Gute und in diesem Augenblick weiß man, dass er es meint. Alle wünschen sich, dass der junge Mann einen Weg zu sich selbst findet. Dass er lernt, wie umzugehen ist mit dem eigenen Hoffen, dem Sehnen, dem Verlangen. Dass er lernt, dass die Leben der anderen nicht einfach geraubt und beschädigt werden dürfen. Das Gericht hat alles Mögliche getan. Was tobt in dem jungen Mann? Ist das die Liebe? Draußen bauen sie den Karneval auf.