Schreibkraft
Heiner Frost

Haltestelle Rheinbrücke

Same procedure

Wie war das noch gleich? Gut Ding will Weile haben. Groß Ding aber auch. Wenn in Kleve die Firma Winkels einen Koloss auf Reisen schickt (in Wirklichkeit spricht man ja von einer Kolonne), dann sind die Nachtaktiven gefragt, und das hat seinen Grund. Wo der Koloss rollt, ist Konkurrenz auf der Straße nicht mehr möglich. Der Riese erhebt Alleinigkeitsanspruch. Allenfalls sind die Begleitfahrzeuge erlaubt, die den Weg frei machen: Ampeln abbauen, Schilder aushängen. Es hängt ja jede Menge dran — am Koloss. Nicht nur Begleitung — auch Devisen, denn: Ein Koloss kommt nie zu spät. Könnte die Regel lauten. Und manchmal ist es halt wichtig, den Konjunktiv zu haben.

Kleve, ein Montag, 21.15 Uhr. An der B 220 Richtung Emmerich stehen seit vier Tagen die Halte- und Parkverbotsschilder. Zwischen 22 Uhr und 1 Uhr, so die Schilder, wird nichts mehr gehen auf der Hauptschlagader des Klever Verkehrs in Richtung Emmerich. Wer dann noch fahren möchte, muss den Bypass nehmen. Nachts ist das kein Problem. Viel los ist nicht.  Vor dem Werkstor der Klever Firma Winkels herrscht Bombenstimmung. Alle wollen sie den Koloss auf Reisen sehen. Es sind Ferien. Da kann Paps endlich den Sohnemann mitnehmen und mal zeigen, was wirklich eine Harke ist. Diese Harke ist rund 70 Meter lang und wiegt an die 500 Tonnen. Das sind 500.000 Kilogramm. Gelagert ist der Koloss — wie jedes Mal — auf zwei Lafetten. Same procedure as every time. Alte Hasen kennen sich aus — schließlich geht hier nicht der erste Koloss an den Start. Aber, da es ja nicht jeder wissen kann: Die Lafetten heißen im Fachchinesich, das heutzutage auf Englisch stattfindet „Self Propelled Modular Transporter“. Abkürzung: SPMT. Viel Hydraulik ist im Spiel und viele Pferdestärken. 1.200 werden den Koloss in Gang halten. Schrittgeschwindigkeit ist angesagt. Jede der beiden Lafetten verfügt über einen eigenen Motorblock. Jeder der beiden Blöcke wiegt die Kleinigkeit von 8 Tonnen. (Das wird noch von Bedeutung sein.) Normalerweise beginnt das Koloss-Ballett gegen 22 Uhr. Dann öffnet sich das Werkstor, und die Technik-Prozession setzt sich in Gang. Diesmal dauert es länger. Niemand weiß, was auf dem Hof los ist, aber Hektik ist spürbar. Kann sein, dass irgendetwas bei der Abnahme beanstandet wurde. Ein Koloss wird nicht einfach so auf die Straße gelassen.

Als würden sie ein Schläfchen machen

Kurz nach elf öffnet sich das Werkstor. Längst ist die erste Ampel abgebaut — längst sind Straßenschilder, die den Weg des Riesen beengen würden ausgehängt und liegen, als würden sie ein Schläfchen machen, am Straßenrand. Längst läuft das logistische Vorprogramm des Abends: Straßen werden abgesperrt. Gegenverkehr unerwünscht. Verkehr überhaupt ist unerwünscht.  Der Koloss arbeitet sich durch die Stadt. Alles funktioniert wie am Schnürchen. Alle, die jetzt hier arbeiten, kennen das Procedere in- und auswendig. Der Riese nimmt die Kurven fast schwerelos. Dabei steckt in der Kolonne, die dereinst zur Säureproduktion in Antwerpen ihre neue Heimat finden wird, genug Potential, um ganze Häuserzeilen abzuräumen. Eine falsche Bewegung, und der Koloss fährt durch eine Hauswand wie ein Messer durch die Margarine. Es ist kurz vor Mitternacht. Der Koloss hat die neuralgischen Punkte hinter sich. Jetzt kommt die Akkordarbeit: Rund sechs Kilometer geht es (mehr oder weniger) geradeaus. Dann, kurz vor der Rheinbrücke, rechts ab. In den Rheinwiesen ist der Kolossschlafplatz. Einen Tag später geht es aufs Schiff.

Alles steht

An diesem Montag allerdings laufen die Dinge anders. Rund 100 Meter vor der Kreuzung zur Brücke geht plötzlich nichts mehr. Der Koloss steht. Alles steht. Der vordere Motorblock ist ausgefallen. Wiederbelebungsversuche enden im Nichts. Es beginnt: Der Alptraum eines Schwertransportunternehmens. Verspätungen sind nicht eingeplant. Und: Verspätungen kosten hier richtig Geld. Vertragsstrafen drohen. Die können pro Tag bis zu 5 Prozent des Auftragsvolumens ausmachen. Natürlich gibt es ‚Höhere Gewalt‘, aber ein defekter Motorblock ist etwas anderes. Wenn der Koloss zu spät eintrifft, wird Winkels in Regress genommen. Die werden sich das Geld vom Transporteur zurück holen müssen.  In Antwerpen warten sie auf das Ding. Kräne sind gemietet. Der Aufbau soll beginnen. Jede Verzögerung belastet die Konten mit Wartezeit. Noch in der Nacht werden Monteure von Mercedes angerufen. Die Notmaschinerie läuft an. Die Monteure werden kommen. Sie werden feststellen: HIer geht nichts mehr. Motorblock eins mit einem Gewicht (wir erinnern uns) von schlanken 80.000 Kilogramm muss ausgewechselt werden. Die Operation ist nicht eben einfach. Auf der Lafette ruht der Koloss. 500.000 Kilogramm. Der kann für den Motorwechsel nicht mal eben abgeladen werden. Immerhin: Der Koloss ist nicht allein unterwegs. Mit auf der Strecke: 2 Reboiler. Ebenfalls aus Lafetten. Was jetzt passieren muss: Ein Motorblock muss von der Reboilerlafette abmontiert und an die Kolonnenlafette anmontiert werden. Das wird etliche Stunden dauern. Fest steht — es ist jetzt gegen 2 Uhr morgens, dass die Hauptverkehrsschlagader Kleve-Emmerich gesperrt bleiben muss. Der Koloss kommt hier nicht weg. Haltestelle Rheinbrücke. Das Problem: Die acht Tonnen könnten normalerweise leicht mit einem Kran bewegt werden. Nach oben hin ist der Motorblock aber nicht frei, denn hoch über der Lafette ruht der Koloss. Der Motorwechsel wird zum Geduldsspiel. Geduld zu haben, wenn es um Geld geht, um viel Geld, ist nicht eben einfach, aber: Es hilft alles nichts. Die Stunde der Tüftler hat geschlagen. Und die zerbechen sich die Köpfe. Der Motorwechsel wird eine Mischung aus Schieben und Heben werden müssen. Zentimeterarbeit. Mit einem Motorwechsel allerdings ist es nicht getan, denn: Was jetzt von der Reboilerlafette abgenommen wird, muss nachher wieder zurückmontiert werden, denn auch der Reboiler muss aufs Schiff. Wichtig aber ist jetzt, dass der Koloss von der Straße kommt. Längst hat sich auf dem Verkehrsbypass ein riesiger Rückstau gebildet. Murphy hat seine Finger im Spiel. Was schief gehen kann, geht schief. Auch hier. Gerade wird auf der Bypassstrecke ein neuer Kreisverkehr gebaut. Eine Ampel ist installiert, da die Straße nur einzügig befahrbar ist.  Auf dem Bypass läuft morgens — so ganz nebenbei — ein Großteil des Schwerlastverkehrs, der die Strecke als Abkürzung und Mautersparnis nutzt. So geht ein Verkehrsinfarkt. Wenn der Rückstau das Stadtzentrum in Kleve erreicht hat, platzen die Adern. Gegen 12 Uhr mittags haben es die Experten geschafft, den Motorblock zu wechseln. Als die Lafettenmotoren anspringen, erwacht der Koloss zum Leben. Es geht über die Rheinbrückenkreuzung in die Rheinwiesen. Längst wartet das Schiff. Längst wartet der Großkunde. Längst scharren die in ihren Büros die Anwälte mit den Hufen. Das interessiert die Männer in den Rheinwiesen nicht. Für sie ist das unmittelbare Ziel: Kolonne und Reboiler müssen auf das Schiff. Möglichst heute noch. Die ‚Haltestelle Rheinbrücke‘ hat sich erledigt.