Erstens
Was ist schon ein Think-Tank? Eine Ideenschmiede. Vielleicht. Und so viel ist sicher: Ideen sind in Köpfen verortet – nicht notwendigerweise in Metropolen. Provinz findet da statt, wo sie hingedacht wird. Ist Haldern Provinz? Never. Dafür wird hier zu viel nachgedacht über die Mechanik der Gesellschaft.
Natürlich ist Haldern mehr als einmal im Jahr „Haldern Pop“. Wenn die Gäste abreisen, bleibt ein Dorf zurück. Trotzdem ist Haldern Pop längst das, was man einen integralen Bestandteil der Dorfidentität nennen könnte. Haldern Pop ist ein Musikfestival, aber man muss begreifen, dass Musik mehr sein kann als die Addition von Tönen. Musik und wie man mit ihr umgeht, ist immer auch eine Aussage über den Zusammenhalt des Gefüges, in dem die Töne leben – aus dem sie entspringen. Musik ist wie ein Bild: Sie existiert erst durch Wahrnehmung. Dass Töne längst zu einer Bewusslosigkeitstapete geworden sind, die nicht mehr wahrgenommen wird, weil sie allgegenwärtig ist, steht in einer anderen Partitur.
Vielleicht ist das Haldern Pop ein Versuch, die Töne vor der Bedeutungslosigkeit zu retten. Ein Festival, das in der Lage ist, einerseits Geschichte zu sein und andererseits zu schreiben, muss am Ende der richtigen Gedanken stattfinden. Oder: Am richtigen Ende des Denkens. Wer bestehen will, muss sich auch verweigern können und nicht einfach nachgeben. Verweigern? Dem Wachstum haben die Macher des Haldern-Pop eine Absage erteilt. In Haldern folgen sie nicht den Trends – hier werden sie gemacht.
Wer mit Stefan Reichmann spricht, der von Beginn an einer der Hauptmotoren ist, findet einen, der sich natürlich mit dem Festivalmachen auskennt wie kaum jemand sonst, aber Reichmann ist eben auch einer, der mit Begriffen wie „Zuhause“, „Vertrauen“ und „Zuversicht“ arbeitet. Um eben diese Begriffe geht es auch beim Haldern Pop 2017. „Wir investieren hier seit über 30 Jahren in Kunst“, sagt Reichmann. Aber mit dem Investieren ins Unsichtbare ist es so eine Sache. Am Aktienmarkt fragt niemand danach, aber wenn es um Musik geht … Die Halderner haben, das bestreitet längst niemand mehr, über die Jahre eine Marke etabliert – eine, die so viel Kundenvertrauen bindet, dass alljährlich fast alle Festivalkarten vergriffen sind, bevor überhaupt bekannt ist, wer auftreten wird.
Natürlich braucht man Geld, um ein Festival wie Haldern Pop auf die Beine zu stellen, aber letztlich geht es nicht um das Geld – es geht um die Bereitschaft, die eigene Energie einzusetzen. „Eins ist sicher: Das Festival lebt zu einem großen Teil von der Energie der Menschen, die das alles hier organisieren“, ist Reichmann sicher. Das Geld ist gewissermaßen die Hardware – die Haldern-Software ist das Konzept, die Energie. Die Energie, die gebraucht wird, um Haldern Pop allfährlich neu zu erfinden, lässt sich nicht in Batterien speichern – sie muss wieder und wieder neu erzeugt werden.
Wirft man einen Blick auf die drei Begriffe „Zuhause“, „Vertrauen“, „Zuversicht“, fällt eine Verbindung zum Schützenwesen auf, wo es um „Glaube“, „Sitte“ und „Heimat“ geht. Es geht auf beiden Seiten um das Bewahren. Und nicht nur das: Die Frage muss erlaubt sein, ob ein Festival und ein Schützenfest zwei Seiten im Sinne eines Gegensatzes herstellen. Wahrscheinlich nicht einmal das. Es geht um die Annäherung ans Gegenwärtige mit Unterstützung des Gewesenen. Nicht weniger. Wenn Stefan Reichmann das Triptychon „Zuhause – Vertrauen – Zuversicht“ ins Spiel bringt, geht es in gewisser Weise um einen Akt der Entfesselung mittels Anbindung. Das klingt paradox, aber das Bild eines Drachens löst den Widerspruch auf. Nur, wenn der Drachen mittels Schnur „geerdet“ ist, kann er sich am Himmel halten.
Es gibt nicht wenige Festivals, die quasi „Designprodukte“ sind – markenorientierte Verkaufsveranstaltungen, die ihren Kunden die „Angst“ vor dem Unbekannten nehmen, indem sie nur auf das jeweils Bekannte setzen. Alles findet in engen Grenzen statt. Wer Heavy Metal möchte – um nur ein Beispiel zu nennen – kann sicher sein, am Ende auch nichts anderes geliefert zu bekommen. Festivals von diesem Zuschnitt boomen.
Haldern Pop ist irgendwie ein sich selbst in Frage stellendes Gegenteil. Da singt Cantus Domus aus Berlin in der Kirche Renaissancemusik, während Kate Tempest auf der Hauptbühne die Welt aus den Angeln schreit. Wer sich die 65 Acts des Haldern Pop 2017 anhört, wird an seine Grenzen geführt, denn die Halderner bringen es fertig, die Bandbreite auszureizen.
Und was soll das mit „Zuhause“, „Vertrauen“ und „Zuversicht“ zu tun haben? Eine ganze Menge, denn das Sich-Einlassen auf eine solche Mischung setzt Vertrauen voraus. Vertrauen aber fällt immer dann leicht, wenn es ein Zuhause gibt, und ein Zuhause ist der Ort, an dem auch die Zuversicht wohnt. Das ist der Halderner Dreisprung.
Heimat und Vertrauen sind ein irgendwie unzertrennbares Paar. Stefan Reichmann: „Früher bist du zum Metzger im Dorf gegangen. Da ging es um Qualität. Der konnte nicht einfach was Schlechtes liefern, denn es gilt: Man trifft sich immer zwei Mal.“ Heute, in Zeiten des Globalen, sind Zuständigkeiten längst verwischt. Das erzeugt diffuse Ängste, denn mit dem Verlust von Zuständigkeiten kommt ein Anwachsen der Unsicherheit. Stefan Reichmann: „Am Ende wird dann die Welt über Geld definiert. Das kann es nicht sein.“
Beim Haldern Pop geht es – siehe oben – um Investition ins Vertrauen. Das alles scheint wenig mit Musik zu tun zu haben, aber ein Festival, das sich 34 Jahre hält, kann keine Ansammlung von Fehlentscheidungen sein. Ganz im Gegenteil: In Haldern scheint die Festival-Politik zu stimmen, aber es geht – über Kurz oder Lang – auch um die Frage der Zukunft. Soll das Festival einst zur Randnotiz in den Geschichtsbüchern werden, oder hat es das Zeug, Leuchtturm zu sein?
Längst hat sich das Haldern Pop von der grünen Wiese, auf der alles seinen Anfang nahm, in den Dorfkern ausgebreitet. Gespielt wird in der Pop Bar, in der Kirche und neuerdings auch im Jugendheim. Dass Haldern Pop Kirche und Kneipe nutzt, stellt eine Verbindung zum Schützenwesen dar. Die beiden Ks haben von jeher Schaltstellencharakter. Zuversicht findet nicht durch Ausklammern statt – Zuversicht lebt von der Umarmung all dessen, was da ist. Das – gewinnt man den Eindruck – ist ein Teil des Programms beim Haldern Pop.
Solange ein Austausch von Energien stattfindet, muss sich niemand Sorgen machen. Haldern Pop – das gilt es zu begreifen – ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Vergangenheit zu haben, ist längst keine Legitimation für Zukunft. Solange Haldern Pop in der Gegenwart des Denkens stattfindet, bleibt die Chance auf die Zukunft erhalten.
Was über die Jahre entstanden ist, muss verstanden werden – sich auswirken auf das noch zu Denkende. 2017 ist ein Jahr der Museumsgeburtstage. Das Museum Kurhaus Kleve feiert, und beim Museum Schloss Moyland ist es nicht anders. Haldern Pop allerdings ist älter und während beispielsweise in Moyland das Klagelied von der Unterbesetzung und -finanzierung gesungen wird, hat sich das Haldern Pop (weitesgehend) subventionsfrei (oder sollte man sagen subventionsbefreit) einen Marktplatz erobert. Die Energie ist eine andere. Die Halderner haben keine Verpflichtungen – sie machen ihr Ding. (Natürlich sieht die Wirklichkeit an manchen Stellen anders aus, aber Haldern Pop zeigt, dass Unabhängigkeit das höchste Gut ist.) Natürlich muss auch ein Festival wie Haldern Pop in der realen Welt bestehen – muss wirtschaftlich sein und bleiben, aber in den Köpfen der Macher wird Wirtschaftlichkeit – möchte man meinen – anders buchstabiert. Wahrscheinlich würde das Festival sich genau dann abschaffen, wenn mit einem Mal Kreativität in Sachen Geld keine Rolle mehr spielte, weil sich ein Sponsor das gesamte Festival ins Kulturportfolio packen und es damit der Mechanik der Unterhaltungsindustrie unterwerfen würde. Niemand müsste mehr aus der Not eine Tugend machen. Natürlich ist Not das falsche Wort. Haldern hat immer von der kreativen Energie gelebt, die sich niemandem beugen musste außer den eigenen Ansprüchen. Haldern ust kein Wunderding – keine Überraschung. Und doch widersteht das Festival einer vorschnellen Erfolgsanalyse. Die Macher erlauben sich Verrücktheiten, von denen jeder Betriebswirtschaftler abraten würde – im Vorhinein. Nachher sehen viele Dinge freilich anders aus.
Man stelle sich die Reaktionen eines Vorstandsgermiums oder Vereinsvorstanden vor, wenn sie mit der Idee konfrontiert würden, einen Chor aus Berlin zu einem Pop-Festival einzuladen und noch dazu in einer Kirche auftreten zu lassen. in Haldern werden Ideen dieser Art umgesetzt. Wenn du nichts zu verlieren hast (weil es Freiheit gibt), bleibt am Ende nur Gewinn – Gewinn an Erfahrung, wenn es nicht klappt oder Gewinn an Spaß, wenn sich herausstellt, das die Kirche bei einem A-Cappella-Konzert mit Musik aus Renaissance und Neuzeit plötzlich aus den Nähten platzt. Haldern Pop ist kein Wunder – aber der Beweis, das Mut und Vertrauen etwas bringen können, das in Datenbanken nicht abrufbar ist.
Zweitens
Vielleicht ist die Welt mehr als ein Selfie. Vielleicht ist noch nicht alles gesagt. Vielleicht ist die Welt mehr als ein Chat. Vielleicht sollten wir uns auch über andere definieren und nicht die anderen über uns. Vielleicht also ist die Welt ein Gespräch, ein Dialog – eine Unterhaltung. Vielleicht ist die Welt mehr als die Mitteilung darüber, was wir gerade gegessen haben, in welchem Zug wir gerade sitzen, wohin wir gerade unterwegs sind. Vielleicht ist die Welt mehr als ein Like. Vielleicht ist die Welt die Summe der Erfahrungen, die uns ins Gespräch bringen. Vielleicht ist die Welt eine VerDichtung. Vielleicht wäre es eine Verschwendung, Menschen, die etwas zu sagen haben, wort- und tonlos ziehen zu lassen. Vielleicht ist die Welt nicht nur das Großeganze. Vielleicht müssen wir die Rückreise antreten – die Heimkehr ins Kleingeteilte. Zurück an den Ort, an dem wir leben. Heimat könnte der Ort sein, wo Vertrauen und Zuversicht entstehen. Und. Das. Zuhause.
Drittens
„Na, wie war‘s?“ lautet alljährlich die Frage im Anschluss an das Haldern Pop Festival. Man spricht dann besser nicht vom Wetter. Es gibt andere Themen … Man muss das Wetter vom Festival trennen, die Gummistiefel von den Klängen, die Lieder vom Leid.
Natürlich geht es auch um Musik. Besser gesagt: Natürlich geht es auch um Themen außerhalb der Töne. „Heimat, Vertrauen, Zuversicht“ waren diesmal die Gesprächsrunden am Rande des Festivals überschrieben. Zum Reden ging es zurück an den Geburtsort des Festivals: Raum 3 im Jugendheim. Am Finaltag war dort Keith Harris zu Gast und unterhielt sich mit dem englischen Musikjournalist Richard Foster, einem der Dauergäste und -fans des Festivals. Muss man wissen, dass Keith Harris der Manager von Stevie Wonder ist? Eigentlich nicht. Und dann wieder doch. Bekanntheit verleiht Gewicht. Wer als Durchschnittsmensch die Sinnhaftigkeit der „Social Media“ in Frage stellt, hat gute Aussicht, mit (oder ohne) Nachsicht belächelt zu werden. Forster und Harris waren sich einig: Was ein Festival wie Haldern ausmacht, ist das Vor-Ort-Sein – die Kommunikation. Die Botschaft: „Festivals verändern die Leute und jeder, der zum Haldern Pop kommt, wird sich dessen bewusst. Drei Tage in Haldern können dein Denken verändern, weil sich die Wichtigkeiten verschieben.“
Eben das gehört zu den Konstanten dieses Festivals. Ginge es „nur“ um die Musik, würde ein entscheidender Teil fehlen. Selbst die, die „nur“ wegen der Musik ins Dorf kommen, erleben trotzdem das Drum und Dran und bekommen gewollt oder nicht – eine Vorstellung von Haltung, denn so viel ist sicher: Die Macher des Festivals zeigen Haltung. Keine Tageskarten. Es geht immer um das Großeganze. Was in Haldern fast schon wunderbar unter denselben Festival-Hut passt, wäre anderswo vielleicht ein Grund für den Aufstand des Publikums. Was, bitte, haben Kate Tempest und ein Berliner Chor, der morgens um 11 Uhr eine doppelchörige Messe von Frank Martin in der vollbesetzten Dorfkirche singt, gemein? Schaut man nur auf die Musik, werden Parallelen schwer auffindbar. Man muss tiefer graben – man muss die Seele treffen. Die Seele der Musiker, die Seele des Publikums. Plötzlich verschwinden Unterschiede. Nein – eigentlich verschwinden sie nicht, aber: Sie verlieren an Bedeutung, an Gewicht. Wer sich als Festivalmacher spezialisiert, bezahlt mit einem Verlust am Wunder Vielfalt. Was aber auch zu Haldern gehört ist die Entwicklung. Heute ein Festival zu erfinden, dass Haldern imitiert, muss nicht zum Erfolg führen. Es gibt Dinge, die ein Original der Kopie voraus hat. Ein bisschen ist es wie in der Kunst. Ein Original verfügt über die Energie des Einzigartigen und insofern ist Haldern Pop eine Art Gesamtkunstwerk. Verlieren kann das Festival nur dann, wenn es sich als Institution denkt und den Kampf um die Qualität als Automatismus voraussetzt.
„Das Problem mit dem Guten ist“, so Keith Harris in Haldern, „dass es oft genug das Hervorragende verdeckt.“ Natürlich, so Harris weiter, gebe es kein Rezept für den Erfolg. „Aber ich habe oft genug erlebt, dass Stevie Wonder eine ganze Nacht lang im Studio an einer einzigen Stelle eines Songs gearbeitet hat. Auf dem Nachhauseweg hat er dann im Auto ein Tape gehört, und oft genug sagte der dann: ‚Wir müssen das morgen noch mal aufnehmen.‘ Ich habe dann gedacht: Das kann doch nicht wahr sein, aber er sagte: ‚Was wir nachher auf Platte pressen, können wir nie wieder zurückholen. Wenn es einmal draußen ist, kannst du nichts mehr ändern.“ Wer als Festivalmacher die 35. Auflage plant, weil es schließlich schon 34 gegeben hat, denkt in die falsche Richtung. Man muss immer bereit sein, die Alles-Oder-Nichts-Frage zu stellen. Das hat in Haldern bisher funktioniert und man darf sich wünschen, dass es so bleiben wird. Größe hat nichts mit ständigem Wachstum zu tun, sondern damit, den Ansprüchen an Qualität zu genügen.
Die Fragestellung ändert sich nicht. Was bleibt? Haldern Pop 34 gerinnt zur Geschichte. Immer mehr scheint die Frage nach dem, was bleibt, nach einer inneren Antwort zu verlangen. Das, was bleibt, findet im Kopf statt. Tweeds und Bilder – vielleicht sogar Texte – sind am Ende nicht mehr als Datensammlungen, Bedeutungslosigkeiten. Was Haldern ausmacht, ist der Austausch. Wert entsteht immer dann, wenn Kommunikation ins Spiel kommt. Musik anzuhören reicht alleine nicht aus, wenn daraus mehr entstehen soll als ein Akt von Selbstreferenz.
Haldern – das ist auch ein Stück fester Größe – etwas, auf das man sich gleich am letzten Tag schon freut. Haldern ist bei der Abreise der Gedanke ans nächste Jahr. Ohnehin ist der letzte Tag in Haldern nicht der Samstag. Das Finale findet sonntags statt. Nachglühen im eigenen Kopf. Rückschau. Sortieren der Begegnungen. Zu Haldern gehört immer auch ein Programm der Melancholie. Die Reise zurück ins eigene Leben. Die Abreise aus dem Ausnahmezustand des Betroffenseins. Betroffensein ist mehr als etwas Bedrückendes und eine Bühne ist schneller abgebaut als die Erinnerung.