Schreibkraft
Heiner Frost

Haldern Pop 2022: Reichweiten

Der Soundtrack zur Anreise: Pat Metheny – „It’s for you“. Mehr Sommer geht nicht. Metheny spielt nicht beim Haldern Pop – schade eigentlich, aber Haldern ist nicht der Platz für die Arrivierten. Haldern ist der Platz für Ankommer – nicht für Angekommene. Haldern ist und bleibt ein Labor in Sachen Musik. Die 39. Auflage ist – da hatten die Wetterfrösche mal recht – eine Hitzeschlacht.

Anreise

Man hat seine Hausaufgaben gemacht: Im Vorfeld alle Bands aus dem Line-Up (beim Fußball wär’s die Aufstellung) bei Youtube besucht und ein Ranking erstellt: Was muss? Was kann? Was muss nicht? 65 Posten zählt man beim 2022er-Line-Up, und es ist wie immer: Mehr Bandbreite ist kaum denkbar. Es reicht von der Klassik bis zum Punk. 10.55 Uhr: Im Dorf sind Kinder mit bunten Tüten unterwegs. Richtig – es ist ja Einschulungstag. In der Kirche: Deconstructing Schubert. Der gute alte Franz wird zum Stichwortgeber minimalistischer Schwebungen zwischen Wiener Klassik und Elektronik mit Gesangstupfern. Da ist es wieder: Haldern ist irgendwie immer eine Wundertüte. Man weiß nie, was man bekommt. Natürlich bleibt der Widerspruch: Man hat’s ja vorher gegoogelt. Später am Mittag: „Husten“ auf der Marktbühne. Außentemperatur: 30 Grad. Langsam füllt sich das Dorf. Da ist sie dann wieder: die Haldern-Stimmung. Irgendwie besonders. Irgendwie unverwechselbar.

Großes Besteck

Ab 18 Uhr dann: Bespielung der Hauptbühne – das große Besteck neben dem Spiegelzelt. Kann man denn noch anreisen und auf ein Tagesticket hoffen, wenn’s in der Seele juckt? Im Pop Shop nachgefragt: „Klar. Es gibt noch Tagestickets für den Samstag.“
Aber jetzt ist Donnerstag. Es ist 15 Uhr. In der Kirche spielt Anne Müller. Irgendwie hatte man die gar nicht auf dem Zettel. Die Kirche: proppenvoll. Das liegt nicht daran, dass es so schön kühl ist im sakralen Gemäuer. Man steht hinten – kann kaum etwas sehen. Was man hört: Ein Klang von unbeschreiblich schöner Intensität. Ist da ein Orchester am Werk? Nein, Da sitzt eine einzele Frau. Sie spielt Cello: mit sich. Mit dem Raum. Mit dem Klang. Mit der Welt. Es ist wieder einer dieser Augenblicke, für die sich alles lohnt. Anne Müller liefert ganz großes Klangtheater – liefert Musik, in der man sich aufgehoben fühlt.
Und dann mal zum Reitplatz fahren. Von Weitem hört man Trommelschläge: bumbumbum – Bassdrum. Tacktacktack – Snare. Soundcheck auf der Hauptbühne. Noch ist der Platz vor der großen Bühne leer: ein Typ mit Schlauch. In einer großen Fontäne wird der Platz befeuchtet, wo in längstens einer Stunde Tausende stehen werden. Die Schlüsselworte 2022: Wasser, Schatten, Ventilator. Auf dem Platz vor dem Spiegelzelt dreht ein riesiger Trecker mit ebenso riesigem Fass seine Runden: Auch hier geht es um Feuchtigkeit. Der Boden: vertrocknet. Gras ist kaum zu erkennen.

Musiklabor

Zurück ins Dorf: „1.000 Robota“ spielen auf der Marktbühne. „Haldern ist ein tolles Festival. Wir freuen uns, dass wir hier sein können.“ Sagen sie das nicht alle? Trotzdem hat man den Eindruck: Der meint, was er sagt. Ein Festival kommt in Gang. Und nach ersten Drittel des ersten Tages bestätigt es sich: Haldern ist ein Musiklabor. Man muss nicht alles gut finden, aber: Man findet etwas. Das Haldern-Gefühl hat sich wieder eingestellt. Und wer‘s erleben möchte, kann für den Samstag noch Tickets kaufen.

Mal so, mal so

Da sitze ich: drei Kugeln Eis, Espresso, 31 Grad Außentemperatur. Es ist der Haldern-Pop-Finaltag. Eigentlich ist noch nichts passiert. Trotzdem hat die Arbeit am Nachruf begonnen. Haldern Pop, 39. 5.000 Gäste – 6.000 Meinungen. Ist das Festival im Sinkflug? Nicht ausverkauft. Ist das ein Zeichen? Hat Damokles eine Reise an den Niederrhein unternommen? Wer will das sagen? Das Herz sagt: Alles gut. Und der Kopf? Mal so, mal so. Haldern – niemand wird das leugnen – ist auch nach 39 Jahren ein Experiment: ein Experiment mit Charme. Den braucht es. Er macht einen Löwenanteil dieses Festivals aus. Oder möchte man das nur glauben? Wünscht man sich, dass es letzte Orte gibt, die man unkorrumpierbar nennen darf?

Artenschutz

Dass es da ein Festival gibt, wo Punk und Fin de siècle nebeneinanderklingen ist schon ein Wahnsinn. Dass 400 Menschen in die Kirche strömen und – vielleicht fast aus Versehen – Vivaldi hören und Purcell, Schumann und Mahler, ist Haldern-Style. Dass Mahler gehört wird, als sei es ganz normal: Haldern-Wahnsinn. Wer hat’s erfunden? Die Frage tut am Ende nichts zur Sache. Haldern, wünscht man sich, ist eine Art Antwort. Haldern Pop ist eine Kleinrevolte gegen das Diktat, das sich über die Kultur ergossen hat. Haldern ist – an guten Tagen – ein Ihrkönntunsallemal. Voraussetzung: Ihrmüsstallemitmachen. Haldern ist die Unmöglichkeit, im Strom nach der Gegenrichtung zu suchen. Haldern ist eine Art niederrheinisches Weltkulturerbe. Haldern Pop ist so lange gut, wie niemand es ausspricht. Die Revolte als Programm ist wertlos. Haldern ist eine unausgesprochene Übereinkunft des Unvereinbaren. Ein Haldern Pop vor dem Aussterben gehörte unter Artenschutz gestellt.

Obere

Trotzdem gibt es Eitelkeiten: Kulturobere diskutieren über die Kultur auf dem Lande und gehen schon mit dem Thema in die eigene Falle. Merke: Provinz findet nur im Kopf statt. Da arbeiten Panelisten ein zeitdiktiertes Subventionsvokabular ab: Nachhaltigkeit, Achtsamkeit, Einfachheit. „Das ist unser Ansatz der Öffnung: die Multiperspektivität – sowohl kunstspartenübergreifend als auch transdisziplinär und multimedial“, sagt einer und im nächsten Satz geht es um Teilhabe in Form von einfacher Sprache. Trockenes Wasser also. Seelenberaubt. Natürlich kann man Romeo und Julia in einfache Sprache transkribieren: Junge liebt Mädchen. Zivilfamiliäre Hindernisse. Haltstopp: eine unverständliche Wortschöpfung. Junge liebt Mädchen. Eltern sind dagegen. Am Schluss sterben die Kinder. Man muss ein Wort erfinden: einen Tragödienstatthalter. „Wie ist das für euch in der unmittelbaren ländlichen Nähe?“, fragt der Moderator sein Panel. Genau: Panel heißt das jetzt. Ja – es geht darum. „herkömmliche Dialoge aufzubrechen und neue Formate zu entwickeln“. Es geht darum, Reichweiten zu erzielen.

Subventionsmelkschemelhalter

Ging es nicht eigentlich um Musik? Da sitzen also vier Menschen mittleren Alters und diskutieren, warum die Jugend fernbleibt. Einzig ein Schweizer Festivalmacher wirkt authentisch. Er ist einer von denen, der sich den Weg, auf dem gewandert wird, selbst gepflastert hat. Die anderen: Subventionsmelkschemelhalter mit Aktionismuslexikon im Anschlag. Es gibt auf alles eine Antwort. Das Kulturangebot auf dieser Ebene ist, denkt man, topfgesteuert. Da gäbe es die Möglichkeit, für ein Projekt X Zuschüsse zu beantragen. Die Bedingungen sind vorgegeben. Niemand kommt darauf, einfach mal etwas auf die Beine zu stellen – so, wie sie es hier vor  fast 40 Jahren gemacht haben. Subvention schlägt Motivation. Schade eigentlich …

Miteinander

Ging es nicht um Musik? Genau. Zurück also ins Haldern-Pop-Universum: die fabelhafte Welt des Miteinander. Haldern-Pop ist irgendwie mutig. Vielleicht ist mutig das falsche Wort. Man sollte furchtlos schreiben. Das ist am Ende etwas anderes. Es geht um Unterschiede. Feinheiten. Furchtlos sind die, die immer auch das eigene Hinscheiden im Blick behalten. „Tradition ist die Bewährung des Feuers und nicht die Anbetung der Asche“, soll Gustav Mahler gesagt haben. Mahler war es auch, der Rückerts Texte vertonte. Einer davon: Ich bin der Welt abhanden gekommen. Haldern bietet Parzellen im Niemandsland – in einer terra icognita des Wunderbaren. Umgotteswillendasklingtjetztvielzuabgehoben. Haldern sollte nicht zu einem industriellen Ort verkommen. Kaum jemals hat jemand mit Haltung Geld verdient. Das tun meist die anderen. Haltung ist nicht börsentauglich.

Backstage

Haldern Pop, das merkt man im Backstagebereich, ist ein Punkt höchster Konzentration. Musiker treffen sich. Beim Essen. Bei Getränken. Zum Reden. Allianzen werden geschmiedet und bringen Worte hervor: Mehrsamkeit. Die Verlängerung des Individuellen ins Miteinander der Menge. Haldern ist und bleibt ein Leuchttürmchen. Falsch: Über das Bleiben lässt sich nichts sagen. Über das Sein vielleicht. Vielleichtsein. Im nächsten Jahr gibt’s den runden Geburtstag: 40 Jahre Haldern Pop. Darf man Besonderes erwarten? Ja und Nein. Haldern ist immer besonders. Ja also. Es kann nicht um das noch Besondere gehen. Nein also. Man bricht auf in den Finaltag. Alles ist gut. Schön wäre, wenn es so bliebe. Bleibt es nicht, ist ein Stück Erinnerungskultur entstanden. Die Geschichte fällt Urteile. Sie kommen mit Verspätung.

Après Haldern

Irgendwie ist man melancholisch gestimmt. Haldern Pop: Abreisetag. Ein Dorf atmet aus. Blechschlangen kriechen Richtung Autobahn. Irgendwo zwischendrin: eine Traktorenprozession. Nein – keine Bauerndemo sondern ein Stück Geschichtstheater. Da fahren Menschen allwöchentlich mit ihrem Schatz zu Oldtimertreffen und man fragt sich, was sie treibt? Man fragt sich, ob das Haldern-Pop auch eine Art Oldtimertreffen ist? Und wenn es so wäre? Was sagt es aus, dass Menschen sich ein Stück ihrer Welt retten? In Haldern arbeiten sie sich an einer Idee ab. Das klingt jetzt so, als wär’s das ganze Dorf – als wäre da nur der eine Strang, an dem sie alle ziehen. Das stimmt natürlich nicht. Das wäre eine unzulässige Glorifizierung.

Grenzlinien

Man denkt nach über die Grenzlinie zwischen Haltung und Attitüde. Es ist die wichtigste Grenzlinie auf dem Weg in die Zukunft des Festivals. In Haldern haben die Macher Haltung bewiesen. Immer wieder. Würde aus der Haltung Attitüde, würde also aus dem Festival ein Devotionalienladen – es wäre schnell vorbei. Haldern würde zur Reliquie. Es gibt noch andere Nachbarn – man mag sie nicht alle aufzählen. Das kratzt an der Melancholie. Am heiligen Zauber. Selbstgefälligkeit wohnt direkter Nachbarschaft zur Attitüde. Niemand sollte sich selber heiligsprechen. Erfolg entsteht durch Wertschätzung. Wertschätzung setzt Achtung voraus. Es gibt einen Unterschied zwischen Achtung und Achtsamkeit. Das eine zielt auf die anderen – das andere zielt nach innen und versandet.

Meisterlehrling, Lehrlingmeister

Längst sind die Macher auch Lehrmeister – haben Nachahmer. Nichts gegen Nachahmung. Nur inhaltsloses Kopieren schadet. Die besten Meister bleiben immer auch Lehrling. Haldern – das ist über die Jahr eine Erfahrungsschatztruhe geworden. Werte sind entstanden. Es geht um Werte, die sich nicht auf Kontoauszügen finden. Man muss das begreifen. Man muss begreifen, dass ein Gleichgewicht auf dem Spiel steht. Man muss begreifen, dass alles hier auch ein Spiel ist. Musik wird gespielt. Da liegt ihr Markenkern. Musik ist eine Gehirnumgehung, denken viele. Musiker sehen das anders. Musik ist deswegen so mächtig, weil sie ohne den Vorhof der Sprache auskommt. Töne greifen direkt. Musik – auch das allerdings muss begriffen und verdaut werden – hat sich in ihrer Allgegenwärtig längst porstituiert: ist prostituiert und ihres Zaubers entkleidet worden. Musik ist in allen Wartezimmern, auf Kinotoiletten… überall und allgegenwärtig entwertet. Das ist das Eine. Das Andere: Musik ist wie ein Logo, wie ein Markenname: Sie erlaubt schnelles Einordnen. Längst laufen Menschen mit tragbaren Lautsprechern herum: hüllen sich ein in ihre eigene Klangwolke und bemerken nicht, dass Musik wie Rauch geworden ist: Du kannst dich nicht entziehen. Musik erlaubt die Diktatur des Einzelnen, der sich bei offenem Autofenster zum Herrscher über die Stille aufschwingen kann.
Haldern ist Musik und irgendwie doch nicht Teil dieser Falle. Haldern, denkt man, lässt auch die Stille zu. Das ist Teil der unverzichtbaren Haltung.

Haltung

Haldern ist keine Missionsstation, kein Ort des Bekehrens. Das wäre lethal. (Das klingt schonender als ‚tödlich‘.) Haldern hat es bisher geschafft, dem Widerspruch durch Haltung zu entkommen. Die Melancholie des Abreisetags ist eben an dieser Nahtstelle verortet. Haldern, wünscht man sich, ist ein Ort, von dem man etwas mitnimmt. Es ist kein Tonträger. Kein T-Shirt. Es ist etwas, das irgendwo innen wohnt. Angereits war man mit Pat Metheny: It’s for you. Jetzt die Abreise. Der Soundtrack hat eine Sprache bekommen.

Bright star
I have drunk the wine of ages
In the company of strangers
We have sung in tongues of angels
And then stumbled on the pavement
And I understood my place then
And my purpose in relation
To the young and ancient night

Anais Mitchell – ein Soundtrack zur Verschwindung im eigenen Inneren. Ich bin der Welt abhanden gekommen …

Bekenntnis

Zeit für ein Bekenntnis. Man wollte es immer mal loswerden und sich damit dem Vorwurf des Eingenommenseins ausliefern. Der dies schreibt und denkt, nennt Haldern seinen Geburtsort und ist stolz darauf. Der dies schreibt, hat dem Festival auch schon Töne geliefert, gewidmet und wird nienienie den Auftritt in der Kirche vergessen in der der  Schüler Gottesdienste besuchte, zur Erstkommunion ging. Er wird nie den Augenblick vergessen, in dem er zum ersten Mal mit der eigenen Tochter zum Festival ging und nienienie den Augenblick, in dem er die Tochter anrief und sagte: „Schau dir den Trailer zum Line-Up an. Schau mal, was da steht.“ Ein Augenblick wie die Mondlandung: „Papa, bist du das? Jadasbinich.“ Es ist ein Ewigkeitsaugenblick und noch beim Jetztdrandenken tropft einem der Rotz in den Doppelespresso. Haldern ist Heimat. Man kann nicht beurteilen, wie es für die Fremden ist. Man weiß nur, dass Heimat niemals Attitüde werden darf. Das Haldern Pop kommt aus Haldern, wird hier gemacht. Alles andere wäre fatal. Heimat ist nicht transplantierbar. Letzte Fahrt zum Gelände. Die Bühne wird abgebaut. Ein Ort verschwindet. Wie gut, dass man nur Bühnen abtragen kann und nicht Ideen. Ideen können sich nur selbst enthaupten, wenn Haltungen zu Attitüden werden, ist das Ende erreicht … Sie sollen, bitteschön, auch im nächsten Jahr die Welt nach Haldern einladen. Sie wird kommen. Sie kommt gern. Das ist der Wunsch.