Schreibkraft
Heiner Frost

Gulasch nur bei Doris

Klaudia Thielen und Erika Kallrath: Zu Gast bei Hellers. Foto: Rüdiger Dehnen

Vielleicht sollte man einfach mal mit der Tür ins Haus fallen und das Kind beim Namen nennen. Robert Wolhorn und Ottmar Hanschke arbeiten für eine Partnerschaftsvermittlung – zusammen mit zehn weiteren Kollegen. Vielleicht sollte man ehrlich sein und sagen: Momentan ist die Situation „ein bisschen mau“.

Die ganz große Liebe

Wörter wie Schnupperphase und Flitterwochenphase werden ausgesprochen. Trotzdem: Es geht nicht in erster Linie um Romantik. Es geht nicht um die große Liebe. Oder vielleicht doch? Vielleicht geht es gerade darum. Die ganze große Liebe, der noch ein Vorname fehlt: Menschen.
Wolhorn, Hanschke und die Kollegen arbeiten für besondere Klienten. „Wir kümmern uns vor allem um Erwachsene Menschen mit psychischen und oder geistigen Einschränkungen“, erklären sie. Auch eine Buchstabenkombination steht bereit: BWF. Das steht für „Betreutes Wohnen in Familien“. Man spricht auch von Familienpflege. Derzeit betreut das zwölfköpfige Team 75 Klienten. Es könnten mehr sein, wenn – ja, wenn sich denn Familien oder auch Einzelpersonen meldeten, die bereit sind, ihr Leben mit besonderen Menschen zu teilen.

Nichts Neues

Die Idee, Menschen mit Behinderungen zu Familienmitgliedern zu machen, ist nicht neu. „In Belgien gibt es ein Dorf, ungefähr so groß wie Goch, in dem rund 35.000 Menschen und rund 3.000 Patienten leben“, erklärt Ottmar Hanschke und lacht. „Ich darf das sagen. Ich lebe selbst in Goch.“ Okay, dann geht‘s. Und nur mal so zum Vergleich: Im gesamten Bundesgebiet leben derzeit rund 3.000 Klienten in Familien. Das Team der Familienpflege in Bedburg-Hau ist das größte im Rheinland und betreut Klienten im ganzen Kreis Kleve.
„Die Gastfamilie benötigt keine Ausbildung oder Vorkenntnisse. Große und kleine Familien oder auch Einzelpersonen kommen in Frage. Wichtig ist vor allem die Bereitschaft, den Gast als neues Mitglied der Familiengemeinschaft aufzunehmen und ihn mit seinen Eigenheiten so anzunehmen wie er ist“, sagt Hanschke. Genauer gesagt: So steht es im Flyer. Hanschke und Wolhorn finden andere Worte. „Alles beginnt mit einem ersten Anruf.“ Jemand meldet sich und signalisiert seine Bereitschaft, sich auf eine solche Situation einzulassen. „Man spricht zunächst einmal locker über das Thema und klärt erste Fragen. Im zweiten Schritt fahren dann zwei Kollegen raus und besuchen die Interessenten. Da geht es dann auch darum, sich die Wohnsituation anzusehen.“

Keine Kleinigkeit

Merke: Es muss zwar vor allem menschlich passen, aber … Schließlich findet dann ein Gespräch in den Räumen der Familienpflege in Bedburg-Hau statt. „Da ist dann das ganze Team dabei – mindestens aber sechs von uns.“ Es geht darum, dass aus dem betreuten Wohnen kein bereutes Wohnen wird. „Wir tragen da eine sehr große Verantwortung – sowohl unseren Klienten gegenüber als auch den künftigen Familien“, beschreibt Robert Wolhorn das Kernanliegen. Natürlich kann es trotzdem vorkommen, dass eine vermittelte Partnerschaft sich im Alltag dann doch als nicht machbar erweist. (Auch Ehen sollen ja schon am Alltag gescheitert sein.) „Aber natürlich versuchen wir im Vorfeld, alles möglichst genau abzuklopfen. Dazu kann auch gehören, dass wir die Interessenten fragen, wie denn ihr Umfeld mit einer solchen Änderung umgeht.“ Dass da plötzlich ein neuer Mensch im Alltagsgeflecht auftaucht, ist ja keine Kleinigkeit.

Fragen satt

Im „Gesprächsleitfaden“ finden sich reichlich Fragen, anhand derer das Terrain sondiert werden kann. Natürlich geht es zunächst um die Motivation der Bewerber. Und – siehe oben: „Was sagen Ihre Kinder/Verwandte/Freunde/Nachbarn zu Ihren Plänen?“ Oder: „Welche Erwartungen haben Sie an das Zusammenleben mit einem Gastbewohner?“ (Wichtige Frage, denn nichts ist verheerender als eine enttäuschte Erwartung.)

Aber wenn‘s denn dann geklappt hat, werden die Familien und ihre Gäste betreut. Ottmar Hanschke: „Aber natürlich. Das gehört zu den Kernpunkten. Jede Familie hat zwei Ansprechpartner. Es kann ja schließlich sein, dass der eigentliche Ansprechpartner des Teams im Urlaub ist oder krank.“ Apropos Urlaub: Kann eine Familie auch ohne ihren Gast Urlaub machen? Robert Wolhorn: „Aber selbstverständlich. In einem solchen Fall brauchen wir nur genügend Vorlauf, denn wir müssen uns dann natürlich um die Betreuung kümmern.“

Zukunft als Gegenwart

Haben denn eigentlich die Klienten keine eigenen Familien? Ottmar Hanschke: „Natürlich. Aber wir sprechen ja von erwachsenen Menschen. Da gibt es Familien, die dann sagen: Wir können das nicht leisten. Natürlich gibt es auch Klienten, deren Kontakt zu ihren Familien abgebrochen ist.“ Für viele Eltern, die ein Kind mit Behinderung haben, ist die Sorge um das „Was passiert, wenn wir mal nicht mehr sind?“ riesengroß. Die Familienpflege ist eine Möglichkeit, die Zukunft zur Gegenwart zu machen. „Wir würden uns riesig freuen, wenn sich mehr Menschen bei uns meldeten“, beschreiben Wolhorn und Hanschke einen zentralen Wunsch des Teams.

Ein starkes Quintett: Hermann-Josef Heller, Erika Kallrath, Robert Wolhorn, Klaudia Thielen und Doris Heller. Foto: Rüdiger Dehnen

Innenansichten

Hermann-Josef öffnet die Tür. „Kommen Sie rein“, sagt er, Herr Wolhorn ist auch schon da. Im Wintergarten: Der Rest der Frauschaft. Ehefrau Doris und die beiden Damen: Klaudia und Erika. Hermann-Josef und Doris sind die Hellers – und sie sind gewissermaßen die Gastgeber. Seit mehr als 20 Jahren. Klaudia Thielen und Erika Kallrath sind die Gäste. Eigentlich sagt die Atmosphäre: Das alles hier ist Familie. Wie gesagt – die Hellers haben seit über 20 Jahren Gäste. Damals, als es losging, waren die vier Kinder noch zuhause. „Das haben wir natürlich mit allen besprochen“, erinnert sich Doris. Sie hatte da was in der Zeitung gelesen: Gastfamilien wurden gesucht.

Wennßemeins

Zuerst sprach Doris mal mit Hermann-Josef. Kommentar: „Du immer mit deinen Sachen.“ (Übersetzung: Wennßemeins.) Vielleicht klingt das noch zu skeptisch. Also: Hermann-Josef war dafür.
Zunächst hatten die Hellers andere „Familienmitglieder“. Ein Pärchen. Der Mann vertarb – die Frau musste später ins Pflegeheim. Es ging nicht mehr. Erika kam 2006, Klaudia 2008 zu den Hellers. Klaudia und Erika kannten sich vorher nicht. Jetzt sind alle irgendwie Familie. Doris Heller: „Wir fahren auch zusammen in Urlaub.“ Letztes Jahr waren sie in Bayern. Da wohnt eine Tante von Doris. „Die hat neun Kinder.“ Dass Hermann-Josef und Doris Platz haben, macht sich mitunter auch zu Ferienzeiten bemerkbar. Robert Wolhorn: „Die Hellers sind auch Urlaubsgastfamilie.“ Wenn also andere Familien ohne ihre Gäste in Urlaub fahren, bieten die Hellers sich an. Das klingt, als würde Doris die Depri kriegen, wenn das Haus mal leer ist. Schief gewickelt. Die Frau macht noch einige Sachen „nebenbei“. Vereinsarbeit hier und da.

Sauber muss

Gibt es Grundansprüche an das Zusammenleben? Doris outet sich: „Sauberkeit ist mir wichtig.“ Sie, Erika, Klaudia und Hermann-Josef sind eine Familie: Sie essen zusammen und irgendwie ist auch der Rest des Lebens eine Gemeinschaftsproduktion. „Natürlich braucht jeder auch einen Rückzugsraum. Das ist wichtig.“ Klar. Das kennt man aus dem eigenen Leben.

Doris kocht

Wenn Robert Wolhorn zu Besuch kommt, wird er irgendwie auch zum Familienmitglied. „Über die Jahre lernt man sich wirklich sehr gut kennen“, sagt er. Natürlich sind die Hellers und ihre beiden Gäste per du. Doris kann sich kaum etwas anderes vorstellen. Beim Zusammenleben ist für Doris das Bauchgefühl wichtig. „Da verlass ich mich drauf“, sagt sie und Hermann-Josef nickt. Übernehmen die Gäste auch Aufgaben im Haus? „Ja. Wir helfen beim Spülen oder beim Staubwischen“, sagt Klaudia. Jeder macht, was ihm oder ihr möglich ist. Kochen tut die Doris. Und Hermann-Josef sagt: „Die Klaudia isst nirgendwo Gulasch – außer bei Doris.“ Und Klaudia nickt. Fazit: Lauter zufriedene Menschen. Klaudia und Erika – ganz nah an der Wirklichkeit. Mitten in einem normalen Leben.

BWF – was man wissen sollte

Das Betreute Wohnen in Familien (BWF) wurde in früheren Jahren „Familienpflege“ genannt. Der Kostenträger LVR benutzt die Bezeichnung LiGa (Leben in Gastfamilien).
Unter BWF versteht man, Menschen alternativ zu einem Leben in einem Wohnheim die Chance zu geben, in einem familiären Umfeld zu leben. BWF kann jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn der psychisch kranke Mensch sowie die Familien professionell unterstützt und begleitet werden. Diese Wohnform ist eine Eingliederungshilfeleistung des überörtlichen Sozialhilfeträgers LVR. Die kontinuierliche Unterstützung und Begleitung ist oftmals Vorraussetzung für ein Gelingen des Zusammenlebens. Das Betreuungsverhältnis kann bei den psychisch kranken Menschen zu mehr Selbständigkeit, Verantwortungsgefühl, Eigeninitiative und zur Fähigkeit der Selbstorganisation führen. Für sie ist dies gleichzusetzen mit dem „Leben in der Normalität“. Es handelt sich um Menschen, die aufgrund von Krankheitsfolgen weder alleine noch in einer therapeutischen Einrichtung leben können. Trotzdem benötigen sie Hilfe und Unterstützung bei der Bewältigung des täglichen Lebens.
Woher kommen die Klienten?
Von gesetzlichen Betreuern; aus psychiatrischen Kliniken; aus Wohneinrichtungen.
Interessierte Familien müssen keine spezifische Familienstruktur aufweisen. Neben der traditionellen Familie mit Eltern und Kindern kommen auch Teilfamilien, Einzelpersonen oder Lebensgemeinschaften in Betracht.
Wer sich für das Projekt Leben in Gastfamilien interessiert und Kontakt zu Robert Wolhorn und dem Team aufnehmen möchte, kann das unter der Telefonnummer 02821/813643 tun.
Voraussetzungen
Es muss mindestens ein helles, eigenes und möbliertes Zimmer zur Verfügung gestellt werden. Je nach Betreuungsbedarf muss genügend Zeit und Präsenz für die Betreuung vorhanden sein. Die Gastfamilien sollten in der Lage sein, einen psychisch kranken, erwachsenen Menschen mit seinen Problemen und Besonderheiten zu akzeptieren. Die Gastfamilien sollten Probleme ansprechen und besprechen können. Die Gastfamilien müssen bereit sein zu kooperieren. Hierzu gehört die Bereitschaft, Fragen der Alltagsgestaltung zu besprechen, Absprachen zu treffen und auftretende Probleme rechtzeitig zurückzumelden.
Fachkenntnisse sind nicht erforderlich.

Haben seit über 20 Jahren besondere Gäste: Hermann-Josef und Doris Heller. Foto: Rüdiger Dehnen