Schreibkraft
Heiner Frost

Flucht in den Himmel

Im Hintergrund spult das E-Piano ein Demoprogramm ab. Alles vollautomatisch. Von Bach auf dem Cembalo bis zum Drehorgelsound. Zwischendrin: Jazz. Im Vordergrund: Die Hebebühne. Ein Akkuschrauber. Eine Bohrmaschine. Diskutierende Männer. Zuschauer. Der Ort des Geschehens: Die Anstaltskirche der Justizvollzugsanstalt Geldern Pont. Noch eine Woche bis Weihnachten, aber das tut nichts zur Sache. Jetzt geht es um die Leiter …

Irritation statt Provokation

Die Leiter ist sechs Meter lang, hat 16 Sprossen und ist mit goldener Farbe gestrichen. Fünf Gefangene haben sie geplant und gebaut. Haltstop: Wer hat was gebaut? Gefangene bauen eine sechs Meter lange Leiter? Wie hoch sind die Mauern, die den Gelderner Knast umschlingen? „Sechs Meter.“ Sagt Peter Busch. Er ist Künstler und Kopf hinter dem Projekt Fluchtleiter. Busch ist ein freier Mann. Das unterscheidet ihn von den anderen Leiterarchitekten. Busch arbeitet seit zig Jahren im Projekt „The Wall“ mit Gefangenen an Kunstprojekten. Was die Projekte von „The Wall“ vereint? „Es geht immer um Irritation, nie um Provokation“. Merke: Manchmal ist der Unterschied zwischen der einen und der andere Seite winzig und hängt auch vom Standpunkt des Betrachters ab. Die „Fluchttür“ zum Beispiel. Busch und die Jungs haben sie, Jahre ist das her, auf die Außenhaut der Knastmauer gemalt. Eine Fluchttür auf einer Knastmauer? Ist das finale Anarchie? Ja. Für Schnelldenker, die dieses Idee nicht zu enden denken. Busch: „Der Clou ist doch: Die Tür gibt es nur außen. Wohin sollte man fliehen? Nach innen etwa?“ Treffer und versenkt.

Darf das?

Jetzt also die Leiter. Fluchtleiter – das Wort ruft institutionalisiertes Denken auf den Plan. Geht das? Darf das? Vollzug und Flucht geben kein gutes Paar ab, obwohl – jetzt und hier sei es gesagt – Flucht nicht strafbar ist. Sagt das Gesetz. Natürlich gibt es Ausnahmen: Nichts und niemand darf Schaden nehmen. Und: Fliehen sollte man besser als Individuum. Sonst steht Meuterei auf dem Strafzettel. Die Fuchtleiter ist eine Art Seelenausguck. Zurück zum Vollzug. Darf es eine Fluchtleiter geben? Vollzugliche Antwort: Nein. Jedenfalls nicht in der Nähe der Wand. „Es gab“, erinnert sich Busch, „Diskussionen.“ Das wundert nicht. Knast und Kunst – zumal, wenn sie sich mit der Freiheit auseinandersetzt – kommen sich schnell ins Gehege. Kunst ist oft genug in ihren Grundfesten das Gegenteil des Hierarchischen. Vollzug aber lebt von Hierarchien. Trotzdem: Jetzt bekommt die Leiter ein Zuhause in der Anstaltskirche. Kirchenasyl also. Die Fluchtleiter wird zur Himmelsleiter.
Fünf Monate hat es gedauert vom ersten Gedanken bis jetzt. „Wir haben viel diskutiert“, erinnert sich Busch. Irgendwann ist er dann mit den Jungs losgezogen. „Wir haben einen Baum ausgesucht. Das war eine Eiche.“ Der Baum: Quasi eine Spende. „Dann sind wir zu einer Schreinerei gefahren. Die haben den Stamm geteilt.“ Mit Spezialwerkzeug haben die Jungs den Baum entrindet, dann die Kerben für die Sprossen gesägt, die Sprossen eingesetzt und schließlich das Ganze mit goldener Farben gestrichen.

Gegen die Geradlinigkeit

„Und wie habt ihr euch das jetzt gedacht?“, fragt Marco Jeckstedt vom Werkdienst. Er steht zusammen mit einem Kollegen auf der fahrbaren Hebebühne. Er ist mit Akkuschrauber und Bohrmaschine „bewaffnet“ und nimmt Buschs Wünsche entgegen. Die Leiter, erklärt Busch, soll ein bisschen schräg zum Raum hängen – ein bisschen schief und – zum Altar hin – anszeigend. Sie soll sich auflehnen gegen die Perspektive. Gegen die Geradlinigkeit. Gegen das Genormte. Hans-Gerd Paus ist Gefängnispfarrer in Geldern Pont. Als es darum geht, wie hoch die Leiter hängen soll, sagt er: „Auf jeden Fall so hoch, dass niemand dranspringen kann.“ Busch sagt: „Wenn die Leiter hängt, werde ich wieder katholisch.“ Ein Mann, ein Wort. Es kommt einiges zusammen: Die Leiter, das begreift man beim Zusehen, ist jetzt Gegenstand für eine innere Flucht. Dass die Flucht in einer Antaltskapelle stattfindet, ist Programm. Dass die Leiter das Denken in Schwung bringt, ist Teil des Plans.

Das Gewicht des Denkens

„Eigentlich wollten wir ja die Leiter feierlich durch die ganze Anstalt tragen und dazu weiße Handschuhe anziehen“, sagt Busch. Die Aktion wurde heruntergekühlt. Die Grenze zwischen Provokation und Irritation muss eingehalten werden. Natürlich denken Künstler immer auch in Aktionen. Aber eine sechs Meter lange Leiter zur besten Sendezeit an Gefangenen vorbeizutragen – das hätte schon etwas Zynisches gehabt. Aus dem Zug durch den Haupteingang ist der Einmarsch durch einen Hintereingang geworden. Es ändert nichts am Gewicht der Aussage.
Während die Bolzen für die Leiter in die Decke geschraubt werden und die finale Ausrichtung stattfindet, klimpert das E-Piano wie ferngesteuert weiter zwischen Renaissance, Moderne, Jazz und Kitsch hin und her.
Als die Leiter schließlich an ihrem Platz hängt, tritt Paus einen Rundgang durch den Kirchenraum an. „Von hier aus sieht es am besten aus“, sagt er und steht links hinten in der Ecke. Die Leiter: Ein vergoldeter Störfall. An ihr entlang kann man sich ins Freie denken: Nach draußen. In den Himmel. Ins Leben.+