Sie war das Mädchen von gegenüber. Die Cousine wohnte auf der anderen Straßenseite. Der Knast ist ihr also nicht fremd. Außenansichten von damals …
Im Kopf entstehen Bilder vom kleinen Mädchen, das (vielleicht) mit dem Roller die graue Knastmauer entlangfährt. „Hinter dieser Mauer sitzen alle die …“ – wer weiß schon, wie‘s damals erklärt wurde.
Jetzt kehrt sie zurück. Aus dem Roller ist eine schwarze Limousine geworden – aus dem Mädchen von Gegenüber die Bundes-Ministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Aber da ist auch der Hut der SPD-Bundestagsabgeordneten aus dem Kreis Kleve. Die Limousine kommt durch den Lieferanteneingang – die große Fahrzeugschleuse der Justizvollzugsanstalt Kleve. Innen, auf dem Hof, das Empfangskomitee rund um den Anstaltsleiter Udo Gansweidt. Die Hendricks hat einen eng gesteckten Zeitplan. Die Anstalt hat dem Rechnung getragen: Begrüßung, Besichtigung einiger Stationen in der Anstalt (mit Pressebegleitung) – anschließend: Gespräch mit den Bediensteten in der Kantine. Abfahrt.
Die „Reisegruppe Knast“ setzt sich nach einer kurzen Begrüßung in Marsch. Fingerzeige in alle Richtungen. „Und hier sehen Sie …“
Das Mädchen von gegenüber ist vorbereitet. Sie weiß etwas von der Multinationalität im Klever Knast. Sie weiß, dass es an BeTeEmm liegt: An den Betäubungsmitteln also. Es geht um Vollstreckungszuständigkeiten – das Eingemachte des Vollzugs. Für wen und was ist Kleve zuständig? All das auf dem Weg zur ersten Station: Besichtigung des Integrationskurses. Einer der Gefangenen stellt sich vor. Er ist aus Pakistan. Ein bisschen wird gezeigt, wie‘s läuft im Integrationskurs. Hinter der Hendricks auf der guten alten Schultafel: Politikerfotos. Würde sie sich jetzt umdrehen, sähe sie dem Kollegen Gabriel ins Auge. Später interessiert sich Barbara Hendricks für Einzelheiten zum Kurs. Sie stellt die Fragen. Berlin ist kein Thema. Gut so. Da hält sich eine an Absprachen.
Die Hendricks lernt, dass die Kurse begehrt sind. Die Jungs wollen was lernen, erklärt einer der Vollzugsbeamten. Würde man die Jungs fragen, könnten sie antworten, dass alles besser ist als 23 Stunden „auf Hütte“ zu hocken. Sie könnten auch erzählen, dass der I-Kurs als Arbeit gewertet wird und es also ein Entgelt für die Teilnahme gibt. Eigentlich eine super Idee: Die zu Integrierenden nicht mit einem Nein zu begrüßen und zu sagen,was alles unmöglich ist, sondern damit, dass einer sagt: „Wir hätten einen Job für euch.“ Der Job ist: Deutsch lernen. Das könnte die Wirklichkeit sich ruhig mal abkupfern.
Nächste Station: Eine Lehrküche – Relikt aus der Zeit, als Kleve noch eine Jungtäterabteilung hatte. Jetzt kochen ein paar Gefangene zusammen mit dem Küchenchef Spaghetti Bolognese. Es riecht gut. Nebenan: Produkte aus der Holzwerkstatt. Was hier zu sehen ist, gehört wohl in den Bereich „Dekorationskunst“. Alles deutet schon auf Ostern hin.
Dann: Hinauf in die Anstaltskapelle. Fragen und Erklärungen. Jeder Knast hat seine eigene Problematik – sie richtet sich nicht zuletzt nach den vollzuglichen Zuständigkeiten.
Kleve – so würde man im Schnelldurchlauf erklären – beherbergt Untersuchungshäftlinge und vollzieht Haftstrafen bis zu 24 Monaten. „Es kann aber auch sein, dass jemand nur drei Tage bei uns ist“, erklärt einer der Beamten. Das kann dann passieren, wenn jemand eine Geldstrafe nicht bezahlen kann und stattdessen in Haft geht.
„Sobald dann Freunde oder Verwandte das Geld überweisen, ist der Gefangene unverzüglich auf freien Fuß zu setzen.“ Erklärt der Beamte und sagt, das könne auch abends um 21 Uhr der Fall sein.
Rund 240 Gefangene sitzen in Kleve und aufgrund der hohen Rotationsgeschwindigkeit ist im Durchschnitt davon auszugehen, dass die komplette Insassenschaft in einem Kalenderjahr drei bis vier Mal wechselt. (Durchschnittswerte – wohlgemerkt.)
Dann der Gang in die Schlosserei. Jaja – in Kleve werden Gitter produziert. Kaum zu glauben, aber wahr. Schließlich noch ein Blick in die Besuchsabteilung. Rund 8.000 Besucher melden sich alljährlich an, um Zeit mit ihrem Freund/Vater/Bruder/Mann zu verbringen. Es gibt verschiedene Stufen der Besuchsüberwachung. In brisanten Fällen sind Besucher und Gefangener durch eine Scheibe getrennt. Sehenswert: Der Raum für die Besuche kleinerer Kinder.
Die Hendricks hört zu, stellt hier und da eine Frage. Der erste Teil des Besuches nähert sich dem Ende. Noch ein paar Bilder für die Presse – dann der Gang zur Kantine. Das Mädchen von gegenüber wird mit den Bediensteten sprechen – sich anhören, wo der Schuh drückt und vielleicht das eine oder andere mitnehmen und weitergeben.
Gefangene haben auf der Tour nicht stattgefunden: Die Gänge leergefegt. Die besichtigte Zelle: Unbewohnt. Immerhin: Sichtkontakte beim Integrationskurs, in der Lehrküche, in der Schlosserei. Geredet haben sie nicht. Nicht mehr als das, was man Smalltalk nennen würde. Trotzdem: Eine Knasttour, die Einblicke vermittelt und Basiswissen über die Probleme des Vollzugs. Die Anstalt hat ihre Chance genutzt – sich vorgestellt und eingetragen in die innere Landkarte einer wichtigen Politikerin, die früher einmal das Mädchen war, dessen Cousine gegenüber wohnte.