Schreibkraft
Heiner Frost

Ende schlecht – alles schlecht

Die Zahl

Warum ist man eigentlich hier? Es ist doch nur einer von unzähligen Drogenprozessen. (Täglichbrot für ein Gericht, das nicht sehr weit vom nächstmöglichen Coffeeshop entfernt liegt.) Vielleicht liegt es an dieser Zahl. Es geht nicht um die sechs Kilogramm Marihuana – da ist diese andere Zahl: 75. Eine Altersangabe.


Strafverhandlung gegen einen 75-Jährigen aus Berlin wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit diesen Betäubungsmitteln. Laut Anklage schmuggelte der Angeklagte am 25. Mai mit einem Pkw insgesamt circa sechs Kilogramm Marihuana von den Niederlanden kommend über den Grenzübergang Straelen/AB 40 nach Deutschland. Das Rauschgift sollte gewinnbringend weiterverkauft werden. Der Angeklagte hat angegeben, nichts von dem Rauschgift im Fahrzeug gewusst zu haben. Zu der Hauptverhandlung sind zwei Zeugen geladen.
Was ist zu erwarten? Hauptstadtflair? Altersarmut? Unbelehrbarkeit eines Konsumenten? Eine Komödie um Rentnerrenitenz? Im Saal unterhalten sich – bis zur Verhandlung sind es noch 15 Minuten – Verteidiger und Staatsanwalt. Die Stimmung ist locker. Fälle werden diskutiert. Auch der Anstehende. Der Staatsanwalt teilt mit, dass er viereinhalb Jahre beantragen wird. Jetzt könnten die beiden doch auf einen Kaffee in die Kantine gehen. Nein – das ist zynisch gedacht. Der Prozess: Einer von denen, die man sich normalerweise sparen würde. Trotzdem ist er im Pressespiegel erwähnt. Ob sonst nichts los ist?
Fünf Minuten vor Beginn teilt eine Justizwachtmeisterin mit, dass man für den Angeklagten einen Notarzt habe rufen müssen. War‘s das jetzt? Um 9.20 Uhr wird der Angeklagte vorgeführt – gestützt von Justizwachtmeistern betritt er den Saal. „Wenn was ist, sagen Sie‘s.“ Wasser wird bereitgestellt.
Auch der Richter bittet um Meldung. „Wenn‘s nicht geht, unterbrechen wir.“ Was ist passiert? Sechs Kilogramm Marihuana hat sich der Angeklagte an einer Autobahntankstelle von zwei Holländern in seinen Wagen packen lassen. (Immerhin das 138-fache der sogenannten nicht geringen Menge.) Zweihundert Euro sofort. Das Zehnfache jenseits der Grenze. Das erfährt man aus der Einlassung, die vom Verteidiger vorgetragen wird. Eine veränderte Ausgangslage. Jetzt erfährt man, dass der Angeklagte wusste, was man da – verpackt in Generatorenkartons – in seinen Wagen packt. „Wird Ihr Mandant Fragen beantworten?“ „Ja, das wird er.“

Ein ruiniertes Leben

Ein Leben wird ausgebreitet. Eigentlich ist das kein Leben. Es sind Splitter von etwas Ruinösem, Ruiniertem. Geboren ist Herbert M. im April 1942 in Glaz. Das war einst Schlesien. Schlimme Zeiten. 1945 die Flucht. M. und sechs Geschwister landen in einem Heim in Delmenhorst. Sie werden, sagt er, missbraucht, geschlagen, gedemütigt. Von den Erziehern. Vom Geistlichen. Nach dem Heim: Die Pflegefamilie. Bauern. Sie lassen den Jungen von morgens bis abends arbeiten.
Er geht irgendwann nach Berlin. „Da hatte ich Arbeit bei Siemens.“ Zwischendurch: Ehe. Scheidung. Er lernt, die späten 60-er Jahre sind erreicht, eine Frau „in der Zone kennen“. Sie wird schwanger. Er besucht sie, so oft es geht. Irgendwann sagt sie: „Du holst mich hier heraus oder ich bringe mich um.“ Es entsteht diese Dringlichkeit: Es hängt alles an ihm. Er bespricht sich mit einem Freund, der sich in einer ähnlichen Situation befindet. Der Freund aber ist kein Freund. Er ist ein Stasimann.
Der Angeklagte: In Tränen aufgelöst, Bei einem seiner vielen Besuche ist die Stasi an ihn herangetreten. Sie wollen ihn als Spitzel verdingen. Er lehnt ab. Jetzt bekommt er die Quittung. Bei einem der nächsten Besuche wird M. verhaftet. Beihilfe zur Republikflucht. Drei Jahre sitzt er in Hohenschönhausen. „Die anderen haben sie frei gekauft. Ich musste bleiben.“ Immer wieder bricht er in Tränen aus. Szenen aus einem verpfuschten Leben.
Er lebt, denkt man, als Ruine. Er hat, mittlerweile ist er 75, ein Auskommen. 1.000 Euro im Monat. Er hat für die Zeit im Stasi-Knast eine Haftentschädigung bekommen. Er ist für die erlittenen Qualen im Heim ebenfalls entschädigt worden, aber: Geld ist doch nur eine Krücke. Es dringt nicht in die Seele vor. Es verklebt Einschnitte. Mehr nicht.

Ein Gestrüpp

Dann die Fragen „zur Sache“: Der Angeklagte gibt zu, dass er gewusst hat, was er da transportierte. Er wollte helfen. Später sagt sein Anwalt: „Ein Mann wie mein Mandant fühlt sich aufgewertet, wenn er etwas für andere tun kann. Das ist wichtig für ihn.“
Die Verhandlung legt offen, dass der alte Herr schon des Öftern in Konflikt mit den Gesetzen geraten ist – was noch vergleichsweise harmlos klingt. Es hat Verurteilungen gegeben. Drogenhandel und sexueller Missbrauch sind abgeurteilt worden. Mehr als 20 Vorstrafen und mehrere Aufenthalte in Vollzugsanstalten hat es gegeben in den 75 Lebensjahren. Ein Gestrüpp.
Immer wieder fragt man sich, ob da einer taktisch gesteht. Wer würde auch glauben, dass er nichts wusste, als zwei Holländer ihm Pakete ins Auto legen und 2.000 Euro Belohnung versprechen. Denkbar ist sogar, dass die beiden Herren eine Rettungsfiktion sind, die den Angeklagten zum Kurier macht. Später wird der Richter sagen, dass eben jene Kurierthese nicht widerlegt werden könne.
„Wie geht es Ihnen in der Haft?“, fragt der Richter an einer Stelle, und es weint sich aus dem Angeklagten heraus, dass er nicht schlafen kann, dass niemand ihm Tabletten gibt, dass er einen Termin beim Psychologen beantragt, aber nie bekommen hat. Er war im Justizkrankenhaus. Er wird, sagt der Angeklagte in seinem Schlusswort, nicht mehr lange leben. Im Publikum: Zwei junge Männer. Einer von beiden hat zwei Monate mit M. „auf Zelle“ gelegen. Einmal sagt M., dass da einer im Publikum säße, der erzählen könne, wie es ihm, M., gegangen sei.

Ende schlecht, alles schlecht

Die Beweisaufnahme ist nach 90 Minuten abgeschlossen. Der Staatsanwalt braucht, sagt er, fünf Minuten und nennt es Toilettenpause. Der Vorsitzende fragt, ob man nicht eine Kaffeepause machen solle. Offensichtlich ist eine Kaffeepause das circa Vierfache einer geringen Pause. Am Schluss werden es zehn Minuten bis zu den Plädoyers. Der Staatsanwalt beantragt vier Jahre, sechs Monate. Kein minderschwerer Fall. Der Verteidiger sieht es anders. Es muss um Gnade gehen. Das hier könnte auch ein minderschwerer Fall sein. Der Angeklagte soll nach dem Urteil nicht wieder in dieses Gefängnis müssen. Er soll – unter Auflagen – gehen können. Seine Sachen in Ordnung bringen. Wieder einmal möchte man nicht Richter sein. Der Angeklagte hat das letzte Wort. „Ich werde bald sterben“, sagt er. „Die Haft werde ich nicht überleben“, sagt er. Dann beginnt sich sein Argumentieren im Kreis zu drehen. Der Verteidiger beendet die letzten Worte. Eine beschwichtigende Geste in Richtung des Gerichtes. Jetzt muss das Gericht urteilen.
30 Minuten später schließt sich die Kammer dem Antrag des Staatsanwaltes an. Der Haftbefehl bleibt in Vollzug. Natürlich kann das Gesetz nicht Äpfel und Birnen vergleichen. Der Angeklagte hat gewusst, was er zu tun im Begriff war und dann auch ausführte. Er ist einschlägig vorbestraft und verurteilt. Das Gericht kann Leid in anderen Dingen nicht mit einem Bonus beantworten. Das sagt der Richter nicht. Aber er sagt sinngemäß, dass die Haft in Hohenschönhausen hier und jetzt keine Rolle spielen kann. Und doch gibt es einen Bonus. „Ein jüngerer Angeklagter hätte mindestens fünf Jahre bekommen“, sagt der Richter und sagt auch, dass es wahrscheinlich noch eine Zahl hinter dem Komma gegeben hätte. Immerhin: Der Angeklagte – kein Dealer. Er ist ein Kurier.
Negativ zu bewerten: Die Rückfallgeschwindigkeit des Angeklagten – auch daran wird kein Zweifel gelassen. Den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen? Nicht denkbar. M. könnte sich absetzen. Vielleicht hat er Verbindungen nach Belgien oder in die Niederlande. („Wir wissen das nicht.“) Der Angeklagte sitzt da und verdeckt ein fahles Gesicht mit dem Fächer seiner Hände. Was jetzt auf ihn wartet, ist eine traurige Realität. Ende schlecht, alles schlecht. Jemand sollte in der Anstalt anrufen und sagen, dass sie ein Auge auf M. haben.