Vielleicht schon mal die Materialien zurechtlegen, die man für ein Denkmal braucht. Es muss ja nicht aus Marmor sein oder aus Bronze. Es muss ja nicht in der Landschaft stehen. Vielleicht wird nicht einmal schweres Gerät gebraucht. Vielleicht reichen Worte. Vielleicht ist, was hier erzählt wird, eine Heldengeschichte. Annegret Willems sieht das anders. Ein Denkmal für sie und ihre Familie? Nicht nötig. Es ist doch alles irgendwie normal.
Am liebsten clonen
Liesel Westerhoff-Unkrig und Robert Wolhorn sehen es so: „Familien wie die Willems würden wir am liebsten clonen“, sagen sie. Das meinen sie nicht ernst. Und dann wieder doch. Zeit, in die Details zu gehen. Zeit für LiGa. LiGa steht für „Leben in Gastfamilien“. Geht es um ein Auslandsjahr nach der Schule? Nein. Aber irgendwie hat alles eben doch ein bisschen mit ‚Ausland‘ zu tun und damit, eine Heimat zu finden. Damit man jetzt nichts Falsches schreibt, findet ein Ausflug ins Internet statt. Einfach mal „LVR, Kleve, Leben in Gastfamilien eingeben“.
LiGa
Na bitte: „Unter LiGa versteht man, Menschen alternativ zu einem Leben in einem Wohnheim die Chance zu geben, in einem familiären Umfeld zu leben. LiGa kann jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn der psychisch kranke Mensch sowie die Familien professionell unterstützt und begleitet werden. Diese Wohnform ist eine Eingliederungshilfeleistung.“
Liesel Westerhoff-Unkrig und Robert Wolhorn gehören zum LiGa-Team des LVR. Das Team ist quasi die Vermittlungsstelle zwischen Familien wie den Willems einerseits und den „Klienten“ andererseits.
Ein Gespräch
Grau ist alle Theorie, denke ich. Also: Ein Gespräch mit Annegret Willems und ihrer Familie. Familie, lerne ich, ist eine Frage der Definition. Annegret Willems ist verheiratet und hat – es wird jetzt ein bisschen kompliziert – vier Kinder: Zwei Mädchen, zwei Jungs. Die Kinder sind aus dem Haus. Mittlerweile. Aber Annegret hat eigentlich mehr Kinder – die Pflegekinder, die eigentlich keine Kinder sind sondern eben Familienmitglieder. Sie gehören dazu. Wie einfach das klingt. Eben da liegt das Nicht-Geheimnis. Inklusion findet statt. Einfach so. Und: so einfach. Was Annegret Willems und ihre Familie leben, ist kein Ausnahmezustand – es ist das ganz normale Leben: Zusammenleben. Zusammen leben.
Derzeit gehören Colin, Fabian und Sebastian zum Familienverband. Sie gehören dazu. Wenn Annegret das sagt, klingt es irgendwie selbstverständlich.
Das wäre was für dich
Von LiGa hat Annegret – zwölf Jahre ist es her – durch einen Bekannten erfahren. Kleiner Satz – große Wirkung: „Das wäre vielleicht was für dich“, hörte sie von einem Bekannten, „und ich konnte mir damals gar nicht vorstellen, worum es geht.“
Aber da war auch diese zu erwartende Leere: Vier Kinder groß gezogen, die Oma gepflegt … und dann? Als die Willems das erste neue Familienmitglied begrüßten, waren die Kinder noch zu Hause. „Wir haben das natürlich vorher besprochen“, sagt Annegret. Ergebnis: Alle waren dafür. Anders wäre es nicht gegangen. Schließlich geht es darum, das eigene Leben mit einem völlig neuen Menschen zu teilen. Es geht um Lebensgemeinschaft und nicht um Nebeneinanderherleben unter einem Dach.
Offenheit auf beiden Seiten
Erste Voraussetzung: Offenheit. Auf beiden Seiten. Vielleicht ist das Wort Unvoreingenommenheit sogar noch besser. Es gehe, sagt Annegret, „um Geben und Nehmen“. Das ist wichtig. Das ist die Basis. Darauf lässt sich bauen – es muss ja nicht gleich ein Denkmal sein.
Zurück zur Internetseite der LiGa: „Die kontinuierliche Unterstützung und Begleitung ist oftmals Voraussetzung für ein Gelingen des Zusammenlebens. Das Betreuungsverhältnis kann bei den psychisch kranken Menschen zu mehr Selbständigkeit, Verantwortungsgefühl, Eigeninitiative und zur Fähigkeit der Selbstorganisation führen. Für sie ist dies gleichzusetzen mit dem ‚Leben in der Normalität‘. Es handelt sich um Menschen, die aufgrund von Krankheitsfolgen weder alleine noch in einer therapeutischen Einrichtung leben können. Trotzdem benötigen sie Hilfe und Unterstützung bei der Bewältigung des täglichen Lebens.“
Geben und Nehmen
Ein Gewicht wird ahnbar. Vielleicht ist Gewicht nicht das richtige Wort. Gewicht – das klingt nach Anstrengung. Man kehrt zurück zum „Geben und Nehmen“. Beim LiGa-Prinzip wäre Einbahnstraßendenken der völlig falsche Ansatz. Anfangs, erinnert sich Annegret, habe sie sich unter der ganzen Sache nichts vorstellen können. Heute sagt sie: „Alles, was man sein kann, ist Familie.“ Die Erkenntnis ist so einfach wie elementar. Man beginnt zu begreifen, dass es tatsächlich um Offenheit geht und um die Bereitschaft, sich einzulassen: auf Menschen, auf Situationen, auf das Schöne, auf den Schmerz. Fabian Roberts ist noch nicht lange bei den Willems. Dreizehn Jahre hat Fabian in und bei und mit einer anderen Familie gelebt. Dann der Wechsel. Robert Wolhorn erklärt: „Die Menschen entwickeln sich und Situationen entwickeln sich. Dinge ändern sich und dann passen Dinge nicht mehr, die lange sehr gut waren.“ Fabian Roberts hatte früher einen anderen Hausnamen. Dann hat er den Namen seiner Gasteltern angenommen. Das sagt etwas über Bindungen aus. Das beschreibt kein Gewicht, aber eine Gewichtung. Fabian hat sie vorgenommen. Man wechselt eine Familie nicht mal eben aus. Ich frage Fabian, ob er Heimweh hat. „Ja. Das habe ich.“ Aber jetzt und hier beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Eine neue Verbindung entsteht.
Fenster zur Seele
Nicht nur die Familie ist neu – da sind ja auch Colin und Sebastian. All das ist irgendwie schwer fassbar. Steckt man nicht drin, ist es Theorie. Man blickt in die Gesichter. Sie sind, heißt es, das Fenster zur Seele. Man blickt ins Helle – da ist kein Abgrund. Da ist Vertrauen. Vielleicht ist es für das Glück noch zu früh. Die Zeichen stehen günstig. Sebastian hat lange allein gelebt. Dann kamen die Depressionen, der Rückzug, die Todesgedanken. Das Leben: schwarze Watte. Eine lange Geschichte, an deren Ende Sebastian Kontakt zu LiGa aufnahm, sich bewarb und schließlich zu den Willems kam. Was beim Schreiben in zweidrei Sätze passt, ist im Leben ein langer Prozess. Brauchen Familien, die sich für LiGa interessieren, eigentlich eine Ausbildung beziehungsweise Fachkenntnisse? Deutliche Antwort: Nein. Was allerdings gebraucht wird sind Platz und Zeit sowie die Bereitschaft, einen psychisch kranken, erwachsenen Menschen mit seinen Problemen und Besonderheiten zu akzeptieren sowie die Bereitschaft, Fragen der Alltagsgestaltung zu besprechen, Absprachen zu treffen und auftretende Probleme rechtzeitig zurückzumelden.
Bereicherung
Fragt man Annegret nach einer Beschreibung dessen, was ihr das Leben mit der Familie bedeutet, antwortet sie mit einem Wort: Bereicherung. Dass Liesel Westerhoff-Unkrig und Robert Wolhorn die Willems am liebsten clonen würden, hängt damit zusammen, „dass wir viel mehr Gastfamilien bräuchten“. Natürlich kann man diesen Satz schreiben – natürlich kann man Menschen auf LiGa aufmerksam machen, aber am Ende geht es immer um diesen einen Schritt: Gedanken in die Tat umzusetzen, Kontakt aufzunehmen. Vielleicht wäre Annegret Willems nicht da, wo sie und ihre Familie heute sind, wenn da nicht der Bekannte gewesen wäre und gesagt hätte: „Das könnte was für dich sein.“
Kontakt
Wer sich für LiGa interessiert und das Gespräch mit dem Team sucht, wählt folgende Telefonnummer: 02821/813643.