Schreibkraft
Heiner Frost

Ein Angriff als Symptom

Sollte man ein Ständchen bringen? Der Beschuldigte hat Geburtstag. So ein Tag … Eine Richterin gratuliert. Der Vorsitzende schließt sich an und wünscht „trotz der Umstände“ alles Gute.

Wenn es schlecht läuft …

Es geht um die Anordnung einer Maßregel. Herr Z. könnte, wenn es schlecht läuft, auf unbestimmte Zeit in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht werden.
Es geht um „versuchte gefährliche Körperverletzung im Zustand nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit. Laut Staatsanwaltschaft soll der Beschuldigte am Morgen des 30. Mai mit einem Apfelschälmesser in Richtung des Bauches einer am Pflegeheim ‚Haus Simon‘ in Bedburg-Hau stehenden Person gestochen haben, welche jedoch ausweichen konnte und deshalb unverletzt blieb. Aufgrund einer psychischen Erkrankung soll nicht auszuschließen sein, dass der Beschuldigte sich in einem schuldunfähigen Zustand befunden hat. Ihm droht die unbefristete, geschlossene Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus“.

Nicht das erste Mal

Z.s Attacke ist nicht die erste dieser Art: Schon in einem Heim in Krefeld hat es einen ähnlichen Vorfall gegeben. Jetzt muss geklärt werden, ob Z. für sich oder die Allgemeinheit eine Gefahr darstellt. Es geht um die Schuldfähigkeit. Z. ist daher nicht Angeklagter – er ist Beschuldigter. Was passiert ist, tut ihm, sagt er, leid. („Mir tut das sehr leid.“) Z.s Biografie aus der Innensicht: lückenhaft. Er erinnert sich an Vieles nicht. Ausbildung? Nein. Schule? Weiß ich nicht. Gearbeitet hat Z. zunächst als Kranführer. „Wann war das?“, fragt der Vorsitzende. „Das weiß ich nicht.“ Den Job verliert Z. wegen eines Alkoholproblems. Danach kommt er irgendwie nicht wieder auf die Füße: Drei Schlaganfälle erleidet er – ist halbseitig gelähmt und auf Hilfe angewiesen. Allein wohnen kann er nicht mehr.

Hauptbahnhof

Er kommt in ein Heim. Dort der erste Vorfall. Man entlässt ihn fristlos. Sein Betreuer: ratlos. „Ich habe den dann in meinem Auto zum Hauptbahnhhof gefahren und ihn da ausgeladen. Ich wollte, dass man ihn als hilflose Person aufgreift. Das war die einzige Chance.“ Später wird der Vorsitzende diese Handlung mit der Bemerkung kommentieren: „Wir haben das hier nicht zu beurteilen.“

Angriff bleibt Angriff

Man findet ein weiteres Heim für Z. – es ist das „Haus Simon“ in Bedburg-Hau. Der Vorfall aus Krefeld „wiederholt“ sich: Wieder greift Z. eine Pflegekraft mit dem Messer an. Es passiert nichts. Aber: Angriff bleibt Angriff. Die Pflegerin sieht den Angriff nicht persönlich. „Der hat nicht mich gemeint. Der meinte die Zustände.“ Z. wird nach dem zweiten Vorfall zwangseingewiesen: Gefahr für sich und andere. Jetzt ist er in der LVR-Klinik und wird medikamentös eingestellt; kommt – ganz allmählich – zur Ruhe.

Z. will nicht bleiben

Aber: Z. will nicht bleiben. Er möchte in ein Heim. Einer der behandelnden Ärzte nennt Z. „den besten Patienten auf der Abteilung“. Die Angriffe, so sieht es die Gutachterin, sind keine Angriffe aus Bösartigkeit – „sie sind ein Symptom“. Da fühlt sich jemand hilflos. Z. ist dement. Die Demenz schreitet fort. Z. müsste, ist die Gutachterin sicher, in ein Heim, dass auf altersdemente Patienten spezialisiert ist. Aber: Mit einer Vorgeschichte wie der seinen will kein Heim ihn nehmen. Ja – die Voraussetzungen für eine Maßregel lägen, so die Gutachterin, vor, aber man könne die Unterbringung zur Bewährung aussetzen, wenn Z. weiterhin seine Medikamente einnehme und weiterhin in der Obhut des LVR-Klinik bleibe. Es gehe um „das richtige Setting“.

Bewährung? Ja, aber mit Auflagen

Z. ist nicht in der Lage, allein und selbstbestimmt zu leben. All das unterstreicht die Staatsanwaltschaft. Bewährung? Ja. Aber mit Auflagen (siehe oben). Was soll ein Verteidiger sagen? Er kann es kurz machen – kann sich anschließen: Bewährung mit Auflagen. Z. wiederum schließt sich seinem Verteidiger an. „Ich möchte in ein Heim“, hat er vorher gesagt. Z. – ein Mann, der in der Verhandlung einen ruhigen Eindruck macht. Er ist durchdrungen von dem Wunsch, „in ein Heim“ zu kommen. Zusätzlich zu drei Schlaganfällen hat Z. vor nicht allzu langer Zeit auch einen epileptischen Anfall erlitten. Da hockt einer in einem defekten Leben. Z. war – das erfährt man während der Verhandlung – lange Zeit ein schwieriger Patient: aufbrausend, aggressiv mit einem überzogenen Anspruch auf Zuwendung. Seit er in der Klinik ist, geht es erheblich besser. Eine Einsicht in sein Krankheitsbild allerdings kann man nicht erwarten. Z. ist ein Verlorener. Für das Gericht geht es um Abwägung.

Für und Wider

Niemand möchte Z. die Bewährung ermöglichen und dann erleben müssen, dass der noch einmal Menschen mit dem Messer bedroht. Eine Stunde nimmt sich die Kammer Zeit, um das Für und Wider einer möglichen Bewährung auszuloten.
Die Voraussetzungen für eine Unterbringung seien gegeben, stellt der Vorsitzende fest. Man habe sich „unter zahlreichen Auflagen für eine Bewährung entschieden“. Die Bewährungszeit: fünf Jahre. Die Auflagen: kein Alkohol, keine Drogen, das Einnehmen der Medikamente und das Verbleiben in einem Setting wie dem jetzigen.
Vielleicht findet sich ein Heim, das auf demente Patienten ausgerichtet ist. Es wird nicht einfach werden. Herr Z. darf seine Bewährung als Geburtstagsgabe sehen. Gesungen wurde nicht – gerungen wohl: um eine bestmögliche Lösung. Man darf hoffen, dass Z. nicht mehr auffällig wird.