Mit dem Alter ist es auch so eine Sache: Da steht eine Zahl im Ausweis (das Geburtsdatum), aus der sich das Alter ableiten lässt. Aber: Nicht immer stimmen tatsächliches und gefühltes Alter überein. Es entstehen Asynchronitäten – die Dinge sind nicht kongruent.
M/W
Das mathematische und das gefühlte Alter sind nicht deckungsgleich. Kein Drama. Bestenfalls fühlt man sich jünger als man eigentlich ist.
Aber was, wenn es nicht um die Zahlen im Pass geht, sondern um die Buchstaben – wenn das M(ännlich) W(eiblich) nicht dem Empfinden der Person entspricht, um die es da geht? Gesellschaften sind um Einordnungen bemüht. Einordnungen sind Schubladen – Klischees und letztlich Stempel. Aber was jemand ist, hängt nicht von Buchstaben in einem Ausweis ab. „Wir sind, was wir fühlen“, sagt Hedi Claahsen.
Claahsen ist Kinderärztin. Claahsen wohnt in und stammt aus Kranenburg. Sie arbeitet an der Amalia-Kinderklinik der Radboud Universität in Nimwegen. Ihr Fachgebiet: die Kinder-Endokrinologie.
Differences
Endokrinologie ist ein weites Feld. Claahsen befasst sich vor allem mit den „differences in sex development“ (DSD). „Früher stand das erste D nicht für ‚differences‘ sondern für ‚disorder‘.“ Das sagt schon sehr viel über die Entwicklung in der Gesellschaft. Dass jemand einen Unterschied zwischen dem Stempel und der gefühlten Wirklichkeit empfindet, wurde lange genug als eine Art Makel gesehen. Die Zeiten ändern sich und mit ihnen das Denken, die Kategorien, die Sichtweisen auf etwas, das „Geschlecht“ genannt wird.
Dass Menschen mit „unklarem“ Geschlecht auf die Welt kommen, ist ein Zustand, der zu den sogenannten „rare deseases“ (seltenen Krankheiten) gehört. Häufigkeit: 1:100.000. Aber was sind schon Zahlen? Fragen türmen sich auf – Fragen, die an die Wurzel eines Lebens, einer Existenz, einer Seele und an den Kern einer Gesellschaft reichen: Wann ist ein Mann ein Mann – wann eine Frau eine Frau?
Dass jemand äußerlich wie ein Mann wirkt und dann sagt „Ich bin eine Frau“ lässt sich nicht mit den Genen erklären und nicht mit Hormonen. „Du bist was du fühlst“, sagt Hedi Claahsen. Aber: Diese Art des Denkens kommt nur schrittweise im Bewusstsein all derer an, für die es zwischen ihrem Körper und ihrem Gefühl nie einen Unterschied gab. Es fehlt an der Vorstellungskraft für das innere Drama – die seelische Zerrissenheit. Seit März bietet die Amalia-Klinik nun eine Betreuung für Kinder und Jugendliche im Alter bis zu 15 Jahren an, die sich mit dem Thema „Geschlechtsinkongruenz“ befasst und Hilfe bietet. „Geschlechtsinkongruenz ist die Erfahrung, dass das Geschlecht, mit dem man geboren wird, nicht mit dem eigenen Gefühl übereinstimmt“, heißt es in einem Pressetext.
Steigende Zahl
Hedi Claahsen leitet ein Team, das sich mit Kindern und Jugendlichen beschäftigt, bei denen der Buchstabe im Ausweis nicht mit dem Gefühl in der Seele und im Leben übereinstimmt. (Du bist, was du fühlst.) In Claahsens Team arbeiten Endokrinologen, Psychologen, Psychiater, Chirurgen, Krankenschwestern und andere Spezialisten.
Claahsen: „Die Zahl der Menschen, die in den Niederlanden Hilfe auf dem Gebiet Geschlechtsinkongruenz suchen, ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen.“ Bei den bisherigen Zentren für Geschlechtsinkongruenz in Amsterdam und Groningen gibt es lange Wartelisten. Claahsen: „Die hormonale Behandlung von Kindern ist bisher nur in Amsterdam möglich.“
Nun hat das niederländische Ministerium für Gesundheit, Soziales und Sport das Universitätsklinikum Radboud gebeten, eine solche Behandlung ebenfalls anzubieten. Claahsen: „Dabei geht es zunächst darum, die Zahl der Menschen auf den Wartelisten zu reduzieren.“ Allein in Amsterdam stehen momentan rund 600 Kinder und Jugendliche auf der Warteliste.
Vermeintliche Kleinigkeiten
Das medizinische Zentrum der Radboud Universität ist längst als Kompetenzentrum für Menschen mit Variationen in der sexuellen Entwicklung anerkannt. Claahsen und ihr Team betreten also keineswegs Neuland. „Trotzdem haben wir uns natürlich auf diese zusätzliche Aufgabe intensiv vorbereitet“, erklärt Claahsen und fährt fort: „Zusammen mit unseren Netzwerkpartnern und mit Hilfe von Patientenorganisationen haben wir daran gearbeitet, unsere Betreuung für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsinkongruenzen optimal zu organisieren. Unser Ansatz ist – wie jede Betreuung im Amalia-Kinderkrankenhaus – kinder- und familienorientiert. Das bedeutet, dass wir in multidisziplinären Teams zusammenarbeiten, in denen wir individuell auf die Bedürfnisse des Kindes oder Jugendlichen und der Eltern eingehen und den Beratungs- und Behandlungsprozess entsprechend organisieren können.“
Für Claahsen ist dabei nicht nur der medizinische Aspekt von Bedeutung. „Es geht immer auch darum, wie wir auf die Menschen zugehen.“ Es geht um vermeintliche Kleinigkeiten, an die sich Patienten oft jahrelang erinnern, weil sie sich verletzt gefühlt haben: in ihrem Selbstverständnis – in ihrer Situation. Dass in Claahsens Team verschiedene Disziplinen unter einem Dach arbeiten, ist wichtig. „Das ist in Deutschland teils nicht so – da geht jemand zunächst zu einem Psychologen, muss dann zu einem Endokrinologen und so geht es von Station zu Station weiter.“ Natürlich ist es ideal, wenn interdisziplinär zusammengearbeitet wird. Claahsen: „Wir arbeiten mit dem kinderpsychiatrischen Zentrum ‚Karakter‘ zusammen, um von Anfang an alle Fragen im Bereich der Psychiatrie zu untersuchen. Auf diese Weise können wir alle Probleme so optimal wie möglich koordinieren. Gemeinsam mit den Kindern und Eltern besprechen wir, was das Kind oder der Jugendliche für eine optimale Entwicklung braucht.“
Bereits im kommenden Jahr soll in Nimwegen auch eine Erwachsenenbetreuung angeboten werden.