Schreibkraft
Heiner Frost

Die Waage des Gesetzes

Um 12.07 Uhr erhebt sich die Staatsanwältin zum Schlussplädoyer. Sieben Minuten dauert es, bis sie am Ende einen Freispruch fordert: Zu gegensätzlich die Aussagen der Zeugen …
Das kann der Kollege, der den Angeklagten vertritt, schwerlich anders sehen. 180 Sekunden braucht er, sich dem Antrag der Staatsanwaltschaft anzuschließen. „Wer diese Tat wirklich begangen hat, wird vorerst im Dunkeln bleiben“, sagt er und sein Mandant sagt nichts. Es ist 12.18 Uhr … „Wir werden versuchen bis 13 Uhr ein Urteil zu fällen“, sagt der Vorsitzende.

Herr A. soll – ein Messer in der Hand – eine Postfiliale nebst Lotto-Annahmestelle überfallen und 3.710 Euro erbeutet haben. Die überfallenen Angestellten leiden noch heute unter dem, was ihnen widerfahren ist. Niemand hat den Täter erkannt. Er war maskiert. Nach der Tat wurde ein Messer gefunden: keine Fingerabdrücke, keine DNA-Spuren. Herr A. ist kein unbeschriebenes Blatt. Da steht einiges auf seinem Strafkonto. Er hat – meist um sich Geld für Drogen zu beschaffen – schon öfter geraubt. Meist unter drohender Zuhilfenahme eines Messers und gleichzeitigem Weglassen vieler Wörter. Ein „Modus Operandi“ ist erkennbar.
Herr A. war in einer Entziehungsklinik untergebracht. Längst war er auf der Stufe angelangt, die Dauerbeurlaubung genannt wird. Dann allerdings war er positiv auf Kokain getestet worden und hatte sich aus dem Staub gemacht. A.s Kollegen, die zur Zeit des Überfalls im Ausgang waren, glauben, ihn erkannt zu haben. Einer will A. auf dem Motorrad haben davonfahren sehen. Ein schwarzes Motorrad, obwohl A. ein weißes Motorrad besaß. Er habe, hatte der Zeuge gesagt, gedacht, dass A. die Maschine schwarz lackiert haben könnte. Eine Zeugin hat – zehn Minuten nach der Tat – einen Mann an einem Motorrad gesehen. Sie hat sich das Kennzeichen gemerkt. AI 91. Später wird auf der Station in der Klinik ein Handy gefunden, das man A. zuordnet. Darauf – unter anderem – ein Motorrad mit dem Kennzeichen: IA 99. Ein Mitpatient von A. sagt aus, A. habe, nachdem in Tatortnähe ein Messer gefunden worden sei, nervös reagiert und gesagt, das sei aber sch… – da sei jetzt seine DNA dran. A. habe, sagt der Zeuge, die Tat nie zugegeben, aber das mit dem Messer und der DNA sei ja schon „megablöd“ gewesen. Ach ja: Die Kennzeichenzeugin hatte einen Mann mit schwarzen Gummihandschuhen gesehen und sich noch gedacht, das sei komisch, denn schließlich trage man doch beim Motorradfahren keine Gummihandschuhe. Auf einem Video, das den Täter zeigt, trägt der – die Staatsanwältin benutzt diesen Ausdruck – quietschblaue Gummihandschuhe.
Ein weiterer Mitpatient von A. sagte am ersten Verhandlungstag aus, der A. habe mit dem „Messerzeugen“ ständig Stress gehabt. Einmal soll der Messerzeuge gesagt haben, dass er den A. jetzt f*cken werde. Der Messerzeuge wird ein zweites Mal geladen: Nein – er hat keinen Stress mit A. gehabt; einmal vielleicht eine Auseinandersetzung wegen der Nutzung von A.s Handy. Nein – A. hat ihm gegenüber die Tat nie zugegeben. Die Sache mit der DNA habe er A. aber gesagt.
Es gibt in diesem Fall, denkt der Laie, so viele Ansätze für begründeten Zweifel, denen nur Aussagen gegenüberstehen, die … was soll‘s … Staatsanwaltschaft und Verteidigung sind sich einig: sie beantragen – siehe oben – Freispruch. Und doch hat mein kein gutes Gefühl.
Um 13.14 betritt die Kammer den Saal und verkündet … keinen Freispruch. Acht Jahre bekommt A. wegen besonders schweren Raubes. Man nennt so etwas „freie Beweiswürdigung“. Für die Kammer, das offenbart sie jetzt, hat es keine Zweifel gegeben. Die logische Folge: Wenn es keine Zweifel gibt, kann daraus nur eine Verurteilung folgen. Der Messerzeuge: glaubwürdig. Er hätte es sich doch einfach machen können. Er hätte doch nur zu sagen brauchen, A. habe ihm gegenüber die Tat gestanden. Aha. So kann man das natürlich auch sehen. A., ist die Kammer sicher, hat Geld gebraucht. Fünf Gramm Kokain am Tag wollen finanziert sein. Und da ist dieser Modus Operandi. A. hat einige ähnliche Taten begangen. Und dann der Zeuge, der indirekt den Messerzeugen belastet hat, indem er ihm indirekt eine Belastungsabsicht in Richtung A. unterstellte. Das aber ergebe doch, so die Kammer, keinen Sinn, denn er – der Messerzeugebelastungszeuge – habe ja selber gegen A. ausgesagt. Aha. A. sei, so die Kammer, unbelehrbar. Alle bisherigen Strafen und Therapien ließen ihn unbeeindruckt. Es gebe kaum etwas, das für ihn spreche. Man könne ihn nicht zu einem neuerlichen Aufenthalt in einer Klinik verurteilen. Es habe sich gezeigt, dass das zu nichts führe. Es sei an der Zeit, dass A. über die Zukunft nachdenke. Noch eine ähnliche Tat irgendwann und er sehe mit großer Wahrscheinlichkeit einer Sicherungsverwahrung entgegen. Er könne nicht zurück in sein altes Leben. A. könne gegen dieses Urteil Rechtsmittel einlegen.
Bis hierher hat die Disziplin des Schreibers gereicht. „Bei den Ermittlungen ist einiges schief gegangen“, hatte der Verteidiger in seinem Plädoyer gesagt.
Man ist geneigt, ihm Recht zu geben. Trotzdem: Man hätte im Fall eines Freispruchs nicht gewettet, dass A. die Tat nicht begangen hat. Man kann viele Geschichten so erzählen, dass am Ende das Erzählen den Ausschlag gibt und sich über die Inhalte erhebt. Man kann – es hängt einfach vom eigenen Standpunkt ab – Geschichten so und so sehen. Laien tun das …
Gerichte fällen ihre Urteile nach anderen Gesichtspunkten. Vor dem Gesetz, heißt es, sind alle gleich. Im Zweifel für den Angeklagten, heißt es auch. Und manchmal steht man staunend da. Wahrscheinlich ist man zu subjektiv, um zu verstehen, was da passiert ist. Gut, dass es Richter und Schöffen gibt, die fernab aller Zweifel arbeiten. Und würde jemand fragen, ob diese Gedanken zynisch sind, würde man – dies eine Mal – die Aussage verweigern und notfalls der Beugehaft ins Auge blicken. Für Herrn A. hat es nicht gereicht. Er brauchte Geld für Drogen und dann ist da noch der Modus Operandi … Zweifel an seiner Tat? Nicht für dieses Gericht. A. war‘s. Klappe zu und der Kammer angenehme Träume.