„In India you drive with horn“, sagt der Fahrer. (In Indien fährst du mit der Hupe.) Danach taucht das Auto in die Nacht. Flughafen Chennai, 28. April 2005, Ortszeit 23.50 Uhr. Außentemperatur: 36 Grad Celsius. „Wir haben hier drei Jahreszeiten“, sagt Mister Devadas: „Heiß, heißer, am heißesten.“ Die Stadt steht schwarz und schweiget. Großstädte – ich erinnere mich, das irgendwo einmal gehört zu haben – Großstädte sind nachts aus dem Weltall mit dem bloßen Auge zu sehen. Diese Stadt, denke ich, diese Stadt sieht niemand von da oben. Leben – vor allem aber: Sterben – findet hier ohne Zeugen statt.
Chennai (früher Madras) ist ein Vier-Millionen-Moloch. Köln, Frankfurt, München, Berlin – das alles ist dagegen Kindergeburtstag. Aber: Kindergeburtstag mit Licht. Hier ist es dunkel. Straßenbeleuchtung? Fehlanzeige. Die Stadt steht schwarz … Aber sie schweigt nicht. Da, wo Geschäfte sind, ist die Beleuchtung spärlich. Abseits davon herrscht Dunkelheit. Schon jetzt gewährt Chennai einen Einblick in das Nebeneinander von Hell und Dunkel, Wohlstand und Elend. Schon jetzt zeigt sich: Es gibt kein Grau. Schwarz und Weiß wohnen Seite an Seite. Indien öffnet seinen Schlund und zieht mich hinein in eine Welt, die mit dem, was ich vor zwanzig Stunden verlassen habe, nichts zu tun hat. Der Verkehr ist auch jetzt – nach Mitternacht – gewaltig. Und laut. („In India you drive with horn.“) Das scheinbare Chaos entpuppt sich nach fünfzehn Minuten ‚Straßenkrawall‘ als eine geniale Mischung aus Weg-Zeit-Berechnung und immer wieder in Kraft tretendem Lebensrettungszufall. „Relax“, sagt Mister Devadas. „Relax, now you’re in India.“ (Entspannen Sie sich. Jetzt sind Sie in Indien.) Nach zwanzig Stunden Reise fällt das Entspannen schwer. Eine Stunde werden wir noch brauchen – bis zum Ziel. Eine Stunde lang beginne ich zu ahnen, was mich erwartet – in den nächsten zehn Tagen. Eine Stunde lang versuche ich, mir ein anderes Leben vorzustellen. Europa vergessen. Wenn ich mein Ziel erreiche, beschließe ich nach der Hälfte der Strecke, wenn ich lebend das Ziel erreiche, werde ich morgen entsannt sein.
Traumland
Indien ist kein Land für Kurzentschlossene. Schon das Visum braucht seine Zeit, und was an Impfungen ratsam erscheint – darüber streiten sich die Gelehrten. Andere auch. Sie haben mich gegen Hepatitis geimpft und ich weiß nicht, wogegen sonst noch, aber: Es gibt nicht gegen alles ein Serum. Das merke ich bei der zweiten Fahrt durch Chennai. Gestern noch von der Dunkelheit verschwiegen, zeigt sich heute eine farbensatte Mischung aus Leben und Untergang: Das indische Bankett serviert Süßspeisen und Schierlingsbecher auf demselben goldglänzenden Tablett und wer nach dem einen greift, muss auch das andere sehen. Wer Träume sucht, darf sich nicht vor Albträumen fürchten. Indien ist kein Albtraum – es zeigt nur viel deutlicher als alles, was ich bisher gesehen habe – zwei Seiten einer Medaille, ohne dass man dazu umdrehen müsste. Chennai bei Tag – das ist der Lärm, das Chaos, die Betriebsamkeit – das sind aber auch die Menschen und vor allem: Ihr Lächeln. Ich nehme mir vor, genauer darauf zu achten und werde nach zehn Tagen zu dem Ergebnis kommen, dass hier fast überall offene Freundlichkeit aus den Gesichtern strahlt: Etwas unverbraucht Unvoreingenommenes. Wenn Chennai auch wie ein Ameisenhaufen ist – es gibt keine Hektik. Man taucht in diese Stadt wie in eine Narkose bei vollem Bewusstsein. das hier ist nichts für Hochglanzprospekttouristen. Einen Prachtboulevard, der Freud und Leid in sichtbar und unsichtbar unterteilt, gibt es nicht. Jeder Blick gibt alles frei. Zu sehen gibt es reichlich. Da wären die modernden Reste aus englisch-kolonialen Zeiten, die Basarstraßen, das Meer. Eine beliebige deutsche Großstadt zur Hauptverkehrszeit wirkt – verglichen mit Chennai an einem schläfrigen Morgen – ein bisschen wie ein traumatisierter Goldfisch in einem Makrelenschwarm. Chennai hat eine der längsten Strandpromenaden der Welt: Marina Beach. Baden sieht man kaum jemanden. Touristen gibt es nicht und wo vor dem Tsunami die Menschen sich am Strand in den warmen Wind stellten, gähnt jetzt Sand. Viele haben Angst vor dem Meer, weil es den Frieden so brutal gebrochen hat. Sie trauen dem Wasser nicht mehr, werden mir die Fischer später erzählen. Dem Strand sieht man schon jetzt nicht mehr an, was hier passiert ist. Aber in den Resten der Slums, in denen vormals Menschen wohnten, sieht man, wie die Welle getobt haben muss. Was man vorher noch Elend nennen konnte, dafür stellt die Sprache jetzt keine Vokabeln mehr zur Verfügung. An einer Stelle hat die Flut ein Fischerboot in ein Haus geworfen. Von beidem sind nur Trümmer geblieben – Trümmer, die eine Ahnung von der Wucht vermitteln. Die Menschen, die in dem Haus wohnten, hat niemand mehr gefunden. Es gibt sie nicht mehr. Die Welle hat sie verschluckt. Mitgerissen. Angesichts solcher Bilder wird Ohnmacht greifbar. Ich treffe eine Frau: Als die Flut kam, war sie zum Einkaufen – oben, in der Stadt. Die drei Kinder: Zuhause. Das Meer hat sie mitgenommen – hat die Frau zu einer Mutter ohne Kinder gemacht. „Die Kinder“, sagt sie, „kommen nicht zurück.“ Ihr Mann – ein Fischer – ist auf dem Meer geblieben. Kein Grab. Kein Abschied. Keine Blumen.
Reden
Wir besuchen ein Lepra-Krankenhaus. Es wird von Ordensschwester geführt. Kein Regierungskrankenhaus. Hier gibt es eine Heimat für Menschen, die einmal Familien hatten. Dann wurden sie verstoßen. Die Lepra ist eine heimtückische Krankheit. Zuerst zeigen sich nur ein paar helle Flecken auf der Haut. Nichts schmerzt. Würde man mit einer Nadel in die Flecken stechen – es würde nichts passieren. Die Lepra tötet das Bewusstsein für den Schmerz. Wenn dann die offenen Stellen entstehen – Entzündungen zuerst – bricht bei den Menschen die Angst aus. So war es früher. So ist es auf dem Land oft heute noch. Es mangelt an Aufklärung. Wenn die Krankheit zeigt, werden die Kranken ausgestoßen. Von einem auf den anderen Tag verlieren sie alles. Ich erfahre: Längst ist Lepra heilbar. Fünfzig Euro kosten die Medikamente für die Heilung. Dass die Krankheit heilbar ist, wissen sie überall dort, wo das Geld gesammelt wird. In Indien trifft dieses Wissen erst ein, wenn genügend Aufklärungsarbeit geleistet wird. Den Menschen, die ich hier im Leprakrankenhaus treffe, hilft das nicht mehr. Sie sind Verstoßene. Haben sich eingerichtet in einem anderen Leben. Sind getilgt aus der Statistik des Staates, der nach Neuerkrankten sucht. Die Zahl der Neuerkrankungen sinkt. Das Klassenziel: Erfolgsmeldungen von der Ausrottung der Krankheit. Die, die seit Jahren krank sind, gehören nicht in die Welt der Statistik. Sie existieren nicht. Wer nicht existiert, für den muss niemand zahlen. Hier sehe ich die Menschen, die nie eine Chance hatten. Von Geburt an nicht. Einmal täglich werden die Wundverbände gewechselt. Wer hier zusehen möchte, braucht starke Nerven. Rohes Fleisch, das mitunter den Blick bis auf die Knochen freigibt. Ein unerträglicher Geruch macht sich breit. Die Schwestern haben bei alledem immer ein Lächeln für ihre Patienten. In einem dunklen Raum liegt ein Mann auf einer Pritsche. Er wird in Kürze einhundert Jahre alt werden. Er ist seit mehr als vierzig Jahren hier. Blind, taub, stumm. Einzig Berührung zeigt ihm, dass jemand sich um ihn kümmert. Am Abend veranstalten die Schwestern und die Kranken einen Empfang. Ein Mann, dem man anmerkt, dass er einmal etwas dargestellt haben muss im Leben, trägt auf Englisch ein Gedicht vor und bedankt sich im Namen der Kranken. Am rechten Fuß fehlen im alle Zehen – an der rechten Hand drei Finger. Er lächelt. In einer kleinen Werkstatt auf dem Krankenhausgelände stellen sie aus alten Autoreifen Sandalen her. Die Lepra ist tückisch: Wenn sie die Füße befällt, merkt der Kranke nicht, wenn er in einen Nagel tritt oder eine Scherbe. Die Entzündung bricht aus und endet nicht selten mit dem Verlust der Zehen. Der Mann, der das Gedicht vorgetragen hat, war einmal Lehrer, erzählt eine der Schwestern. Er hatte ein Haus, eine Familie, ein Ansehen. Jetzt hat er von alledem nichts mehr. Seit dreißig Jahren ist er hier, und nicht einmal hat jemand nach ihm gefragt. Seine Frau nicht, seine Kinder nicht – niemand. Hier lebt er. Hier wird er sterben. Beim Empfang spricht jemand über die Arbeit der Leprahilfe-Gruppen in Deutschland. Eine der Schwestern übersetzt das Englisch in die Landessprache Tamil. „Und jetzt Sie“, höre sich ich Sie sagen und merke, dass sie mich meint. Jetzt soll ich reden. „Mr. Frost is a journalist from Germany“, sagt einer, und die Nonne übersetzt auf Tamil. Ich blicke in die erwartungsvolle Gesichter. „Ich kann nicht viel versprechen“ sage ich auf Englisch und es echot auf Tamil – „ich kann nicht viel versprechen, aber so viel ist sicher: Ich werde dafür sorgen, dass man bei uns zuhause von Ihnen erfährt – Sie nicht vergisst.“ Erlebe und schreibe. Der journalistische Imperativ. Und: Überall dabei sein, nirgends dazugehören. Hans-Joachim Friedrichs hat das gesagt. Ein gedachter moralischer Imperativ, der hier nicht funktionieren will. Wenn sie dich anstrahlen, gehörst du dazu. Unweigerlich. Ich soll ein Foto machen, bitte. Eines, auf dem man sie sehen kann. Glücklich. Aber auch eines, das Elend zeigt. Fotografiert werden möchten sie alle hier. Wer in einem Bild auftaucht, existiert. Ein Bild ruft sie ins Leben.
… und abends schon ein neues Leben
Plakatwände sind in Indien so groß wie überall. Sie zeigen: Das Leben kann immer einen Tick schöner sein. Komfortabler. Besser. Angenehmer. Luxuriöser. „New knee in the morning. Back on your feet by evening“, steht auf einem. Das ist praktisch: Am Morgen das neue Knie. Abend schon wieder auf den Beinen. Indien und die Medizin. Schon gibt es Touristen. Indien – die Reparaturstation. Der Haken: Du musst es dir leisten können. Ausländer können es sich leisten. Amerikaner kommen: Reise und Behandlungskosten zusammen – günstiger als der Doktor daheim. Das überzeugt Versicherungen. Wer spart, macht Geschäfte. Wer Geschäfte machen kann, macht sie. Also werden Kliniken gebaut. Vier-Sterne-Häuser mitten im Elend. Health and holiday. Gesundheit und Ferien. Bitte sehr. „Die Behandlung bei uns kann sich zwar nicht jeder leisten, aber wir behandeln alle unsere Patienten gleich“, sagt ein Arzt. (Morgens ein neues Knie – abends schon wieder auf den Beinen.) Die Ärzte sind gut, das Personal bestens geschult. Gesundheit als Dienstleistung. Das Unternehmen Indian Health ist zum Erfolg verdammt. Die Menschen, die ich im Lauf der Reise kennenlerne, können sich kein neues Knie leisten. Sie müssen mit dem Vorlieb nehmen, was das Leben ihnen lässt. Immerhin gibt es Alternativen: Schmerz und Amputation. Indien ist das Land der Zukunft. Wem diese Zukunft gehört, muss noch geklärt werden. In den Slums von Chennai leben die Menschen, denen die Zukunft am Tag ihrer Geburt abhanden gekommen ist. Ein Dach über dem Kopf – das ist hier der erste Luxus. Wer wissen will, was an dem Punkt passiert, den man das Existenzminimum nennt, findet hier reichlich Studienmöglichkeiten. Und trotzdem: Die Menschen, die ich treffe, sind freundliche Menschen. Viele sind sogar zufriedene Menschen. Sie leben in der Gewissheit, dass es welche gibt, denen es noch schlechter geht. Sie leben nicht in dieser Gewissheit – irgendwie leben sie auch von dieser Gewissheit. So funktioniert die Welt. Und über allem: Das Paradies der Werbung, das Hoffnung spendet und Trost. Von denen, die auf den Bürgersteig unter den Reklametafeln wohnen, weiß kaum jemand, das, was da bunt als das bessere Leben angepriesen wird, zwar den Luxus mit sich bringt, aber bestimmt nicht die Zufriedenheit.
Zu hoch
Pius Kalathil kennt sich aus auf der Schattenseite des Lebens. Er leitet das Gremaltes-Hospital in Chennai. Er kennt die Menschen, für die die bunten Reklametafeln im wahrsten Sinne des Wortes zu hoch hängen. Sie leiden an Lepra, Tuberkulose und neuerdings auch an Aids. Wenn Indien sich auch an vielen Stellen die moderne Welt nicht leisten kann – Aids ist längst da. Außer den Kranken sind da noch die, deren Leben von der Welle zerfetzt wurde. Der Tsunami hat ihre Familien zerrissen. Zusammen mit der GLRA (German Leprosy Relief Association) haben Pius und andere Hilfsprogramme gestartet. Pius ist einer, der gelernt hat, die Dinge positiv zu sehen. „Durch die Flut haben wir die Gelegenheit bekommen, Programme aufzulegen, die es sonst nicht gegeben hätte.“ Nach der Flut haben Pius und andere die Welt wieder auf die Beine gestellt. (Gestern noch abgesoffen – heute schon wieder auf den Beinen.) Indien hat ein Kapital, das vielen arrivierten Gesellschaften längst abhanden gekommen ist. Indien Kapital heißt Jugend. Es wird nicht geschätzt. Vielen Kindern geht es schlecht. Pius kümmert sich auch um die Kinder. Nach der Flut hat die GLRA für ein Stück Wiederaufbau gesorgt. Sie haben Boote für die Fischer besorgt, Netze und anderes Werkzeug. Sie haben eine Infrastruktur geschaffen. Die Fischerfrauen betreiben jetzt einen eigenen Markt – verkaufen, was ihre Männer aus dem Meer holen. Der Fisch wird mit solarbetriebenen Trocknern haltbar gemacht. Es geht um Hygiene. Da, wo die Fischer leben, findet Hygiene nicht statt. Am Strand gibt es keine Toiletten. Menschen und Tiere verrichten ihre Notdurft auf dem Strand – gleich da, wo auch der Fang getrocknet wird. Durch die Solartrockner hat sich die Situation verändert. „Wir versuchen auch, Toiletten zu bauen“, erklärt Pius Kalathil bei einem Rundgang. Was für den Europäer klingt, als sei es normal: Hier muss es erst verankert werden. Aber es gibt nicht nur Boote, Netze, Fischtrockner und den Markt: Da sind auch die Kinder. Auf sie konzentrieren sich Pius und seine Helfer jetzt. Ohne den Tsunami wäre das erst viel später passiert. Ironie des Schicksals. Jetzt legen sie ein Förderprogramm für die Ärmsten der Armen auf. Die Kinder sind begeistert: Sie dürfen lernen. Spüren eine Chance. „Es ist gar nicht so einfach, den Eltern die Bedeutung unserer Arbeit zu erklären“, erklärt Pius die Probleme der Situation. Für die Eltern sind Kinder Arbeitskräfte. Schule muss nicht sein. Ein Kind, das lernt, kann nicht arbeiten – kein Geld verdienen. Aber nicht nur Kinderarbeit ist ein Thema: „Wir haben es in manchen Familien auch mit Kindesmissbrauch zu tun“, sagt Kalathil. Abartigkeiten dieser Art, hatte ich bisher gedacht, seien eine Begleiterscheinung vermeintlich höher entwickelter Strukturen. ‚Missbrauch muss man sich leisten können‘, hatte ich gedacht. „Hätten Sie mich vor einem Jahr gefragt, hätte ich das auch gesagt“, antwortet Pius. Jetzt weiß er es besser. Leider. Jetzt geht es um die Kinder und um ihre Chance im Leben. „Natürlich können wir das Geld aus den Spendenaktionen nur in Boote, Netze und in Fischtrockner stecken. Aber das allein reicht eben nicht.“ Wer die Kinder unterstützt, fördert die Hilfe zur Selbsthilfe und baut ein Stück Zukunft. Morgens eine Chance, und abends schon ein neues Leben. Diese Reklametafel ist noch nicht gedruckt.
Nila
Es fing mit Nila an. Das war vor achtzehn Jahren. Jemand hatte Nila nachts ans Tor gebunden – entsorgt, wie man Müll an die Straße stellt. Es war nicht in Deutschland. Es war nicht vor den Sommerferien, und Nila war kein Hund. Es war einmal Indien. Es war irgendwann im Oktober, und Nila war ein kleines Mädchen. Geistig behindert. Wertlos für die Familie. In einem Land, wo Kinder mithelfen müssen, die Familie zu ernähren, macht Behinderung aus nützlichen Wesen eine Last. Das klingt hart. Das ist hart. Aber anderswo entsorgen sie Kinder in Kühltruhen oder lassen sie verhungern. Nilas Eltern kamen nie zurück. In all den Jahren nicht. Sie wussten ihr Kind in guten Händen. „Wie alt war Nila damals?“, frage ich. Sister Agnes zuckt mit den Schultern. „Zweieinhalb vielleicht.“ (Two and a half. Maybe three.) Damals, vor achtzehn Jahren. Sister Agnes – Nachname Xavier. Vorname: Dr. med. Beruf? Schwer zu sagen. Sie hat Ärztin gelernt und ist Angestellte in einer großen Firma, deren irdischer Manager, Benedikt, ein Deutscher ist. Ihr wirklicher Chef aber heißt Gott. Für ihn arbeitet sie. Seit mehr als fünfzig Jahren schon. In Nilakotai hat Sister Agnes ihr Hauptquartier. Nilakotai ist ein Flecken tief im südöstlichen Bundesstaat Tamil Nadu, nahe der Grenze zum Nachbarstaat Kerala. Von Chennai aus fährt man die rund vierhundert Kilometer bis Nilakotai mit dem Auto in rund zehn Stunden – wenn alles gut läuft. Nilakotai ist Agnes‘ Schaltzentrale. Hier hört alles auf ihr Kommando. Hier kämpft sie für das Leben, um das Leben. Und manchmal: Mit dem Leben. Gegen das Leben. Nein – nicht gegen das Leben: Nur gegen dessen Ungerechtigkeiten. Hier in Nilakotai fing alles an. Es begann mit den Leprakranken. Vor fünfundzwanzig Jahren. Damals war Lepra ein großes Thema in einem großen Land. Die Lepra hat ein Stigma. Agnes‘ Leprastation wurde schon damals vom DAHW unterstützt. DAHW – das steht für Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe und hieß früher – passend zur Abkürzung – Deutsches Aussätzigenhilfswerk. Aber: Es gibt Wörter, die aus der Mode kommen. In Indien fungiert das DAHW als GLRA (German Leprosy Relief Association). Namen spielen eine zentrale Rolle im Konzert der Hilfe. Es fing mit Lepra an. Heute ist Lepra in Indien nicht mehr das Thema von einst. In manchen Bundesstaaten gilt die Krankheit, die sich im Frühstadium in den allermeisten Fällen mittels Tabletten heilen lässt, als ‚extinct‘ – ausgerottet. Natürlich gibt es eine Formel für das Prädikat extinct. Sie hängt mit der Zahl der Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner zusammen. Statistischer Hintergrund für Erfolgsmeldungen. Neue Patienten gibt es kaum. Aber: Es gibt viele Langzeitpatienten. Damals, in den Zeiten des Stigmas, kamen sie zu spät, um geheilt zu werden. Damals bedeutete Lepra – vor allem in ländlichen Gegenden – das Aus. Menschen wurden verstoßen – waren urplötzlich ohne Familie und Freunde. Allein. Nutzlos. Ausgestoßen. Heute sind die Patienten von damals Pflegefälle. Die Geschwüre, die sie zeigen, bringen dem Betrachter schlechte Träume. Mit diesen Menschen am Rande des Nichts fing die Lepra-Arbeit an. Aus der Statistik der Erfolge sind sie längst gestrichen. Karteileichen. Lebendige Tote. Sister Agnes kümmert sich nicht nur um die Leprapatienten. Längst ist in Nilakotai auch eine Augenklinik entstanden. Mehr als eintausendzweihundert Operationen am Grauen Star werden hier pro Jahr mit Erfolg durchgeführt. Und dann ist da noch das allgemeine Krankenhaus. Und: Nila – längst erwachsen. Längst nicht mehr allein. Es ist viel passiert: Sister Agnes hat nicht nur eine kleine Kirche entworfen und gebaut – es kam auch die Schule für geistig Behinderte dazu. Knapp einhundert werden mittlerweile in Nilakotai unterrichtet. Längst werden nachts keine Kinder mehr ans Tor gebunden. Sister Agnes hat den Eltern bewiesen, dass auch Behinderte etwas leisten können. Sie lernen Lesen und Schreiben –so gut es eben geht. Manche schreiben ihren Namen auf kleine Schiefertafeln. Andere sortieren Zahlen. Sie lernen hier aber noch etwas Wichtigeres: Stolz zu sein. Stolz sein. Stolz haben. Nützlich sein. „Wenn wir den Kindern hier etwas beibringen, ändern wir die Sichtweise ihrer Eltern. Das ist wichtig. Wenn die Eltern merken, dass die Kinder zum Unterhalt der Familie etwas beitragen können, ist alles ganz anders. Niemand muss sie dann entsorgen. Deshalb wird niemand mehr nachts ans Tor gebunden. Die Eltern kommen mit ihren Kindern und bitten uns, ihre Kinder in unsere Schule aufzunehmen“, sagt Sister Agnes. Sie erzählt das so, als hätte sie nichts mit dieser Änderung zu tun.
Sister Agnes‘ neueste Idee: Wenn aus den Kinder Erwachsene werden, möchte sie ihnen weiterhelfen. Sie möchte ihnen Arbeit geben können. Mit einer kleinen Gruppe funktioniert das schon. Die Jugendlichen produzieren Räucherstäbchen. Eine simple Arbeit – aber eine, die sie bewerkstelligen können. Für Sister Agnes nicht genug. Sie wäre nicht Sister Agnes, wenn sie nicht längst an der Verwirklichung der nächsten Idee arbeiten würde. Sie will Seife produzieren – mit ihren Jugendlichen. Dass die kleine Frau in der weißen Schwesterntracht mit dem Irdischen nicht weltfremd umgeht, beweisen ihre Erfolge und Visionen. Längst ist für ihr neues Projekt ein Masterplan erstellt. Längst weiß Dr. Xavier, wo sie die erforderlichen Maschinen bekommen kann, und längst hat sie Abnehmer für die Produkte gefunden, die künftig hergestellt werden sollen. („Wenn du etwas verkaufen möchtest, muss es auch Abnehmer geben.“) Alle hier nennen Agnes „Sister Fastfast“ (Schwester schnellschnell), und Sister Fastfast hat auch bereits das „Personal“ für die geplante Fabrik beisammen. Nur eines hat sie noch nicht: Das Geld. Agnes Xavier sucht Sponsoren. Für den Anfang geht es um eine „German Kleinigkeit“. Das Wort stammt nicht von ihr. Kleinigkeiten gibt es nicht. Trotzdem: Die fünftausend Euro, die Sister Fastfast für den Start des Projektes braucht, sind in Nilakotai nicht aufzutreiben. „Vielleicht können Sie da etwas machen“, sagt sie und fügt hinzu: „If it is God’s will we can do it.“ (Wenn es Gottes Wille ist, werden wir das schaffen.) Manchmal braucht Gott das nötige Bodenpersonal, denke ich. Es ist kurz nach 22 Uhr abends. Sister Agnes ist seit fünf Uhr auf den Beinen. Draußen hört man eine Trillerpfeife. „Das ist der Nachtwächter“, erklärt sie. „Immer zur vollen Stunde muss er ein Signal geben. Ich möchte wissen, ob alles in Ordnung ist.“ (Und natürlich will sie auch wissen, ob er seine Arbeit tut. Vertrauen ist gut …) Am nächsten Morgen um 5.30 Uhr wird der Tag mit einem Gottesdienst beginnen. Danach: Frühstück. Visite im Krankenhaus. „Unser Krankenhaus hat einen sehr guten Ruf“, sagt Sister Agnes. „Gleich zeige ich Ihnen die Räume, wo wir demnächst unsere kleine Seifenfabrik betreiben wollen.“ Über das Gelände läuft – freundlich lächeln – eine junge Frau im blauen Sari. „Das ist Nila“, sagt Sister Agnes. Mit ihr fing alles an …“
Hier kommt nichts weg
Ein Hundejahr sind sieben Menschenjahre. Oder sind es sechs? Ganz egal. Ein Deutschlandkilometer auf der unwegsamsten Straße entspricht zehn oder fünfzehn Indienkilometern. Zeit ist gefragt. Immer ruhig bleiben. Wir besuchen einFischerdorf außerhalb von Chennai. „It’s not very far“, erklärt Mr. Devadas. (Es ist nicht sehr weit.) Die Fahrt dauert ungefähr zweieinhalb Stunden. Mr. Devadas hat vorgesorgt. Hinten im Auto – ein indisches Picknick: Wasser in Plastikflaschen. Sandwiches, Früchte, Plastikbecher, Servietten. Auf dem Rückweg halten wir an. Das Auto steht mitten im Nichts. Nirgends Bäume. Die Temperatur liegt irgendwo zwischen Fön und Backofen mit Umluft. Schon das Sprechen strengt an. Obst tut gut. Wasser auch. Nach einer halben Stunde ist alles aufgegessen. Mr. Devadas wirft die Plastikbecher ins Feld. Die Flaschen auch. Meine Tochter würde sagen: „Das finde ich doof!“ Ich vielleicht auch. Hier nicht. Mr. Devadas holt den Pappkarton, der einstmals einen Fernseher beherbergte, und stellt ihn an den Straßenrand. „Warum nehmen wir den Müll nicht mit?“, frage ich vorsichtig, um den antrainierten Umweltgewissen zur Abendruhe zu verhelfen. „Not necessary!“, antwortet Mr. Devadas mit einem leicht irritierten Blick. (Nicht nötig!) Wir steigen zurück ins Auto und sind keine hundertfünfzig Meter gefahren – da tauchen wie aus dem Nichts drei Gestalten auf, greifen sich Karton, Flaschen und Becher und sind auch schon wieder verschwunden. „Es gibt hier nichts, was nicht gebraucht wird“, sagt Mr. Devadas mit einem Lächeln. Drei Tage später besuchen wir an anderer Stelle Leprakranke, die aus einem Projekt der Lepra- und Tuberkulosehilfe unterstützt werden. Sie bekommen einen Microkredit zur Existenzgründung. Mr. Srinivasan, der uns begleitet, stellt uns einen Mann vor, der mit seinem Geld einen Laden eröffnet hat. Wir stehen vor etwas, das man bei uns daheim einen Verschlag nennen würde. Alles steht voller Müll. „Was verkauft der Mann?“ frage ich Mr. Srinivasan. „Den Müll“, kommt die Antwort. Mein Blick schweift über die „Auslagen“: Plastikbecher, leere Flaschen, Pappkartons …
Als wir abend in den Zug nach Kumbakonam steigen, hat Mr. Srinivasan vorgesorgt: Getränke, Sandwiches – sogar ein Bier hat er gekauft. Nach einer Stunde Fahrt steht der Zug in einem Bahnhof. Es ist dunkel– das Ortsschild kann ich nicht lesen. Ich habe ein Bier getrunken. Die leere Dose stecke in den Rucksack, als mein Blick auf Mr. Srinivasan fällt. „Throw it out“, buchstabiert er mit den Lippen, ohne einen Ton zuzugeben. (Werfen Sie es raus.) Ach ja – richtig. Ich nehme die Dose und werfe sie auf die Gleise. Mr. Srinivasan zeigt mit dem Finger nach draußen und dann auf den Sekundenzeiger seiner Uhr. Tatsächlich: Es dauert keine fünfzehn Sekunden und die Dose ist weg. Wer den Menschen helfen will, denke ich, muss zuerst verstehen wie sie leben. „Wenn Sie ihren Müll behalten“, sagt Mr. Srinivasan, „stehlen Sie ihn den anderen.“
Willkommen
Aus Indien kommst du nicht einfach zurück. Du steigst nicht aus dem Flugzeug und bist zuhause. Du bist unterwegs – einen Tag lang; irgendwo zwischen den Welten kommst du niemals an. Heimat ist etwas Fremdes geworden. Die kleinen Katastrophen hier haben jetzt etwas Lächerliches bekommen. Die hier leben– zusammen mit dir – können nichts dafür, dass sie leben, wie sie leben. Und doch sind sie dir fremd geworden, weil du dir selber fremd geworden bist. Dass jemand sich aufregt, weil er die Übertragung eines Fußballspiels verpasst hat, wird zur lächerlichen Wohlstandstragödie. In deinem Kopf das Bild der alten Frau, die am Stadtrand von Chennai in einem Waschmaschinenkarton wohnt. Die Fotos. Die Geschichten. Die Gesichter. Was bringst du mit? Demut vielleicht – und den Wunsch, etwas zu bewegen. Bewegen heißt für dich: beschreiben. Also erinnere dich und schreibe. Die erste Nacht im eigenen Bett empfindest du, als hättest du etwas nicht verdient. Am nächsten Morgen der erste Anruf: „Sie waren in Indien? Da soll’s ja billig sein. Wie war das Wetter?“ Gegen die Rückkehr, denkst du plötzlich, gegen die Rückkehr gibt es kein Serum. Endlich Substanzen. Mooshammers Hund ist verstorben. Bye, bey, Daisy. Friedlich eingeschlafen im Tragetäschchen –beschallt von einem Hörbuch mit Herrchens Stimme. Sören und Jessica haben eine neue Couch gekauft. Leder. Designerware. Tausend Euro. Chanel wird sich freuen. Chanel ist die Chihuahuadame mit den rosa lackierten Krallen. Sie hat ein eigenes Zimmer mit Dusche und lauter tolle Sachen für den Winter. Ab November wird Chanel im Nerz unterwegs sein. Sonst drohen Hals- und Blasenentzündung. Katrin hat sich von Ingo scheiden lassen. Ingo wollte erst im nächsten Jahr den neuen DTV-Fernseher mit einsachtzig Bildschirmdiagonale anschaffen. Katrin hielt das für seelische Grausamkeit. Die Sheba-Frau in der Katzenfutterwerbung legt ihrem Schatz ein frisches Blatt Petersilie auf das Meeresfrucht-Filet. Ich rege mich auf, weil die CD, die ich vor drei Tagen im Internet bestellt hatte, noch immer nicht in der Post war. Eine Hedge-Fonds-Manager mit einem Jahreseinkommen von einer Millarde Dollar kauft sich einen van Gogh für die Remise. Die vierhundert reichsten Familien der Welt besitzen so viel Kapital wie die Hälfte der Menschheit.
Gegen die Rückkehr gibt es kein Serum …
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