Schreibkraft
Heiner Frost

Buchstabensuppe

Zweimal die Woche

Mandy hat es getan. Sie bereut nichts. Es hat sie Überwindung gekostet, aber dann hat sie es getan. Mandy ist stolz. Zweimal in der Woche geht sie zur VHS – zur Alphabetisierung. Mandy ist 31 und Mutter von drei Kindern. Mandy ist nicht allein im Kurs. Eigentlich sind es neun Teilnehmer, die zweimal wöchentlich von Ulrike Westerfeld betreut werden. Ulrike Westerfeld ist Lehrerin im Ruhestand. Seit 2002 ist sie dabei – betreut die Alphabetisierungskurse der VHS in Kleve. Ihr Tun unter dem Begriff „Job“ abzuspeichern wäre zu kurz gegriffen. Ulrike Westerfeld ist überzeugt von dem, was da passiert. Mit Schule ist das irgendwie  nicht zu vergleichen. Wer zur VHS kommt, um Lesen und Schreiben zu lernen, sucht nach einem Ausweg und ist in der Regel motiviert.

Mehr schlecht als recht

Die Teilnehmer des Alphabetisierungskurs, so mag mancher denken, mögen Migranten sein, die Probleme mit der deutschen Sprache haben. Von wegen. Die Teilnehmer sind allesamt Deutsche. Irgendwie haben sie es geschafft, unerkannt zu bleiben mit ihrem Problem. Irgendwie sind sie durchgeschlüpft. Irgendwie hat das System sie übersehen. Irgendwie haben sie es geschafft – mehr schlecht als recht.  Mandy ist verheiratet. „Mein Mann kann lesen und schreiben“, sagt sie. Mandy hat lange gebraucht, um sich durchzuringen zu diesem Schritt. Jahre hat es gedauert. Es war ihr peinlich. Sie hatte Angst – wusste nicht, was sie erwartet. Dann hat sie sich entschlossen, und  sie bereut nichts.  Von den neun Teilnehmern des Kurses sind heute zwei erschienen. Einige sind krank – haben sich entschuldigt. Das ist nicht immer die Regel. „Manchmal rufe ich die Leute, die nicht da sind, auch an“, erzählt Ulrike Westerfeld. Kümmern ist wichtig. Alphabetisierung ist immer auch ein Stück Beziehungsarbeit – Sozialarbeit.
Klaus-Dieter ist 51. Er ist schon lange dabei. „Genau weiß ich das nicht, aber es könnten sieben Jahre sein oder mehr“, sagt er und ist eigentlich eher auf seine Aufgabe konzentriert.  Vor sich hat er einen Zettel mit lauter Worten. Die schreibt er ab. Nachher werden sie gelesen und „rhythmisiert“. Es wird rhythmisch zu den Silben geklatscht.

Stunde Susi Rudi Mutter

Auf dem Arbeitsblatt geht es ohne Punkt und Komma zu: „die Ruhe gewusst husten der Husten das Muster die Lust der Busen die Kugel der Ruhm der Schuh du der Dunst der Hund der Mund die Bude Trude der Duden die Wut der Kunde die Wunde unter um zum der Rum gut der Bube der Zug der Hut das Ultimatum die Kurbel das Judentum der Humus das Studium das Stadium der Kuckuck rund die Stunde Susi Rudi Mutter ruck, zuck! die Musik knusprig plus minus der Pluralismus“.  Mandy liest zuerst. Einmal arbeitet sie sich über die Seite. Das Gefühl, das sie beim Anblick der Worte haben muss, ist kaum vorstellbar – das Lesenlernen liegt so lange zurück. Es fällt auf, dass Mandy alle Worte lesen kann, aber zu einigen kein Verhältnis hat. Verstehen ist ein anderer Schritt. Mandy arbeitet Laute ab und manches von dem, was sie da spricht, könnte eine Art Geheimcode sein. Verriegelte Sprache. „Der Duden“, liest sie und fragt: „Was ist das?“ Ulrike Westerfeld erklärt. Das Wort ‘knusprig’ kennt Mandy bestimmt. Beim Lesen aber klingt es fremd. Trotzdem: Sie macht das gut. Schließlich ist sie erst seit Februar dabei und hat allen Grund, stolz zu sein auf sich. Jeder Teilnehmer hat Grund zum Stolz, denn allen ist es ergangen wie Mandy: Der erste Schritt war der schwerste.

Botschafter ins Land der Sprache

Klaus-Dieter macht sich auf den Weg über das Arbeitsblatt. Der Finger seiner rechten Hand reist als Botschafter ins Land der Sprache – entlang an den Buchstaben. Manches holpert ein bisschen – aber es geht. Klaus-Dieter arbeitet mit höchster Konzentration. Alles in ihm konzentriert sich auf das Blatt – auf die Buchstaben – auf die Worte. Wenn er sich „verfährt“, liest Ulrike Westerfeld laut mit. „Das Ultimatum.“ Bleibt zu klären, was das ist – ein Ultimatum. Als Klaus-Dieter fragt, was denn ein Ultimatum ist, wird dem Beobachter klar, dass manches Fremdwort fast besinnungslos ins eigene Sprachverhalten vorgedrungen ist. „Ultimatum – das kann sein, wenn die Bank sagt: Bis dann und dann musst du zahlen, sonst kommt der Gerichtsvollzieher.“ Alles klar. Das Judentum – auch hier entsteht Erklärungsbedarf. Es gibt einen Unterschied zwischen Ruhm und Rum. Nichts darf man voraussetzen. Dass einer nach der Erklärung für Pluralismus fragt, ist fast schon selbstverständlich. (Mal im Internet nachschlagen: „Pluralismus bezeichnet die Koexistenz von verschiedenen Interessen und Lebensstilen in einer Gesellschaft.“ Wiki lässt grüßen. Oder wie wär’s damit? „Pluralismus bezeichnet die ontologische Pluralität von Entitäten oder Beschreibungsweisen.“ Jau!)

Ein Buchstabe Unterschied

Für Mandy und Klaus-Dieter ist der Pluralismus eher Nebensache. Der Unterschied zwischen Studium und Stadium: Ein Buchstabe. Die beiden arbeiten sich mit Hingabe durch ihr Pensum. Wie ist das eigentlich als Mutter von drei Kindern, wenn es um Schule und Hausaufgaben geht? „Das macht mein Mann“, sagt Mandy. Die Kinder wissen, dass Mama ein paar Probleme hat. Mandys Wunsch: „Dass die Kinder irgendwann auch mal mit der Mama üben.“ Nein – das wäre ihr gar nicht peinlich. Sie fände das toll. Klaus-Dieter und Mandy haben auch kein Problem damit, fotografiert zu werden. „Warum denn nicht.“ Schließlich gibt es keinen Grund, sich zu schämen. Ganz im Gegenteil. Gibt es eigentlich Hausaufgaben für die Teilnehmer? Ulrike Westerfeld verneint. „Das wäre zu viel verlangt.“   VHS-Chefin Gudrun Otto zum Thema Alphabetisierung und Kontinuität: „Wenn ich mal vergleiche zwischen früher und heute, dann ist einer der Unterschiede der, dass wir jetzt eher mit älteren Dozenten arbeiten. Früher hatten wir oft auch Referendare. Die waren dann irgendwann mit der Ausbildung fertig und gingen an andere Schulen. Das war für die Teilnehmer nicht einfach.“ Alphabetisierung ist – siehe oben – immer auch Beziehungsarbeit. Die Kursteilnehmer können sich nicht alle Nase lang auf eine neue Lehrkraft einstellen. Sie brauchen feste Größen. „Ist denn Frau Westerfeld eigentlich streng?“ Klaus-Dieter überlegt: „Eigentlich nicht“, sagt er und taucht zurück ins Arbeitsblatt. Es gibt noch viel zu tun.

Informationen zum Thema
Längst gibt es für Analphabeten ausreichend Lehr- und Lernmaterialien. Ganze Verlage kümmern sich – teils sogar themenbezogen – um Das Problem der Alphabetisierung. Eine wichtige Internetadresse: www.ich-will-lernen.de Hier gibt es sogar kostenlose Lernmaterialien.
Eine weitere Adresse: www.alphabetisierung.de.
Die passende Telefonnummer: 0251 53 33 44. Wo gibt es Lese- und Schreibkurse in der Nähe? Kostenlose und anonyme Beratung. Informationen über ortsnahe Weiterbildungseinrichtungen mit Alphabetisierungskursen in Deutschland. Die Telefonnummer wurde vom Bundesverband für Alphabetisierung eingerichtet.