Schreibkraft
Heiner Frost

abgemeldet …

Foto: Rüdiger Dehnen

Aufwachen

‚Guten Tag. Sie befinden sich im Radboud Nijmwegen. Heute ist Freitag, der 9. März 2003.‘ Klaus Buckermann sieht das Schild über seinem Bett. Er liegt in einem Vierbettzimmer — zwei Damen, zwei Herren — und taucht in der Welt auf wie in einem Wattebausch.

Es war einmal

Samstag, 28. Dezember 2002: Einkaufsbummel in den Bocholter Arcaden. Klaus Buckermann ist mit seiner Lebensgefährtin unterwegs. Es ist um die Mittagszeit.  Buckermann bricht zusammen. Irgendwas stimmt nicht mit seiner rechten Seite: Ein Gefühl wie abgemeldet. (Mit 27, 33 und 41 hat Buckermann Herzanfälle gehabt. Vater und Großvater waren Infarktopfer. Seinen Vater hat Buckermann erst im letzten Jahr tot in der Wohnung gefunden.) Daher ist Buckermann ganz sicher: Es ist was mit seinem Herz. Er hat keine Schmerzen. Er lässt sich nach Hause fahren. Seine rechte Seite ist noch immer wie abgeschafft. Er hat Probleme mit dem Sprechen. Zum Arzt? Am Montag. Vielleicht. Nur keine falsche Eile.

Lebenslänglich

Montag, 30 Dezember: Der Besuch beim Hausarzt führt zur sofortigen Einweisung in die Föhrenbach-Klinik. Der Verdacht auf einen Schlaganfall ist mehr als begründet. In der Föhrenbach-Klinik kennt man sich aus. Vier Wochen muss Buckermann bleiben. Dann wird er entlassen: Bein, Hand und Sprache sind so weit okay. Autofahren kann er nicht. Noch ist der Gleichgewichtssinn nicht gänzlich intakt. Ab jetzt wird Buckermann Medikamente nehmen müssen: Lebenslänglich. Er wird sich anders ernähren müssen. Vor einem halben Jahr hat er nach rund acht Monaten Arbeitslosigkeit einen eigenen Betrieb gegründet: Tageslichttechnik. Buckermann hat Kaufmann gelernt. Seine Firma beschäftigt neun Mitarbeiter. Jetzt steht alles vor dem Aus.

Am ersten Wochenende nach der Entlassung wird Buckermann vom Notarzt ins Klever Krankenhaus eingeliefert: Höllische Schmerzen im Brustkorb. Nach vier Tagen wird er entlassen. Man hat nichts gefunden. Dann kommt der 11. Februar. Ein Dienstag. Schon morgens hat Buckermann starke Kopfschmerzen. Er nimmt eine Tablette, holt seine Tochter von der Schule ab, kocht Mittagessen, hilft bei den Hausaufgaben. Die Kopfschmerzen lassen nicht nach, werden noch stärker. Abends holt seine Frau die Tochter ab. Buckermann legt sich hin. Der Kopf: Eine leer stehende Halle, gefüllt mit dem Lärm von Hammerschlägen. ‚Guten Tag. Sie befinden sich im Radboud Nijmwegen. Heute ist Freitag, der 9. März 2003.‘

Keine Erinnerung

Die Zeit dazwischen ist bis heute wie ausradiert. Buckermann weiß, dass er eine massive Gehirnblutung hatte — und: Verdammt viel Glück. Ein Glück, dass die Lebensgefährtin versuchte ihn anzurufen. Sie hat mit ihm gesprochen. Noch am Morgen seiner Einlieferung in Nimwegen. Am Telefon hat er ‚dummes Zeug‘ geredet. Keine Erinnerung. Die Frau hat den Hausarzt alarmiert. Der ist gleich hin. Hat  nicht gewartet. Er findet Buckermann in der Wohnung — entleert: Kot und Urin ’sind einfach abgegangen‘. Keine Erinnerung. Buckermann wird nach Nimwegen gebracht, verbringt fast zwei Wochen auf der Intensivstation. Er liegt nicht im Koma. Durch die Leiste wird eine Stahlmatte in seinen Kopf geschoben, um eine Ader abzudichten.

Der Welt abhanden gekommen

Wochen später trifft er in der Reha-Klinik in Bad Godesberg auf Patienten, bei denen ein ähnlicher Eingriff vorgenommen wurde: Sie haben Löcher in der Schädeldecke. Keine Haare. („In Deutschland gehen sie durch den Kopf rein.“) Buckermann ist froh, in Holland gewesen zu sein.  Er bekommt Besuch. Seine Frau, die Lebensgefährtin, die vier Kinder. Alle geben sie ihm das Gefühl, nicht alleine gelassen zu werden. Er bekommt nichts mit von alledem. Er ist der Welt abhanden gekommen. Die Erinnerung setzt erst wieder ein, als er im Vierbettzimmer das Schild sieht:  ‚Guten Tag. Sie befinden sich im Radboud Nijmegen. Heute ist Freitag, der 9. März 2003.‘

Aufwärts

Vier Wochen verbringt Buckermann in Nimwegen. (40.000 Euro.) Später dann die Reha: Von Depressionen unterbrochen geht es langsam aufwärts mit ihm. Physio- und Ergotherapie stehen auf dem Programm: Buckermann muss wieder Schreiben lernen, kritzelt zuerst nur seitengroße, unförmige Buchstaben auf DIN-A-4 Blätter. Im Schwimmbad säuft er — einst ein guter Schwimmer — fast ab: Atmen und Bewegen laufen nicht zusammen. Es ist, als würden zwei verschiedene Körper an derselben Sache arbeiten und sich nicht treffen.

Jetzt muss er lernen, dass die Ungeduld der erste Feind ist. Einer wie er musss sich plötzlich Zeit lassen. Zeit nehmen. Teile des Lebens neu lernen. Während er sich zurück kämpft, ist für seinen Betrieb Insolvenz angemeldet worden. „Ohne die Unterstützung meiner Frau und meiner Lebensgefährtin wäre nichts gegangen.“ Die Frau hält ihm jeden Stress vom Leib, und wenn Buckermann erzählt, ist seine Dankbarkeit dafür mit Händen zu greifen.

Die Angst vor dem nächsten Mal

Am 26. April wird er in Bad Godesberg entlassen. Die leere Wohnung ist ein Schock, gegen den nur Telefonieren irgendwie hilft. Buckermann ist weiter krank geschrieben. Er darf sich nicht von der ‚Angst vor dem nächsten Mal‘ terrorisieren lassen. „Bevor ich in den Rollstuhl gehe, will ich lieber tot sein“, hat er früher gesagt. „Das Problem ist nur, dass du nicht mitbekommst, ob und wann es wieder passiert.“ Manche sind nach einem Schlaganfall blind ‚zurückgekommen‘. Das wäre das Schlimmste. Es gibt Dinge, die man besser nicht denkt.

Zu alt mit 45

Zurzeit läuft ein Antrag auf Zuerkennung einer Schwerbehinderung. „Am liebsten hätte ich diesen Ausweis erst gar nicht nöitg“, sagt Buckermann. „Damit nimmt dich doch keiner mehr.“ Ende der Vorstellung mit dem Titel Berufsleben. Schon als er sich im letzten Jahr vor der Betriebskündigung nach Arbeit umsah, machte man ihm klar: „Sie sind zu alt.“ Klaus Buckermann ist 45.

Buckermann