Schreibkraft
Heiner Frost

Blumen, Panzer, Frikadellen

Foto: Rüdiger Dehnen

Bahnhöfe waren einst Kathedralen des Unterwegsseins. Sie standen am Beginn oder am Ende großer Reisen – sollten den Gehenden das Wiederkehren implantieren und den Ankommenden die Lust am Bleiben.

Damals

Sieht man sich heute den Kranenburger Bahnhof an, ist dieser Gedanke nur noch erahnbar. Dirk Willemsensen ist Bahnfan. Als er aufwuchs, sah der Kranenburger Bahnhof noch anders aus. „Damals – ich spreche jetzt von den 60-er und den 70-er Jahren – war hier einiges los. Da war der Güterbahnhof, wo viele Waren umgeladen wurden, aber da konntest du eben auch von Kranenburg ohne Umsteigen nach Mainz fahren. Das kann sich heute doch keiner vorstellen.“

Das Bahn-Gen

Willemsensen hat – wie soll man sagen – das Bahn-Gen. „Meine beiden Großväter waren Eisenbahner“, sagt Willemsensen. Kennengelernt hat er nur einen der beiden. „Heinrich Willemsen hat als Schrankenwärter angefangen und war am Ende Zugbegleiter.“ Der Opa hatte mit allen möglichen Leute zu tun. Die Botschaft für den Enkel: „Du musst vor keinem Angst haben.“ Auch nicht vor Menschen in Uniform. Der Opa traf als Zugbegleiter mal auf einen Hauptmann. Der saß in der 1. Klasse, hatte aber nur ein Ticket für die 2. Klasse. „Das hat meinen Opa nicht beeindruckt. Er bat den Mann, aus der ersten in die zweite Klassen ‚umzuziehen‘. Kommentar des Hauptmanns: ‚Wissen Sie eigentlich,wen Sie vor sich haben?‘ Das hat meinen Opa nicht beeindruckt.“
Als Jugendlicher dachte der Enkel tatsächlich darüber nach, zur Bahn zu gehen.“ Mindestens einmal pro Jahr ging es mit Opa Richtung Köln. „Der hatte ja als Eisenbahner jede Menge Freifahrkarten.“ Die Ziele in Köln: Rhein, Dom, Zoo.

Personalien

In den 70-ern gab es am Kranenburger Bahnhof zwei Fahrkartenschalter und einen Kofferschalter. „Vier Leute arbeiteten im Schalterraum, fünf bis sechs als Rangierer, drei bis vier Zugbegleiter kamen aus Kranenburg Die Lokführer kamen übrigens meistens aus Geldern.“ Nachtrag: Natürlich hatte Willemsen auch einen Lokführer-Onkel, aber der kam – Ausnahmen bestätigen die Regel – aus Xanten. Und dann war da auch noch der Onkel im Stellwerk. Das Stellwerk: eine Art Bahnheiligtum. „Da durfte niemand rein.“

Kirchenmusik

Zurück zu Willemsens beruflicher Laufbahn: Er ging nicht zur Bahn – er wurde Kirchenmusiker und ist mittlerweile im Ruhestand. Eines seiner zahlreichen Hobbys: Kranenburger Geschichte(n). Natürlich gehört der Bahnhof dazu.

Fünf Euro

Willemsen: „Ich hatte einen Onkel, der eine Spedition besaß. Da habe ich als Schüler oft gearbeitet. Wer das damals nicht erlebt hat, kann sich das heute kaum vorstellen. Wenn Willemsen in der Spedition des Onkels arbeitete, bekam er fünf Euro Stundenlohn. „Das war gutes Geld. Ich habe das gespart und mir später davon meine erste Orgel gekauft.“

Blumen, Panzer, Frikadellen

Kranenburg war Grenzstation und unter anderem ein Umschlagplatz für Blumen und Gemüse „Alles, was von Holland nach Deutschland ging, wurde ja in Kranenburg umgeladen. Und da kam einiges zusammen.“ Nicht nur Blumen wurden verladen. „Ich erinnere mich auch noch an Mannesmann-Röhren: Die waren so groß – da konnten wir aufrecht drin stehen. Und manchmal wurden auch Panzer verladen.“ Wichtige Anlaufstelle: die Bahnhofsgaststätte. Da traf man sich auf ein Bier. „Das gehörte zum guten Ton.“ Bier und Frikadellen.
Und was die Blumen angeht: Ab und an blieb mal ein Karton übrig. Die Blumen wurden dann verteilt: Gruß an die Mutter.

Nacht und Nebel

Zwei Stellwerke gab es und jede Menge Bahnübergänge, von denen manche bemannt waren. „Wir hatten hier auch eine Fußgängerbrücke, die über die Schienen führte. Da standen wir dann, wenn unten rangiert wurde im Dampf der Loks.“ Die Brücke wurde in den 90-ern – zusammen mit den Stellwerken – in einer Nacht- und Nebelaktion abgerissen. „Ich finde noch heute, dass das eine Schande ist.“

Bestellungen

Und dann war da noch der Zoll. Kranenburg war ja Grenzstation. Natürlich gibt es auch Zollgeschichten. Willemsen: „Das ist ja alles längst verjährt – also kann man es erzählen: Wenn du Zigaretten haben wolltest, hast du sie bei den Zollbeamten bestellt.“ In der Zollstelle war meist richtig eine Menge los, „aber nicht alles hatte mit Zollabfertigung zu tun. In der Zollstelle – das ist da, wo heute das Jugendheim TrainStop drin ist – hatten die zwei Tische zusammengerückt. Da wurde dann gepuzzelt.“ Einer der Zöllner reparierte Autos. Willemsen erzählt von den dreieinhalb P: „Puzzle, Pause, Pinte und …“. Ein bisschen druckst er rum. „Okay – ich nenne mal ein paar Titel: St. Pauli Nachrichten und Quick zum Beispiel. “ Aha: Sex-Heftchen also? „Genau. Es wurde viel gelesen.“

Butterbrote

Wer die Bahnhofsuhr noch weiter zurückdrehen möchte, könnte Ludwig van der Grinten fragen. Für den hat Willemsen gerade nach alten Vorlagen Zeichnungen vom alten Bahnhof gemacht. Eine von van der Grintens Bahnhofsgeschichten geht so: „Der Personenzug nach Holland hielt immer freitags um 15 Uhr am Bahnhof. Die Passagiere waren gut gekleidete Leute. Sie warteten auf die Pass- und Zollkontrolle. Wir Kriegs- und Nachkriegskinder standen schon am Rande der Gleise – sehnsüchtig auf die Dinge wartend, die auf uns zu kommen würden. Plötzlich öffnete sich ein Fenster und ein Papier eingewickeltes Butterbrot landete auf der Böschung. Meine Freunde Benno, Alex, Dieter, ich selbst und andere stürzten uns auf die damals wertvollen Gaben. […] Wenn wir am Bahnhof spielten, konnten wir beobachten, wie lange Güterzüge mit Maschinenteilen Richtung Hoek van Holland fuhren. Die fuhren von dort dann weiter Richtung England.“

Nostalgie

Zurück zu Dirk Willemsen. Was würde er zu einer Wiederinbetriebnahme der Bahnstrecke Kleve-Nimwegen sagen? „Ich glaube, da könnte man was draus machen. Da müssten dann historische Züge fahren. Es müsste um den Nostalgie-Gedanken gehen. Da gibt es ja reichlich Beispiele, wo so etwas an anderen Orten richtig Zulauf hat.“ In Süddeutschland gebe es, erzählt Willemsen zum Abschluss, einen Bahn-Fan, der den Kranenburger Bahnhof für seine Modellbahnanlage nachgebaut hat. „Mein Sohn kennt den“, sagt Willemsen und verspricht, mal nachzufragen – wegen eines Fotos. Leider wird am Ende nichts draus. Keine Rückmeldung. Schade eigentlich.

Dirk Willemsen. Foto: Rüdiger Dehnen