Schreibkraft
Heiner Frost

Bericht aus einer nahen Hölle

Das Bild: Daumen und Zeigefinger, sich fast berührend – blattdünn voneinander entfernt. Dazu der Satz: „Es fehlt nicht mehr viel.“ Und noch ein Satz – es ist der Satz, der in diesem Gespräch am häufigsten fallen wird: „Das kannst du dir nicht vorstellen.“ Ein Bericht aus der Hölle …

„Ich habe viel Scheiße erlebt.“

Da setzt sich einer in seinen Transporter und fährt geradewegs in den Krieg. In die Ukraine. „Ich habe in meinem Leben viel Scheiße erlebt“, sagt Ralf Seeger. Unter anderem hat er „in der Legion“ gedient, „Inkasso gemacht“. Ein vollgepacktes Leben, das Seeger längst in einer Autobiografie beschrieben hat. Da ist einer, der vielleicht nicht auf alles stolz ist, aber da ist auch einer, der sein Leben gedreht hat. Radikal. Da ist einer, der von sich sagt, dass Gott eine Bedeutung hat in seinem und für sein Leben. Da ist einer, der sagt: „Ich kann nicht einfach hier sitzen und nichts tun.“ An die 20 Mal ist Seeger seit Kriegsbeginn in der Ukraine gewesen. Der Satz fällt zum ersten Mal: „Was da los ist, kannst du dir nicht vorstellen.“

Das Glück des Mutigen?

Dass Seeger hier sitzt und über seine Mission spricht, hat vielleicht etwas mit dem Glück des Mutigen zu tun. „Freunde von mir haben das nicht überlebt“, sagt Seeger und zeigt Bilder von zerbombten Autos und Leichen, die herumliegen: Das Tagesgeschäft des Grauens. Wie bescheuert muss einer sein, sich auf den Weg in die Hölle zu machen? Oder ist Naivität das richtige Wort? „Ich weiß genau, was da hinten passieren kann, aber das ändert doch nichts daran, dass man etwas tun muss.“ Ist da ein Don Quijote unterwegs zu den Windmühlen? „Es gibt bestimmt Leute. die das so sehen. Meine Motivation ist eine andere.

„Wir haben euch nicht vergessen.“

Die Ukraine – das ist irgendwie unsere Nachbarschaft und mir ist es wichtig, den Menschen dort zu zeigen: Wir haben euch nicht vergessen. Wir denken an euch.“ Und wir riskieren unser Leben für euch. Diesen Satz sagt Seeger nicht, aber er ist Teil der Wahrheit hinter seinen Einsätzen. „Was da hinten los ist, kannst du dir nicht vorstellen.“ Da ist er wieder: der Satz aus der Hölle. Seeger sucht auf seinem Smartphone. Dann zeigt er die Bilder. Es sind Bilder von Tod und Zerstörung. Bilder von Not, Leid und Tod. „Es kann für uns nicht darum gehen, Bewertungen abzugeben. Das ist der erste Teil eines möglichen Fehlers. Es bringt nichts, alle Ukrainer als Helden zu denken und die Russen als Unmenschen. Was dort passiert, ist ein Machtkampf, der in erster Linie nicht von den Menschen vor Ort angezettelt worden ist. Aber man muss auch verstehen, dass mittlerweile ein abgrundtiefer Hass entstanden ist. Wenn morgen Waffenruhe wäre oder Frieden, dann wird der Hass bleiben. Dieser Hass ist gesät und er ist nicht von den kleinen Leuten gesät. Aber genau die werden, wenn die Kämpfe jemals vorüber sind, damit weiterleben.“

Partisanen

Seeger erzählt von Partisanenstrategien: „Wenn ein Dorf nicht mehr zu halten ist, dann werden Sachen in einen Supermarkt gepackt: Lebensmittel, Alkohol – alles vergiftet. Dazu: Sprengfallen. Ich habe da hinten Grausamkeiten gesehen – das kannst du dir nicht vorstellen.“ Wieder Bilder. Mit ihnen rückt die Vorstellung näher, was Menschen einander anzutun imstande sind. „Wir leben in sehr gefährlichen Zeiten. Manchmal denke ich, dass wir von einem großen Krieg nur so weit entfernt sind.“ Daumen und Zeigefinger nähern sich auf einen blattdünnen Abstand. „Es brennt ja nicht nur in der Ukraine.“
Da ist also Ralf Seeger und fährt Transporte mit Hilfsgütern mitten ins Krisengebiet.

Überall Drohnen und Raketen

„Da sind ja überall Drohnen unterwegs. Da wird geschossen. Raketen fliegen und Freunde von mir haben ihren Einsatz nicht überlebt. Ich habe Menschen Lebensmittel gebracht. Zwei Tage später habe ich erfahren, dass eben diese Menschen erschossen worden sind. Eine der Freiwilligen, die in ihrem Auto von einer Rakete getroffen wurde, war gerade einmal 21 Jahr alt.“ Das Wort: Kollateralschaden. „Ich habe alte Menschen getroffen, die mir erzählten, sie haben den 2. Weltkrieg erlebt und den Kommunismus. Ich wollte sie mitnehmen. Sie lebten fast direkt an der Front. Sie wollten nicht fort. ‚Das hier ist unsere Heimat‘, haben die gesagt. Sie sind geblieben, weil sie keine Perspektive gesehen haben. Die haben Null Perspektive.“

Positive Energie

Seeger spricht ruhig. „Was mich aufregt“, sagt er, „sind Menschen, die sich hierzulande über Kleinigkeiten beschweren.“ „Du bist in der Pole-Position“, sage ich. „Du hast gesehen, was sich niemand hier vorstellen kann. Das ist etwas anderes.“ „Das stimmt“, sagt Seeger, „aber es ist auch die Gleichgültigkeit, mit der ich nicht umgehen kann. Das fällt mir schwer. Weißt du, ich denke, dass es um positive Energie gehen muss. Damit müssen wir hier beginnen. Anteilnahme ist eine positive Energie, wenn sie nicht mit Lähmung endet. Was da hinten nicht stattfindet, können wir hier leisten: Kommunizieren. Miteinander reden. Das meine ich. Das mag naiv klingen, aber wenn wir ständig auf das Große verweisen, dann übersehen wir, dass das Positive im Kleinen beginnt und sich von dort aus fortpflanzt. Das ist die Idee vom göttlichen. Du kannst das auch anders nennen. Es kommt nicht auf das Wort an – es geht um die Idee vom Guten und die beginnt immer mit dem Aufeinanderzugehen. Natürlich kann sich nicht jeder ins Auto setzen und in die Ukraine fahren, aber für mich stand vom ersten Kriegstag an fest: Ich will etwas tun. Etwas bewegen. Als ich zum ersten Mal dort war, kannte ich niemanden. Mittlerweile habe ich dort Freunde, die mich bei dem, was ist tue, unterstützen. Es geht – das habe ich schon gesagt – darum, Menschen in Not das Gefühl zu vermitteln: Ihr seid nicht allein. Wir denken an euch. Es steckt, da bin ich sicher, viel Kraft in dieser Idee.“

Galionsfigur

Seeger wird wieder in die Ukraine fahren. „Ich bekomme hier viel Unterstützung. Es gibt Menschen, die mir sagen: ‚Wenn du fährst, sag Bescheid. Du kannst einen Wagen voll Lebensmittel abholen.‘ Andere helfen mit Medizin oder medizinischen Geräten.“ Seeger ist kein Unbekannter. Wer den Namen googelt, landet schnell bei „Harte Hunde – Ralf Seeger greift ein“. Neun Staffeln sind bei RTL+ erschienen und haben Seeger zu einer Galionsfigur gemacht. Wenn Seeger Richtung Ukraine unterwegs ist, dann hat er meist auch Tiernahrung dabei. Hilfe ist Hilfe. Der Motor hinter Seegers Tun: Unrecht geht gar nicht. „Wenn ich da hinten unterwegs bin, dann weiß ich: Die Gefahr ist immer da. Jederzeit. Und natürlich kann es auch mich treffen. Bis jetzt ist nichts passiert. Das hat einerseits etwas mit Planung zu tun, aber es ist auch Glück dabei, denn du kannst nicht alles planen. Und glaub mir: Oft genug frage ich mich: Warum ist da diesmal nichts passiert? Es gibt da diesen Satz: ‚Die Hölle, das sind die anderen‘. Ich glaube, Sartre hat ihn geschrieben. Das kann man natürlich so sehen. Der Fehler dabei ist, auf die anderen zu zeigen. Wenn du das machst, gehörst du selber nicht dazu. Damit beginnt der Fehler. Wir müssen denken: Das Gute, das sind wir alle. Nur so haben wir eine Chance. Und eine Chance ist keine Garantie. Chancen sind etwas, woran man arbeiten muss. Es geht immer nur, wenn wir mit dem Denken bei uns selber beginnen. Auf andere zu zeigen, führt immer nur in Konflikte.“