Die äußeren Umstände sind irgendwie absurd. Im Hof zwei Bierstände. Das Gelände überdacht. Drei Stunden und zwanzig Minuten bis zum Sturm. Und vorher: Vorkarnevalistische Gerichtsbarkeit im großen Saal. Versuchter Totschlag und schwere Körperverletzung. Beginn: 10 Uhr. Ab 13 Uhr ist Altweiber.
Jeder Prozess hat sein eigenes Davor – sein eigenes Klischee – sein eigenes Vor-Bild. Man weiß ja kaum etwas.
Wenn es um einen Angriff mit einem abgebrochenen Flaschenhals geht, stellt man sich zwei Männer vor oder einen Mann, der eine Frau sticht. Hier ist es anders. You too. Frau sticht Mann. Der Kopf denkt voraus. Längst haben sich Bilder eingestellt. All das hat ja mit der Wirklichkeit nichts zu tun.
Laut Darstellung der Staatsanwaltschaft begab sich die unter Einfluss von Alkohol, Cannabis und Medikamenten stehende Angeklagte in der Nacht vom 13. auf den 14.07.2017 zu zwei an der Rheinböschung in Emmerich sitzenden Bekannten, wo es zu weiterem (gemeinsamen) Alkoholkonsum kam. Als das spätere Tatopfer die Angeklagte aus Ärger über ihr Verhalten gegenüber ihrem Hund zurechtgewiesen haben soll, soll die Angeklagte eine Weinflasche zerschlagen und auf den Mann – auch als dieser bereits am Boden lag – mehrfach mit dem verbliebenen Flaschenhals samt scharfer Spitzen mit Tötungsvorsatz eingestochen haben. Durch Eingreifen des weiteren Bekannten, die Alarmierung von Rettungskräften und eine durchgeführte Notoperation konnte der Mann gerettet werden.
Noch am Tatort soll sich die Angeklagte mit dem Blut aus der Blutlache ihres Tatopfers eingerieben, ihren blutverschmierten Finger abgeleckt und beteuert haben, ihr Tatopfer zu lieben.
Die Täterin
Dann tritt die Angeklagte auf und zunächst sieht man, was man denkt. Ein verhärmtes Gesicht, aber es ist doch alles Klischee, oder? Die Anklage passt eher zu Halloween als zum Karneval. Frau sticht Mann mit einem abgebrochenen Flaschenhals. Arm und Rücken werden verletzt. Es blutet stark. Die Frau, heißt es in der Anklage, hat den Tod des Opfers billigend in Kauf genommen, reibt sich nach der Tat mit dem dessen Blut ein, leckt ihre Finger ab und sagte dann, dass sie ihn liebt. Mit ihn meint sie das Opfer.
Der Richter beginnt ein Gespräch mit der Angeklagten. Sie kommt aus der Ukraine. Wenn man ihr eine Ja-Nein-Frage stellt, antwortet sie mit „Jawohl“. „Ich entschuldige mich für meine Sprache“, sagt die Angeklagte und der Richter sagt „Sie machen das sehr gut.“ Das Gespräch der beiden: Eine Unterhaltung. Kein Verhör.
Sie hat, sagt die Angeklagte, die Realschule besucht. Als sie 14 ist, stirbt ihr Vater, ein Pilot, bei einem Flugzeugabsturz. Die Angeklagte will Tierärztin werden. Als sie Frösche sezieren soll, wird ihr klar, dass sie das nicht kann. Einen Beruf hat sie nie gelernt. Dafür bringt sei eine Tochter zur Welt. „Die ist noch in der Ukraine. Ich telefoniere mit ihr und schicke Geld.“ Ein zweites Kind „stirbt im Bauch“. Irgendwann kommt die Angeklagte nach Deutschland. Sie heiratet. Die Ehe: Ein Martyrium. Der Mann zerreißt ihre Papiere. Aus einer Frau mit Identität wird ein erpressbarer Schatten.
Sie fängt mit dem Trinken an. „Jägermeister.“ Sie schafft zweierlei: weg vom Alkohol und weg von ihrem Mann. Eine neue Beziehung bringt wieder Streit und Stress. Wieder beginnt das Trinken. Am Telefon sagt ihr die Tochter: „Wenn du trinkst, wirst du schäbig aussehen.“ Die Antwort: „Schon passiert.“ Und da sie es sagt, sieht man die Spuren des Alkohols, die sich auf ihre Züge gelegt haben. Längst beginnt sich das Klischee in Luft aufzulösen. Vielleicht sitzt da eine, die sich und das Leben nicht mehr ertragen kann, denkt man. „Ich wollte mich abschalten“, sagt die Angeklagte, als der Richter nach dem Grund für das Trinken fragt. Äußerlich funktioniert sie. Macht ihre Arbeit. „Mich hat mal jemand gefragt, was ich nehme.“ Das wolle er dann auch nehmen. „Meine Droge ist das Schicksal“, antwortet sie damals und längst weiß man, dass es um nichts Gutes geht bei diesem Schicksal.
„Ich habe getrunken, um nicht mehr denken zu müssen“, sagt die Angeklagte an anderer Stelle.
Die Tat? Sie hatte Streit mit ihrem Lebensgefährten. Ist mit dem Hund spazieren gegangen und hat den Tom angerufen. „Wir haben uns immer gut verstanden.“ Abends treffen sie sich am Yachthafen. Tom und ein Freund sind zum Angeln da. Die Angeklagte und Tom unterhalten sich. Sie: Unter dem Einfluss von Bier, Cannabis und Tabletten. Ihr Hund läuft weg. Sie rennt ihm nach, packt ihn am Kragen, schüttelt ihn. Das spätere Opfer – heißt es in der Anklage – sagt ihr, dass niemand so mit Tieren umgehen darf. Er wird dafür sorgen, dass man ihr den Hund wegnimmt. Dann die Tat.
In der Einlassung der Angeklagten heißt es: „Der Tom hat mich dann geschlagen. Hart. Wie einen Mann.“ Die Angeklagte wehrt sich. Hat plötzlich eine Flasche in der Hand. Verletzt den Tom an Arm und Schulterblatt. Sie hat das nicht gewollt, sagt sie. All das tut ihr leid. Wäre nicht Toms Freund am Tatort gewesen und hätte den Arm mit einem Gürtel abgebunden – vielleicht würde es jetzt um einen Toten gehen. Bestimmt sogar. „Was stellen Sie sich für Ihre Zukunft vor?“, fragt der Richter. „Weg vom Alkohol. Arbeit. Geld in die Ukraine schicken. Ein Fitnessstudio vielleicht.“
Das Opfer
Dann tritt Tom auf. Er hat es anders erlebt. Er hat die Angeklagte nicht geschlagen. Er ist laut geworden. Vielleicht hat er etwas gesagt wie: „Tickst du eigentlich noch sauber?“ oder „Du bist ja wohl total bescheuert!“ Sein Freund, verliest die Verteidigerin, hat ausgesagt, es habe eine Rangelei gegeben. „Das kann der nicht gesehen haben“, sagt Tom, „der hat doch mindestens drei bis vier Meter weit weggestanden.“ „Darf meine Mandantin denm Zeugen Fragen stellen?“, möchte die Verteidigerin wissen. Sie darf. Die Angeklagte entschuldigt sich beim Zeugen. Ob er sich erinnert, dass er ihr eine Woche vor der Tat – sie saßen nachts auf einem Kinderspielplatz und Tom hat wieder einmal Trost gespendet, nachdem die Angeklagte sich mit dem Lebensgefährten gestritten hat – ob Tom sich also erinnert, seine Hose geöffnet und ihr etwas gezeigt zu haben? Tom erinnert sich nicht. „Haben Sie meiner Mandantin irgendwann einmal einen Ring geschenkt?“ Die Erinnerung hakt. An ein Fußkettchen erinnert sich der Zeuge. „Das ist lange her.“
Hat eigentlich der Lebensgefährte die Angeklagte in der Haft besucht? Das hat der Richter vorher gefragt, und die Angeklagte hat geantwortet: „Ich liebe ihn noch immer, aber Liebe bedeutet auch, das man loslassen muss.“ „Tom?“ Die Angeklagte ruft dem Zeugen zu, der gerade den Saal verlässt. „Tim, ich habe ein Geschenk für dich.“ Sie gibt es der Justizwachtmeisterin. Es ist das Neues Testament. Auf dem Gang wird Tom sagen, dass er das nicht haben will. Um 12. 09 Uhr endet der erste Verhandlungstag. Unten soll jetzt gefeiert werden. Heizstrahler und Beschallung sind aufgebaut. Was sich wohl abgespielt hat am 13. Juli? Am 19. Februar wird die Verhandlung mit weiteren Zeugenvernehmungen fortgesetzt. Der psychiatrische Gutachter hat sich in Stellung gebracht. Schon in der Anklage war von verminderter Schuldfähigkeit die Rede. Wieder einmal geht es darum, was Menschen zu Äußersten treibt.
Das Ende
Man denkt an die Physik und ihre Grenzen. Dabei geht es doch eigentlich um einen Flaschenhals und Fleischwunden. Das soll nicht verharmlosend wirken. Dass eine Frau im Verlauf einer Auseinandersetzung darüber, wie mit einem Hund umzugehen ist, plötzlich zu einer Flasche greift, sie an einem Stein oder sonstwo zerschlägt und dann mit der (wahrscheinlich ausgezackten) Flaschenhalsruine dem Mann, den sie als einen guten Freund bezeichnet, den Oberarm schlitzt und. als er die Flucht ergreift, sein Schulterblatt verletzt – das lässt sich (physikalisch natürlich) erklären. Dass die Verletzung am Oberarm des Mannes ein langer Schnitt ist, lässt sich – erfährt man später – mit einer Abwehrbewegung des Opfers erklären. Alles ergibt einen Sinn. Am Tattag hat die Angeklagte die Tat zutiefst bereut. Auch zu Beginn des Prozesses hat sie das gesagt. Die Reue bleibt – jetzt allerdings stellt die Frau das Geschehen plötzlich anders dar. Sie habe die Flasche nicht gegen das Opfer eingesetzt – hochgeworfen habe sie die Flasche. (Und der Rest muss dann wohl Teil des Landungsprozesses gewesen sein. Ups. Die magische Flasche also, die sich in der Luft selbst zerstört und an mehreren Stellen quasi ganz von selbst für Schnitt- und Stichwunden sorgt?) Natürlich ist all das nicht lustig – komisch wirkt es trotzdem.
Ein Gutachter äußert sich. Seine Aufgabe: Erstellen einer Seelenskizze. Das Problem: Die Weigerung der Angeklagten, am testpsychologischen Untersuchungen teilzunehmen. Über die Tat hat sie nicht reden wollen. Was also lässt sich sagen: In der Justizvollzugsanstalt, in der die Angeklagte einsitzt, ist eine mittelgradige Depression diagnostiziert worden. Beschreibungen aus zweiter Hand. Der Gutachter spricht von wechselhaften Stimmungen, von Unterwürfigkeit, Devotheit, von einem manipulativen Verhalten, von dem Wunsch, sich positiv darzustellen, von Anspannung, Reizbarkeit, aber auch von einer gewissen Koketterie. Was für eine Mischung! Manchmal, erfährt man, ist die Angeklagte freundlich – ein anderes Mal ist sie „auf Zündung“.
Und dann der Alkohol: 2,56 Promille zum Zeitpunkt der Tat. Ein nicht unerheblicher Rauschzustand – ausgelöst durch Medikamente, und Cannabiniode. Eine Mischintoxikation. Dergleichen schränkt das ein, was im Gerichtsalltag Steuerungsfähigkeit genannt wird. Der Gutachter sieht die Voraussetzung für einen Maßregelvollzug gegeben. Frau O. brauche sozialtherapeutische Unterstützung. Ein bis zwei Jahre reichten, so der Gutachter, nicht aus und spricht von zweieinhalb bis drei Jahren – bei optimalem Verlauf. „Frau O. hat nicht gelernt, ihr aggressives Verhalten zu beherrschen. Sie hat den Hang, berauschende Mittel zu sich zu nehmen.“ (Stimmt: Gleich zu Beginn hat sie selbst gesagt, dass sie sich manchmal einfach abschalten wolle. Die Gedanken stoppen. Gedanken, die nichts Gutes haben.) „Frau O. reagiert schnell und emotional. Unter Alkohol kann sie ihr Verhalten nicht kontrollieren.“ Ein Desaster scheint programmiert. Eine klare Prognose. Eine Ärztin hat – am dritten Verhandlungstag – ausgesagt, dass für das Opfer keine Lebensgefahr bestanden habe. Immerhin.
Der letzte Tag: Die Plädoyers. Der Staatsanwalt sieht kein versuchtes Tötungsdelikt. Auch hat die Angeklagte des Tod des Opfers nicht billigend in Kauf genomen. Abzuurteilen ist demnach eine gefährliche Körperverletzung. Sechs Monate bis zehn Jahre hält der Strafköcher bereit. Die Angeklagte hat, das sieht der Staatsanwalt als positiv, die Tat eingeräumt. Die Verletzungen beim Opfer sind verheilt. Allerdings ist festzustellen, dass die Angeklagte „bereits in Erscheinung getreten ist“. Drei Jahre werden beantragt. Ein Maßregelvollzug erscheint sinnvoll. Die Voraussetzungen für weitere Taten sind gegeben.
Die Verteidigung sieht eine positive Sozialprognose, plädiert umständlich für eine Strafe, die zwei Jahre nicht übersteigen soll und für die Aufhebung des Haftbefehls. Von verminderter Schuldfähigkeit ist die Rede (2,56 Promille), von massiv impulsivem Handeln, von Reue und tiefem Bedauern. Eine Mitverantwortung des Opfers? Nicht auszuschließen. (Möglicherweise hat es während des auslösenden Streits Beleidigungen gegeben.) Der Streit: Gegen- und nicht einseitig.
64-er
Die letzten Worte der Angeklagten: Von einer Pause unterbrochen. Sie muss sich fangen. Alles tut ihr so leid. Tränen ersticken die Stimme. „Wir unterbrechen mal kurz“, schlägt der Vorsitzende Richter vor. Nach der Unterbrechung: Fortsetzung der Szene. Man weiß nicht, was aus der Seele bricht und was instrumentalisiert ist.
Das Gericht verhängt drei Jahre und den 64-er: „Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.“