Schreibkraft
Heiner Frost

Alleine schaff ich’s nicht

Traurige Geschichten handeln von Verlierern. Arche ist einer von ihnen.

Zwei junge Männer waren beim Schützenfest. Ausgiebig gefeiert (sprich: getrunken) haben sie nicht, als sie sich in den Morgenstunden auf den Rückweg machen. Sie begegnen drei anderen jungen Männern. Einer von denen, nennen wir ihn Arche, fragt: „Habt ihr Zigaretten?“ Haben sie nicht. Die beiden sind Nichtraucher.

Von den drei anderen zückt nun einer ein Messer. „Habt ihr irgendwas anderes?“, fragt Arche. Am Ende haben die Opfer eine halbvolle Flasche Schnaps. Die händigen sie aus. Die Wege trennen sich.

Das Trio tritt noch bei einem geparkten Tesla einen Spiegel ab und staunend erfährt man: Das Auto hat gefilmt – Frontkamera, Seitenkamera, Rückkamera.
In der Pressemitteilung liest sich der Vorfall wie folgt: „Laut Staatsanwaltschaft sollen die beiden Angeklagten – zusammen mit einem unbekannt gebliebenen Mittäter – zwei Männer angesprochen und unter Vorhalt eines Messers zur Herausgabe von Wertsachen aufgefordert haben. Letztlich sollen die Angeklagten von einem der beiden Männer eine Flasche Korn erbeutet haben. Darüber hinaus soll der 26-Jährige am einem in Rees abgestellten Tesla den Außenspiegel abgetreten haben. Schließlich soll er – ohne im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis gewesen zu sein – in der Nacht mit einem Fahrzeug unter anderem die Emmericher Landstraße befahren haben. Im Bereich eines Kreisverkehrs soll er sodann infolge überhöhter Geschwindigkeit mit einer Mauer kollidiert sein, gleichwohl aber – obwohl auch zwei Airbags auslösten – seine Fahrt unvermittelt Richtung Emmerich fortgesetzt haben.“
Auf der Anklagebank – ein Solist: Arche. Es ist derjenige aus dem Trio, der die Opfer angesprochen hat. Der zweite Täter: Arches Halbbruder. Aus dem unbekannten Dritten wird im Laufe der Aussage des Halbbruders ein Mensch mit Namen und Adresse. Der dritte Mann ist der Mann mit dem Messer. Er wird Besuch bekommen. Die Polizei wird sich bei ihm melden. So viel steht fest.
Arche hat die Tat in einer Gedächtnislücke verbracht. Er weiß nichts mehr. Ist erst morgens hinter einer Imbissbude aufgewacht. Im Gegensatz zu dem Opferduo hat das Tätertrio – so zumindest sagt es Arche – reichlich Alkohol getrunken. „Koks gezogen“ wurde auch. Der Halbbruder – er wird in Handschellen in den Saal gebracht – erwähnt das Koks auch auf Nachfrage nicht. Eine erste Frage: Hat Arche das Koks „erfunden“, um die Gedächtnislücke plausibel zu machen, oder versucht der Halbbruder, Arche aus der „Koksschusslinie“ zu nehmen? Der Angeklagte jedenfalls hat erkannt, dass er Hilfe braucht. Alkohol und Drogen – er wird das nicht alleine schaffen.
Freundlich wirkt der junge Mann. Einsichtig. Er hat seine Aussage gleich mit der Beteuerung begonnen: „Mir tut das alles wahnsinnig leid. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.“ Dann geht es um sein „juristisches Vorleben“. Schnell wird deutlich: Da sitzt ein Mensch mit einem hohen Gewaltpotential, der seinem Gegenüber – wenn es ihn ‚Penner‘ bezeichnet – auch schon mal mit einem Motorradhelm gegen die Stirn schlägt, dass es scheppert. Man erfährt das durch Verlesen früherer Urteile. Eigentlich ist das, was die Vorsitzende und ihr Richterkollege abwechselnd verlesen, eher eine Art akustischer Sprint. Was da durch den Saal wabert, ist Hochgeschwindigkeitslektüre – es ist eine Art akustischer Beleidigung all denjenigen gegenüber, die gern folgen würden. Da sitzt man in einem höchstrichterlichen Silbenhagel nach dem Motto: bringenwirshinteruns. Die da vorlesen, wissen, worum es geht. Allen anderen bleibt bestenfalls eine Ahnung. Der Angeklagte jedenfalls ist in Erscheinung getreten: Körperverletzungen, Fahren ohne Fahrerlaubnis …
Dass sich Sachen, die Arche jetzt aussagt, nicht immer mit dem decken, was er andernorts von sich gab – dafür gibt es Erklärungen: „Ich habe mich geschämt, das zuzugeben.“ Bei der Polizei hatte Arche von Marihuana gesprochen – jetzt ist auch Koks dabei. Nichts lässt sich einschätzen. Sitzt da einer, der wirklich bereut, oder hat er – im Knast gibt es reichlich ‚Spezialisten‘ – einfach gelernt, womit am besten zu punkten ist?
Gelernt hat der Angeklagte eigentlich nichts. Er ist – im Alter von vier Jahren – erstmals „in einer Einrichtung“ gekommen. Gemeint ist wohl ein Kinderheim. Der Vater: Knastkarriere. Die Mutter – psychisch angeschlagen – schafft es nicht mit den Kindern. Später – der Vater ist aus dem Knast – reist die Familie in die Dominikanische Republik. Der Angeklagte ist 13 Jahre alt. Als die Eltern den Urlaub beenden, bleibt Arche mit seinem Bruder dort – schlägt sich irgendwie durch. Nach drei Jahren kommt er zurück, versucht es mit Schule, beginnt später eine Lehre als Koch.
Es gibt keinen Fixstern in diesem Leben. Der Angeklagte hat den Wunsch geäußert, von einem Arzt untersucht und hinsichtlich seines Suchtverhaltens begutachtet zu werden. Das hat nicht vor der Verhandlung stattgefunden – es soll jetzt stattfinden. „Wie lange werden Sie brauchen?“, fragt die Vorsitzende. „Etwa eine Stunde.“ Es ist 11.15 Uhr. „Wir machen dann um 12.30 Uhr weiter.“ Man verlässt den Saal, den Tag, den Prozess. Wieder eine dieser tieftraurigen Geschichten, die bereits am Anfang Verlierer ausspucken. Arche ist einer von ihnen. Aber: Erklärungen sind keine Entschuldigungen. Arche – man möchte ihm das glauben – hat verstanden, dass er es alleine nicht schaffen wird. Er hat verstanden, dass er Hilfe braucht. Da muss einer lernen, aus Trümmern etwas aufzubauen – muss lernen, Aggressionen zu kontrollieren. Arche wird am Ende zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Dazu: der 64-er.
Paragraph 64, Strafgesetzbuch: „Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt […]zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.“ Man wünscht alles Gute.