Schreibkraft
Heiner Frost

Abreibung am Tatort

Kaninchen

An der Eingangstür zum Bürocontainer hängt ein Schild: „Video überwacht“. Der Rollladen des Fensters ist leicht angehoben – die Scheibe dahinter zersplittert. Tatsächlich: Eine Videokamera gibt es, aber sie bestrahlt einen anderen Bereich. Es ist der Einfahrtsbereich zu den KBE. Das steht für Kommunalbetriebe Emmerich. Später wird eine Durchsicht der Videoaufzeichnung ergeben: Im Einfahrtsbereich zu den KBE wurden nur Kaninchen gesichtet. Die Täter kamen über den Zaun. Es tritt auf: Peter Baumgarten. Er gehört zum Erkennungsdienst der Kreispolizeibehörde Kleve. Erkennungsdienst – das bedeutet unter anderem: Spurensicherung. Die Nation kennt sich aus. Die Nation ist fernsehgeschult. Die drei Angestellten der KBE, die schon auf Baumgarten gewartet haben, wissen, was zu tun ist. Genauer gesagt: Sie wissen, was zu lassen ist. (Fernseherfahrung.)


Sicherungsangriff

Baumgartens Erfahrungen stammen aus der Wirklichkeit und aus den Seminaren, die er besucht hat. Kriminalistische Fotografie zum Beispiel. Die Fotografie ist längst zentraler Bestandteil einer soliden Tatortdokumentation. Das Motto: Vom Großen ins Kleine. Erst die Übersicht, dann die Details. Das Codewort: Sicherungsangriff. Baumgarten ist der zweite am Tatort. Vorher waren die Kollegen vom Wach- und Wechseldienst da und haben die Anzeige aufgenommen. Jetzt gehört der Tatort dem Erkennungsdienst. Baumgarten hat alles dabei, was gebraucht wird. Er wird gut zu tun bekommen. Der Tatort ist umfangreich. Einbruch in zwei Bürocontainer. Dazu kommen noch zwei Autos. Aus einem wurde das Radio geklaut. Die Stimmung am Tatort: Gelassen. „Das liegt in diesem Fall auch daran, dass es sich nicht um einen Wohnungseinbruch handelt“, sagt Baumgarten. „Wenn Täter in den Privatbereich von Menschen eindringen, ist das etwas ganz anderes. Vor allem Frauen haben damit oft große Probleme. Manche wollen dann nicht mehr zurück in ihre Wohnung. Männer gehen meist anders damit um. Denen rate ich meist: Nehmt es ernst, wenn eure Frauen Angst haben.“ Teil der Beruhigungsstrategie: Den Menschen erklären, dass sie nicht persönlich gemeint waren. Es hätte jeden erwischen können.

War hier schon jemand drin?

Der Emmericher Tatort: Umfangreich, aber eben nicht privat. Baumgarten beginnt mit dem ersten Bürocontainer. Der wird ab zehn Uhr wieder gebraucht. Dann kommen die ersten Kunden und bringen ihren Müll: Elektroschrott, Pappe … Baumgarten arbeitet sich von außen vor. Erst einmal hebt er den Rollladen an. Mit  Gummihandschuhen, versteht sich. Es geht um Spurensicherung, nicht um die Vernichtung. Der Vorarbeiter schließt die Containertür auf. „War hier schon jemand drin?“, fragt Baumgarten. „Der Täter natürlich. Wir sind hier nicht drin gewesen.“  Die Jungs kennen sich aus. Baumgarten wirft einen ersten Blick ins Innere des Containers und wendet sich dann den Fensterscherben zu, die draußen liegen. Er hebt sie einzeln hoch, hält sie gegen das Licht. Spurensuche. Was wird gesucht? „Das können zum einen Fingerabdrücke sein, aber gesucht wird auch nach Sohlenprofilen.“ Auch im Innenraum wird Baumgarten später Scherben untersuchen. Unter Punkt 3.4 wird er in seinem Bericht vermerken: „Schuhsohlenabdruckspuren: Der Fußboden im kleineren Container war im Bereich des Einstiegsfensters bis zur Mitte des Raumes übersät mit  unterschiedlich großen Glassplittern. Auf einigen von ihnen sind eher schwach Fragmente von Schuhsohlenspuren zu erkennen. Das erkennbare Sohlenmuster besteht aus winklig angeordneten Rillen. Einige relevante Glasstücke wurden sichergestellt zwecks genauerer Untersuchung auf der Dienststelle.“

Was fehlt?

Alle „Fundstücke“ werden sorgfältig beschriftet und eingetütet. Spurensicherung ist nichts für Chaoten. Nachdem Baumgarten sich mit den Scherben beschäftigt hat, geht es an den Klassiker: Fingerabdrücke. Der Fensterrahmen wird abgepinselt und siehe da: Fingerspuren werden sichtbar. Wenn Baumgarten mit dem Gerät hantiert, das ein bisschen wie ein kleiner Staubwedel aussieht, kommt Sherlock-Holmes-Atmosphäre auf. Immerhin: Bereits im Jahr 1892 wurde in Argentinien erstmals ein Mordfall mittels Fingerspuren geklärt. In Europa wurde die Daktyloskopie  zuerst in England (1901) eingeführt. Längst ist sie weltweit als Standard akzeptiert. Aber so viel ist sicher: Spurensicherung im 21. Jahrhundert ist eine Hightechangelegenheit. Fotografiert wird digital, und auch die daktyloskopischen Spuren – die Fingerabdrücke also – landen am Ende im Rechner.  Zwischendurch Gespräche mit dem Vorarbeiter und seinen Kollegen. „Können Sie schon sagen, was fehlt?“ Sie können. Der Computer ist weg. Ein W-Lan-Router ist auch nicht mehr da. Aber es geht auch andersherum: Auf dem Schreibtisch befindet sich ein Lappen. „Der war vorher nicht hier“, sagt ein Mann, der mittlerweile eingetroffen ist und sich als der herausstellt, der normalerweise im Container arbeitet. Er nimmt den Container in Augenschein und raucht Selbstgedrehte. Baumgarten arbeitet ruhig den Tatort ab, macht Notizen hier, tütet da etwas ein, fotografiert immer wieder Details und legt dazu einen Zollstock sichtbar ins Bild. Es geht um Größenverhältnisse. Es geht um die Planparallelität. „Das ist bei den Fotos sehr wichtig. Wir achten darauf, dass nicht einfach aus einem beliebigen Winkel dokumentiert wird. Das kann schnell die Perspektive verzerren und einen falschen Eindruck erwecken.“ Auch in Sachen Belichtung geht es darum, das Bestmögliche herauszuholen. Sofern möglich, wird nicht geblitzt. „Mein Kollege fotografiert fast nie aus der Hand. Der nimmt immer ein Stativ“, erklärt Baumgarten, der nach circa 45 Minuten den ersten Bürocontainer abgearbeitet hat. Am Ende seines Einsatzes wird er insgesamt 60 Tatortfotos gemacht haben. Fotos, die er im Büro ‘auf den Rechner ziehen’ wird und die dann manipulationssicher gespeichert sind. Auch das gehört zum Geschäft.

Molekularkriminalistik

Im zweiten Bürocontainer sieht es richtig wüst aus. Hier gibt es mehrere Büroräume. Das Türblatt zu einem Raum, in dem unter anderem Arbeitskleidung aufbewahrt wird, ist zersplittert. Baumgarten entwickelt am Ende die These, die Tür könnte mithilfe eine Feuerlöschers zerstört worden sein. Im Nebenraum ist ein Stahlschrank aufgebrochen worden. Das Werkzeug dazu war vor Ort. Im Nebenraum. Könnte sein, dass sich am Meißel Körperzellen des Täters nachweisen lassen. Körperzellen – das bedeutet DNA. Eine der wohl größten Revolutionen der letzten Jahrzehnte ist die molekulare Kriminalistik, also die Anwendung gentechnischer Methoden bei der Spurensicherung. Längst gehört dieses Verfahren für den Erkennungsdienst zum Alltag. Peter Baumgarten wird von den Werkzeugen im Bürocontainer Abriebe sicherstellen. Die werden mit sogenannten Bakterietten gewonnen. Bakterietten sehen aus wie Q-Tips. Verpackt sind sie in Glasröhrchen. Abriebe gibt es feucht und trocken. Zunächst werden die Stellen, an denen sich Körperzellen vermuten lassen, feucht abgerieben. Dazu werden die Bakterietten mit destilliertem Wasser angefeuchtet.
Während Fingerspuren in der Regel schnell sichtbar werden, brauchen die Ermittler bei der Untersuchung der Abriebe mehr Geduld, denn die Proben werden allesamt eingeschickt. Die DNA-Analysen müssen im Labor gemacht werden. Dabei entstehen pro Probe Kosten zwischen 100 und 250 Euro. Zum Thema DNA-Spuren vermerkt Baumgarten später in seinem Bericht: „Abriebe mit Bakterietten, die zuvor mit destilliertem Wasser getränkt worden waren sowie mit trockenen Bakterietten von folgenden tatrelevanten Gegenständen genommen. Dabei dürfte insbesondere an den Werkzeugen wegen des nicht nur vorübergehenden Kontaktes Zellmaterial des unbekannten Täters zu erwarten sein: Hammerstiel, Breitmeißel, Spitzmeißel, Flachmeißel.“

Service-Team

Insgesamt verbringt Baumgarten fast vier Stunden am Tatort. „Wir vom Erkennungsdienst sind eine Art Service-Team für die verschiedenen Kommissariate.“  Nachdem Baumgarten wieder in seinem Büro ist und am Bericht arbeitet, kommt ein Sachbearbeiter mit einer Frage. Heinz Hüsken ist zuständig für Einbruch/Diebstahl. Er würde gern mit Baumgarten einen Tatort aufsuchen.
Der Täter ist durch eine Terrassentür in ein Einfamilienhaus eingedrungen. Drinnen fand er die Schlüssel für das Auto, das draußen geparkt stand. Das Ergebnis: Auto weg. Die Kollegen, die den Einbruch zunächst aufgenommen haben, sind davon ausgegangen, dass die Terrassentür vom Täter aufgehebelt wurde. Der mittlerweile schon gefasste Täter behauptet, die Türe nur aufgedrückt zu haben.
Hüsken möchte Klarheit. „Die Spuren an der Tür könnten auch Gebrauchsspuren sein“, erklärt er Baumgarten seine These. Die beiden machen sich auf den Weg zum Tatort. Baumgarten nimmt die Tür in Augenschein und kommt ziemlich schnell zu dem Ergebnis, dass sie nicht aufgehebelt wurde. „In diesem Fall müssten sich am Rahmen und an der Tür synchrone Spuren finden. Das ist nicht der Fall.“ Vorläufige Analyse des Tathergangs: Vermutlich war der Riegel der Tür nicht vollständig geschlossen.
Ergebnis: Die Aussage des Täters wird durch die Spurenlage gestützt. Das kann einen Unterschied in der Strafzumessung bedeuten. „Am Ende geht es für die Staatsanwaltschaft darum, ob dem Täter lediglich Diebstahl, oder aber ein Fall von besonders schwerem Diebstahl zur Last gelegt wird“, erklärt Baumgarten.
Für alle Beteiligten ist es wichtig, dass die Leute vom Erkennungsdienst gewissenhaft zu Werke gehen. Spurensuche bedeutet Annäherung an die Wahrheit, und eben aus diesem Grund ist es wichtig, dass die Ermittler ihr Bestes geben.

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