Schreibkraft
Heiner Frost

Verschwinden als Höchststrafe

vorwärts …

Peter Kerschgens ist 63. Jetzt muss jeder Schritt ein Schritt nach vorn sein. Auf der Stelle treten – sinnlos. Rückschritt: Verschwendung. Kerschgens hat das Sammler-Gen. Er archiviert Energie. Nichts soll verloren gehen. Kerschgens hat längst den Punkt überschritten, an dem er etwas sammelt – umgekehrt wird ein Schuh draus: Es sammelt ihn. Die Dinge finden zu ihm. Sie kennen den Weg. Meistens jedenfalls.
Nicht nur Kunst machen ist Kunst. Einer wie Kerschgens macht Zeugenschaft zum Kunstwerk. Der Mann ist eine Art Behälter. Er stellt zusammen. Wer in Kerschgens Reich eintaucht, muss Zeit mitbringen. In vier Bibliotheken steht – im wahrsten Sinne des Wortes – Kunst zu Buche.

Spuren

Im ersten Leben war Kerschgens Lehrer. Mehr als 30 Jahre lang. Er stammt aus „Richtung Köln“ –  zwischen Düsseldorf und Köln, „jenseits des Benrather Sprachgürtels“. Irgendwann verschlug es ihn an den Niederrhein. Er blieb. War Lehrer. Und immer schon besessen. Von der Kunst. Von der Energie. Vom Sammeln. Vom Bewahren. („Es geht einfach so Vieles verloren.“) Verlust bedeutet Unwiederbringlichkeit. Schmerz. Vergessen. Sprachlosigkeit. Ob ein Künstler es in die Ewigkeit schafft, ist von vielen Faktoren abhängig. Wenn alles schlecht läuft, stirbt er, und sie lassen den Container kommen. Endstation Müllhalde.  Diagnose: Spurlos verschwunden. Vernichtung im doppelten Sinn. Kerschgens sammelt Spuren und ist selbst zum Spurenleger geworden.
Kerschgens ist ein Sammler ersten und zweiten Grades. Der erste Grad: Das Direkte. Zeichnungen, Arbeiten auf Papier. Aber Kerschgens sammelt auch Spuren.  Das ist zweite Instanz. Bücherspuren, Pressespuren, Plakatspuren, Einladungskartenspuren. Was Kerschgens seit 1975 zusammengetragen hat, dürfte manchem Museumsbibliothekar tränenblinde Augen machen.

Alles geschleppt

Circa 310.000 Ausstellungseinladungen, circa 40.000 vorwiegend monografische Titel, circa 90.000 Pressebesprechungen, circa 6.000 Ausstellungsplakate. Wichtig zu wissen: Kerschgens neigt zur Untertreibung. Übertreiben kann jeder. Wer auf einem Archiv sitzt, wie er eines aufgebaut hat, muss nicht dick auftragen. Er muss nur die Tür öffnen. Dann spricht das Werk für sich. Kerschgens Archiv: Im wahrsten Sinne des Wortes zusammen-getragen. Der Mann besitzt kein Auto. Wenn er auf Tour geht, um Spuren zu sammeln, braucht er am Ende jemanden, der ihn fährt. Irgendjemand findet sich immer. Wenn man Kerschgens fragt, wie all das zusammengekommen ist, streckt er die Hände vor. „Alles geschleppt.“
akribisch
Natürlich gibt es auch Netzspuren von einem wie Kerschgens: www.kunst-archiv-peter-kerschgens.de. Wer den Sammler im Internet besucht, erfährt: Das Archiv Kerschgens ist auf zwei Häuser verteilt und umfasst siebzehn Räume unterschiedlicher Größe. Gesamtfläche: Circa 350 Quadratmeter. Wer mit Kerschgens zusammen das Archiv in Augenschein nimmt, erlebt, dass Worte und Zahlen allein wenig aussagekräftig sind. Aus allen Ecken drängen sich die Spuren auf und scheinen zu rufen. („Für Künstler ist es wichtig, dass sie erwähnt werden. Und manche waren echt überwältigt, weil sie gemerkt haben, dass ich mehr Material über sie besitze, als sie selber haben.“) Ziel des Menschseins ist Bemerktwerden. Kaum jemand will unentdeckt, unerkannt, unbemerkt bleiben. Künstler schon gar nicht. Ihr Kapital: Phantasie. Kerschgens hat das verstanden. Im Fall von Kunst hat Achtung etwas mit Bewahrung zu tun.  Mit Respekt vor dem Werk. Erste Instanz des Respekts ist das Interesse.

Das Etwas

Mitten zwischen endlosen Regalmetern, die deckenhoch Stück an Stück reihen, Karton an Karton und Tüte an Tüte, sitzt Kerschgens und erzählt von der Leidenschaft – von dem unstillbaren Drang, Energie zu retten. Eines steht fest: Wer mit solcher Akribie zu Werke geht, muss  ernst meinen, was er da tut. Das hier ist kein Hobby. Da muss etwas tief sitzen. Sehr tief. Das Etwas ist mehr als eine schrullige Besessenheit. Das Etwas muss Liebe genannt werden. Die Grenzlinie zwischen Hingabe und dem hoffnungslosen Verfallensein ist kaum sichtbar, aber fest steht: Kerschgens ist kein hoffnungsloser Fall. Alles, nur das nicht. Er ist einer, der einen genau definierten Weg geht. Er reiht Entscheidung an Entscheidung.  Kerschgens’  Internetseite vermittelt einen Eindruck von der schier unglaublichen Fülle. Wer das Archiv live erlebt, arbeitet sich mit jedem gelaufenen Meter an einer wachsenden Sprachlosigkeit ab, die aus dem Staunen geboren wird.

Lustgewinn

Kerschgens’ Archiv ist nicht nur Heimstätte für die großen Namen. Darum geht es einem wie ihm nicht. Er legt eine Spur. Er verfolgt Spuren. Er ist unterwegs, besucht Ateliers und lädt mittlerweile auch Künstler ein: Artists in residence. Arbeiten in Haldern. Manche mögen vor der Anreise gar nicht so genau wissen, wo es hingeht und stellen dann fest: Haldern ist ein Zentrum. Provinz ist nur da, wo man sie hindenkt. „Kunstminusarchivminuspeterminuskerschgens“ – eine wortgewordene Internetadresse. Für einen wie ihn  müsste man das Internetvokabular erneuern: kunstplusarchivpluspeterpluskerschgens. Das macht Sinn, denn was in diesem Archiv stattfindet, ist Addieren von Energien. Der Besucher erlebt ein Gesamtkunstwerk. Ein Lebenswerk. Das Motto: Retten, sichten, sortieren, zuordnen, erhalten. Kerschgens ist einer, der sein Leben einsetzt, um dieses Ziel zu erreichen und eben das beeindruckt. Es entsteht der Gedanke, dass es am Ende nur so gehen kann. Natürlich: Man kann alles studieren und dann einen Beruf ergreifen. Was Kerschgens demonstriert ist Leidenschaft in letzter Konseqeunz. Bevor allerdings der Gedanke aufkommt, es handele sich  bei dem Mann um eine Art Mutter Theresa der Kunst, sei schnell gesagt: Was Kerschgens da tut, bedeutet ihm auch Lustgewinn. Er lebt in der Kunst. Mit der Kunst. Aber wenn einer ein solches Gebäude errichtet hat, bekommen die Dinge irgendwann auch das, was man Eigenleben nennt. Nicht Kerschgens sammelt – es sammelt ihn.

Nachher

Natürlich steht nach Inaugenscheinnahme des Halderner Kunstuniversums der Gedanke im Raum: Alles ist endlich. Was wird aus einem Lebenswerk, wenn das Leben abreist und das Werk zurücklässt? Dann gilt es, den Schatz ein zweites Mal zu heben, denn so viel ist sicher: Kerschgens hütet einen Schatz. Da hat einer unendlich viel Energie in das Retten von Energien investiert und etwas Unglaubliches geschaffen. Was wird daraus? Natürlich macht sich ein Sammler Gedanken über seine Sammlung. Irgendwann braucht jede Sammlung ein neues Zuhause – spätestens dann, wenn der Sammler für immer abgereist ist – wenn er nur noch Spur ist und Echo.  Die Höchststrafe für ein Lebenswerk: Bedeutungslosigkeit. Längst ist das, was das Kunst-Archiv Kerschgens ausmacht, dem Status Privatangelegenheit entwachsen.  Das Archiv ist eine Art Raum für das kollektive Kunstgedächtnis. Das Problem: Kunst hat wenig Lobby. Und: Ein Archiv wie dieses kann man nicht einfach übernehmen. Man muss es pflegen. Energie schafft neue Energie. Energie zu retten ist eine anstrengende Beschäftigung. Aber: Es ist eben kein Job. Die Höchststrafe am Ende einer Künstlerlebens: Verschwinden.