Kein Sieg ohne Training
Es ist die zwölfte Stringtime. Stringtime? Sie wissen schon: Goch und die Geigen. Goch und die Virtuosen. Goch und die drei Nationen: Polen, Holland, Deutschland. Was kann man noch schreiben nach elf Jahren Stringtime-Dauererfolg? Was macht die Stringtime aus? Natürlich, da gibt es Konzerte: Das Eröffnungskonzert, Hauskonzerte, Solistenkonzerte — das Abschlusskonzert. Aber Stringtime, die Zeit der Saiten, dieses Ereignis lebt von der Stimmung „auf dem Campus“. Klar — ein Konzert mit virtuosen Stücken ist eine tolle Sache fürs Publikum — aber was ist schon „ein Sieg ohne Training“. „Golf ist eigentlich ein Glücksspiel“, hat einmal ein berühmter amerikanischer Golfer in einem Interview dem verdutzten Reporter erklärt und dann den Zusatz gemacht: „Aber es ist schon komisch: Je mehr ich trainiere, um so mehr Glück habe ich auf dem Platz.“
Erfolg ohne Training — da ist in der Musik nix zu machen. Intelligenz schadet nicht — aber: leider, leider kann sie das Üben nicht ersetzen. Und Stringtime — das bedeutet für die Akademieteilnehmer: Unterricht und üben, üben, üben, üben — Konzert. 14 Trainer sind heuer in Goch dabei — ständig bemüht, aus den Teilnehmern das Beste herauszuholen, indem sie das Beste in sie investieren: Erfahrung. Musikunterricht ist Erfahrungstransfer — und: Motivationskunst, denn: die da beim Konzert in Anzug und Lackschuhen die Bühne bevölkern, sind zwischendurch ja ganz normale Kinder. Sie stehen am Kicker, Chatten übers Handy, sind scharf auf die neuesten Klingeltöne und und und …
Angesichts des Musik-Joint-Ventures von drei Nationen sind „Unbeleckte“ immer wieder versucht, von der grenzenlosen Kunst zu sprechen. „Musik kennt keine Grenzen“, heißt es. Wie unwahr. Wäre es wahr — würden in Goch keine Übersetzer gebraucht. Stopphalt: Die werden doch nur für den Lehrertext gebraucht und nicht für die Noten. Von wegen. Wer da glaubt, ein Notentext sei eindeutig, unterliegt einem kapitalen Irrtum. Beweis gefällig? Bitte sehr: Einfach mal drei oder vier CDs mit einer Aufnahme desselben Stückes kaufen (oder hören). Wenn der Notentext eindeutig wäre, müssten dann alle gleich klingen. (Glenn Gould, seines Zeichens Pianist, nahm Bachs Goldberg-Variationen zweimal auf Platte auf. Unterschiedlicher können Interpretationen kaum sein. Wozu? Wäre der Text eindeutig, würde eine Einspielung gereicht haben. Man bräuchte sie ohnehin alle nicht: Die vielen Interpreten — all die Orchester. Eindeutigkeit — das Traumland des wohlmeinenden Laien.) Zurück zur Stringtime — der Transfer-Akademie musikalischer Erfahrungen. Im Gocher Kastell herrscht zwar überwiegend gute Stimmung — harte Arbeit wird trotzdem von allen Teilnehmern verlangt und geliefert. Wer sich als Gast zum einem der 14 Dozenten in den Unterricht begibt, der merkt schnell, wie viel Arbeit zwischen dem ersten Kontakt mit einem Stück und der Aufführung liegt. Merke: Nichts kann langweiliger sein, als einfach die Noten zu spielen, wie sie auf dem Papier stehen. Das ist ein bisschen wie mit der Schauspielerei. Das Textbuch zum Drama (oder zur Komödie) ist noch nicht das Drama selbst — es handelt sich bestenfalls um einen Handlungsvorschlag mit Textergänzung. Das schönste Gedicht lässt sich leicht „kaputt sprechen“, und der schönsten Partitur geht es nicht anders. Wer es nicht schafft, Körper und Geist synchron einzusetzen wird zum „Kunststücks-Äffchen“. Wer nachher auf der Bühne noch den Fingerdompteur gibt, kommt nie bis ins Zentrum der Musik — und eben da soll es hingehen für die die Teilnehmer, egal, ob sie nun Kammermusik spielen, solistisch in Erscheinung treten oder in einem der Orchester antreten. Immer geht es um das Zentrum der Musik — die Seele der Noten.
Vieles von dem, was die Schüler der Stringtime da spielen, ist in einer musikalischen Sprache verfasst, die es neben der Technik erst zu erlernen gilt. Welche Noten sind wichtig, welche sind „Girlandenwerk“? Wo muss die Betonung gesetzt werden? Wie gestaltet man eine musikalische Phrase? Wer Musik macht, entwickelt ein Negativ: Man kann die verschiedenen Ebenen der Partitur unterschiedlich belichten. Merke: Die Interpretation, in der „alles“ zur Sprache kommt, gibt es nicht. Jede Interpretation ist anders. Und natürlich ist es mit den Noten wie mit allen wichtigen Dingen: Man kann sich trefflich streiten. Und heftig. Was der eine für kongenial hält, ist dem anderen akustische Körperverletzung. Eben da liegt die Spannung. Eben hier findet der Erfahrungstransfer statt. Eben das macht den Charme der Stringtime aus. Da sieht man vormittags Kinder über die Gänge turnen, und abends werden erwachsene Musiker aus ihnen — Gefäße des wunderbaren Klanges. Es ist immer wieder erstaunlich. Und eben dieser Wandel gehört zu den Wundern der Stringtime, die das Dabeisein so spannend machen.