Schreibkraft
Heiner Frost

Stille Post

Bild: Lena Frost

Überlassen wir den Wissenden das Feld. Sie sprechen vom „zirkumpolaren [sic!] eurasischen Raum“, von „Wirkmächtigkeit“, von der „Ausformung dieser besonderen Weltsicht“ und von „Projektionsflächen“. Wie soll man auch die Kunst mit Text ummanteln? Meist wird es ein Hineinzwingen.

Jonglieren

Texte zu Ausstellungen sollten aus dem einfachen Imperativ „Geht hin!“ bestehen. Abraten muss man nicht. Was mit Menschen beim Sehen passiert, ist auch für Rezensenten nicht planbar. Abseits des Eigentlichen – der Kunst also – geht es um Inbesitznahme. Es geht ums Jonglieren mit dem Vorgefundenen und um Hinweise auf (zentrale?) Botschaften.
„Joseph Beuys und die Schamanen“ heißt die neue Ausstellung im Museum Schloss Moyland. „Geht hin!“ – nicht weil Prof. Dr. soundso sich Gedanken über dies und jenes gemacht hat – nicht weil es eine der aufwändigsten Moyländer Ausstellungen der letzten Jahre ist. (Superlative außerhalb des Gezeigten führen ja nicht wirklich ins Zentrum.) Beuys ist Beuys nicht durch Interpretation sondern immer nur durch sich selbst. Geburtshelfer fürs Verstehen werden nicht gebraucht.

Foto: Rüdiger Dehnen

Sicherer im Gesehenen

So könnte man es sagen, aber dann sind da auch viele Menschen, die nach Erklärungen suchen, um sich sicherer zu fühlen im Gesehenen. Nichts spricht dagegen. Sie suchen den Künstler in der Kunst und müssen sich eigentlich nur selber finden: dadurch entsteht Kontakt. Von Verständnis soll nicht gesprochen werden. Und dann die Fragen: Was würde Beuys sagen zu diesem oder jenem? Wäre der Mann mit Hut und Weste heute ein Querdenker? Würde er eine eigene Heilpraktiker-Praxis eröffnen? Wäre oder war er ein Schamane – ein Hohepriester des Suchens?

Jeder bestimmt die Dosis selbst

Fragen wie diese mögen spannend sein, weil sie Anlass zu Rede und Gegenrede geben, aber Kunstgenuss ist letztlich eine intime Angelegenheit. Es geht um Erkenntnisse im Angesicht des nicht Erklärbaren. Es geht – vielleicht nähern wir uns jetzt dem demnächst in Gedanken Hundertjährigen – um Energieübertragungen. Es kann sich Negatives wie Positives übertragen. Am Ende spielt das keine Rolle. Jeder bestimmt die Dosis selbst.
„Beuys und die Schamanen“ ist – kommen wir zum Eigentlichen – eine wunderbare Ausstellung an der Schnittstelle zwischen Kunst und Völkerkunde – am spannendsten immer dann, wenn Dinge kommentarlos ineinandergreifen und in Beziehung gedacht werden können. Wenn das vermeintlich Reale – die Wirklichkeit also – ins Bild wächst. Wenn aus dem Schlitten unter Glas ein Schlitten hinter Glas wird. Wenn nachvollziehbar wird, wie das Konkrete im scheinbar Abstrakten strandet. Vielleicht ist „stranden“ ein falsches Wort. Es setzt Gedanken an einen Notstand frei. Also anders: Es wird nachvollziehbar, wie die Wirklichkeit in der Abstraktion zu neuer Strahlkraft findet. Es ist wie die stille Post: die Dinge verändern sich beim Hinsehen und Weitergeben.

Foto: Rüdiger Dehnen

An der Quelle

Natürlich kann es spannend sein, wenn man weiß, welche Position einer wie Beuys zu den Dingen des Lebens einnahm – natürlich kann Wissen das Sehen verändern/beeinflussen. Aber rührt nicht der größtmögliche Lustgewinn aus dem Sich-selbst-in-Zusammenhang-Setzen-mit-dem-Gesehenen?
Die Ausstellung ‚Beuys und die Schamanen‘ stellt die Kunst – Beuys‘ Kunst – in Zusammenhänge mit dem vielleicht Ursprünglichen; sie zeigt, wie Künstler von heute mit Beuys und seiner Welt umgehen – wie sie also Position beziehen. Und während man durch die Räume balanciert, kommt dieses Gefühl auf, an einer Quelle entlang zu gehen. Alles Nachher wird zum déjà vu. Es geht um ein umrandetes Stück Ewigkeit.
Beuys – auch diese Erkenntnis lauert überall – ist ein Steinbruch, aus dem sich jeder bedienen kann. Jeder kann sich dieser Kunst bemächtigen: da ist der politische Beuys, der Schamane (Schaf im Wolfspelz), der ‚Mann von hier‘, der Fragensteller, Antwortengeber – die mächtige Wand, aus der sich jeder das ganz eigene Beuysstück herausbrechen kann. Da ist der Arbeitgeber für Forschende und der Energie-Erzeuger.

Haltbarkeiten

Vor manchen seiner Werke steht man noch heute wie elektrisiert oder vom Blitz gestreift. Sie haben nichts von ihrer Aura eingebüßt. Sie sind bereit, Tradition zu werden – sind wie Höhlenzeichnungen mit unbegrenzter Haltbarkeit. Sie sind oder werden Teil der Erzählung vom Sehen, das nicht abzuspalten ist vom Erleben.
Und was ist mit all denen, die mit Beuys nichts anfangen können – ihn für einen Scharlatan halten? Sie äußern eine Meinung. Dagegen ist nichts zu sagen. Fast wirkt es wie ein Versatzstück, aber nicht jeder muss mit allem etwas anfangen können. „Beyus und die Schamanen“ ist eine irgendwie zerbrechliche Annäherung an das Unsagbare – absolut sehenswert.

Satelliten

Im Umfeld ist Vieles möglich. Verweise auf den Kräutergarten. Beuys und die Landschaft. Beuys und die Tiere. Beuys und der Blick in die Zukunft. Beuys und das Soziale. Beuys bietet Stoff für jede Art des Erklärens und somit viele Ansätze. Die Kunst als Arbeitgebende. Schade nur, dass die Ausstellung momentan nicht zu sehen ist (Corona). Das Museum: geschlossen, aber in Moyland sind sie bereit, sobald es möglich ist, die Türen aufzureißen und eine grandiose Schau der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Fotos: Rüdiger Dehnen