Schreibkraft
Heiner Frost

Shibu

Wir verändern Leben“, sagt Shibu. Er muss es wissen. „Du kannst den Menschen einfach nur Medizin geben“, sagt Shibu. „Das ist dann die eine Sache. Aber wenn du ihnen helfen willst, musst du ihr Leben betreten.“ Er muss es wissen. Und wenn er es weiß, ist das kein Zufall.

Latte Macchiato

Acht Stunden Warten in Dubai. Der Weg nach Hause wird zur Marterstrecke. Indien im Rückspiegel … Deutschland als Ziel. Ein durchschnittlicher Drogeriemarkt bei uns bietet sechs Meter Gesundheitsprodukte in vier Regal-Etagen. Es ist an alles gedacht – vom Wohlfühl-Tee bis zur Vitaminversorgung. Am Flughafen in Dubai kosten ein stilles Wasser und ein mittlerer Latte Macchiato sieben Euro. 100 Gramm Süßigkeiten sind für zwei Euro zu haben. Am 30. Oktober 2011 wird im südindischen Tuticorin ein Euro gegen 68 indische Rupien getauscht. Im Restaurant des Raj-Hotels in Tuticorin kostet ein Thali 80 Rupien. Als Thali  wird in der indischen Küche eine Mahlzeit bezeichnet, die aus verschiedenen, regional unterschiedlichen Bestandteilen zusammengestellt wird. Auf der Straße ist das Gericht preiswerter zu haben. Latte Macchiato und Wasser kosten umgerechnet 476 Rupien.

Berufung

Shibu kommt aus Kerala. Kerala ist einer der indischen Bundesstaaten. Shibu lebt jetzt in Chennai/Tamil Nadu und arbeitet für DAHW Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe e.V., die in Indien GLRA India heißt. GLRA steht für German Leprosy and Tuberculosis Relief Association. „Kerala muss man gesehen haben“, sagt Shibu. Er hat als Historiker angefangen: Studium der Geschichte. Kein Wegweiser zur Lepra. Oder doch? Für Berufungen drucken sie keine Schilder. Aber es gibt Stimmen. Das sind nicht immer innere Stimmen. Manchmal kommen sie von außen. „Meine Mutter hat mich auf den Weg gebracht“, sagt Shibu. Die Eltern: Lehrer. Der Mutterwunsch: „Tu was Soziales.“ Dann der Zufall. Zufälle sind wichtig im Leben, weil sie Richtungen eröffnen, die vorher nicht gedacht oder geahnt wurden. Bei Shibu war es ein Inserat. DAHW suchte Mitarbeiter. Es ging um Lepra. Shibu wurde Field-Worker. Dass Lepra heilbar ist, wussten damals die Wenigsten. Lepra war eine Krankheit, die einsam machte. Die Menschen hatten Angst. In seiner Zeit als Field-Worker lernte Shibu die Angst kennen. Eine Diagnose wie Lepra schlug damals in ein Leben ein wie eine Sprengbombe. Sie zerstörte Perspektiven, Lebensentwürfe, soziale Gemeinschaften. Shibu hat all das erlebt. „Lepra ist heilbar“, sagt er. „Wenn die Krankheit frühzeitig entdeckt wird.“ Sie hinterlässt dann nicht die Schreckensbilder, die man mit ihr verbindet.

Flaschenpost

Am Beginn jeder Reise: Die Gewissheit von Rückkehr. Sicherheit ist diffus. Die Lautsprecherstimme am Flughafen strahlt Ruhe aus. Ein Teil der Narkose, die das Reisen erträglich machen soll. Aus Freiheit wird Enge. Mit dem Gang in den Flieger wird der Anspruch auf Individualität abgegeben. Es sei denn, du hast Geld, den Platz zu kaufen, der sich Business Class nennt oder First Class. Nicht Zeit – Platz ist Geld. Platz kann Luxus sein. Raum. Freiraum. Der Flughafen von Dubai ist wie viele Flughäfen. Flughäfen sind die Abschiedskathedralen unserer Tage. Statt Liedanzeigern halten sie Monitore mit Flug- und Gatenummern bereit. Abflugszeiten. Ankunftszeiten. Vor der Reise: Die Reinigung. Die Wandlung. Vom potenziellen Sicherheitsrisiko werden wir mittels Sondenuntersuchungen zu Passagieren. Wir geben Flüssigkeiten und scharfe Gegenstände ab, gehen durch die Sicherheitsschleuse und können im nächsten Dutyfreeshop Flüssigkeiten und scharfe Gegenstände kaufen. Dann sitzen wir und warten. Globalisiertes Treibholz. Jeder von uns eine Flaschenpost. Passagiere vernichten Zeit und Geld.

Würde

Während ich acht Stunden auf den Heimflug warte, sinken Reiseeindrücke ein. Dubai ist die Schaltstelle zwischen den Welten. Die Lebensentwürfe Indien und Deutschland könnten unterschiedlicher nicht sein. Aber das Global Village verschweißt auch große Unterschiede. Indien hat soeben sein erstes Formel-I-Rennen gefeiert. In einem Interview sagt Sebastian Vettel nach seinem Sieg, Indien sei ein schönes Land. Die Menschen, so Vettel, hätten zwar wenig, seien aber zufriedener „als bei uns“. Ein Satz, den auch ich schon benutzt habe. Jetzt wird mir schlagartig klar, dass es sich um eine dieser Ruhigstellungsphrasen handelt. Die Essenz: Wir sind reich aber unglücklich. Im Hintergrund impliziert sich die Scheinerkenntnis, dass eben nicht alles zu haben ist. Wir haben das Geld und sind unzufrieden. Wer arm ist, ist am Ende wenigstens glücklich. Manches, denke ich, muss man nur zu Ende denken, um den Unsinn zu erkennen. Als ob Geld unglücklich machte. Die Definition von Reichtum ist eine Frage des Standpunktes. Es geht nicht um Geld. Geld ist nicht das Wesentliche.
Es geht um Würde. Die Würde eines Augenblicks ist oft noch für ein Lächeln zu haben. Die Würde eines Tages hängt von vielen Faktoren ab. Wenn du auf der Straße bettelst, kann Würde nicht zum Programm gehören. Würde musst du dir leisten können wie die Business Class im Flieger.  Die Frau, die vor dem Shopping Center in Chennai Touristen anbettelt, kann sich Würde nicht leisten. Drei Finger der rechten Hand – Daumen, Zeige- und Mittelfinger – bündelt sie wie es die Menschen hier tun, wenn sie essen. Wer für den eigenen Unterhalt arbeitet, dem ist die Würde geblieben. Sie muss mit Verachtung leben. Mit Geringschätzung. Mit Zurückweisung. Geld bedeutet für sie Zeit: Zeit, sich um das eigene Leben zu kümmern. Zeit für das eigene Leben zu haben, ist ein Teil der Würde, um die es geht. Wir müssen nicht Wohltäter sein, denke ich. Unsere eigene Würde hat etwas damit zu tun, anderen ihre Würde zu überlassen. Geld macht so wenig unglücklich wie es glücklich macht.

Copyright

„Wir verändern Leben“, sagt Shibu. Er fing 1989 als Field-Worker an. Bei der DAHW. Shibus Arbeit damals: Hausbesuche. Leprosy detection. Aus dem Historiker wurde einer, der von Haus zu Haus ging und die Lepra suchte. Shibu war trotzdem weiterhin eine Art Geschichtsschreiber. „Wir verändern Leben.“ Patienten, das ist für Shibu wichtig, haben immer eine Geschichte. Medikamente gegen die Lepra sind das Eine, der Umgang mit den Patienten und ihrer Krankheit: Das Andere. Es geht um die Würde. Wenn Shibu jetzt die Projekte der DAHW besucht, geht es noch immer um die Geschichten. Es geht noch immer darum, Menschen ihr Leben zurückzugeben. „Dafür und daran arbeiten wir“, sagt Shibu. Da gibt es Patienten, die nach der Heilung von der Krankheit ein kleines Darlehen bekommen haben, um eine Existenz aufzubauen. Auf dem Land kann das bedeuten, dass einer eine Ziege kauft oder eine Kuh. Es geht gegen die Abhängigkeit. Es geht um das Copyright am eigenen Lebensentwurf. Um die Vorherrschaft in der eigenen Existenz. Ein Darlehen als Hypothek auf die Menschenwürde. Es geht am Ende nicht darum, jemandem Geld in die Hand zu drücken und ihn stehen zu lassen. Es geht – das ist längst keine Neuigkeit mehr – um die Hilfe zur Selbsthilfe. Es geht darum, in eine andere Richtung zu investieren als die, aus der die Dividende zu erwarten ist. Natürlich geht es nicht um Investitionen, und es geht nicht um Dividende. Es geht um das Gute, das sich immer fortpflanzt. Manchmal werden die Samen mit dem Wind fortgetragen und blühen an anderer Stelle auf. Warte nicht auf die Blumen. Verteile die Saat.

Nandri

Shibu und seine Kollegen arbeiten – auch wenn das pathetisch klingen mag – an ihrem Entwurf für eine bessere Welt. Shibu ist einer, dem die Geschichten wichtig sind. Er muss raus. Aber: Wer unterwegs ist, braucht ein Zentrum. Shibus Zentrum: Chennai. Das ist seine Stadt. Trotzdem: Shibu ist einer, den man sich nicht mit einer Dauerkarte fürs Büro vorstellen kann. Einmal hat er während einer Auszeit in Dubai gearbeitet. In den ersten sechs Wochen hat er seine Uhr nicht umgestellt. Dubai unter den Füßen – Chennai im Herzen. So funktioniert einer wie er. Wir fahren raus. Sehen uns Projekte an.   Treffen Menschen. Joseph zum Beispiel: Joseph ist Bauer. Er zeigt seine Wunden. Wie kann einer solche Wunden haben und geheilt sein? Shibu erklärt es mir. „Lepra“, sagt er, „ist keine Hautkrankheit. It affects the nerves. Lepra greift die Nerven an.“
Die Schmerzempfindlichkeit der befallenen Regionen ist für immer außer Kraft gesetzt. Tritt sich dann einer beispielsweise einen Dorn in den Fuß, merkt er es nicht einmal. Entzündungen treten auf. Schlimme Wunden entstehen. Schwer zu erklären, dass einer trotzdem geheilt ist. „Vieles von dem, was wir bei den alten Patienten sehen, wird es künftig hoffentlich nicht mehr geben“, sagt Shibu. „Wenn die Lepra rechtzeitig entdeckt wird – wenn die Menschen rechtzeitig ihre Medizin bekommen, gibt es eine Heilung ohne die altbekannten Merkmale“, sagt Shibu. Aber es braucht noch immer Aufklärung. All das ist nicht zum Nulltarif zu haben. Viele von den alten Patienten sind Pflegefälle. Für den Rest ihres Lebens. In der Statistik tauchen sie nicht mehr auf. Aber das ändert nichts an ihrer Existenz. An ihren Bedürfnissen. An ihrer Würde. Im St. Joseph’s Leprosy Hospital in Tuticorin allein leben 65 Patienten. Sie haben keine Bleibe mehr. Sind aus dem Leben Gefallene. Ihr Zuhause: Das Krankenhaus. Sie sind In-Patients. Es gibt auch Out-Patients. Sie kommen zur Versorgung ihrer Wunden. Zum Essen. Insgesamt werden 233 Patienten versorgt. Natürlich gibt es einen Etat. Für das laufende Jahr beträgt er 95.415 Euro. Die DAHW  unterstützt das Krankenhaus mit knapp 10.000 Euro. Wer die Patienten besucht, spürt intuitiv, dass das Geld gut angelegt ist. 22 Mitarbeiter sind in der Patientenbetreuung beschäftigt. Ein viel benutztes Wort: Nandri. Nandri ist Tamil und bedeutet: Danke.

Mehr als Zahlen

Krankheiten wie Lepra und Tuberkulose gehören zu den leisen Katastrophen. Sie sind ein Teil der indischen Lebensgegenwart. Die Arbeit von Shibu und seinen Kollegen ist Basisarbeit. Nach außen wenig spektakulär. Aber es geht um eben diese Arbeit. Organisationen wie DAHW stellen sicher, dass die Arbeit fortgesetzt werden kann. Wer sich mit Shibu auf den Weg macht und die Projekte der DAHW India besucht, bekommt eine Vorstellung davon, was es nicht mehr geben würde, wenn die Basis wegbräche. Es ist nicht die Medizin allein. Das weiß jeder, der schon krank war. Es geht immer auch um das Lächeln im Hintergrund. Die Zuwendung. Das Interesse. „Wir verändern Leben“, sagt Shibu. Er muss es wissen. Eigentlich wissen wir es auch, denke ich. Aber manchmal wird Erkenntnis vom Alltag verschüttet. „Die Lepra ist nicht ausgerottet“, sagt Shibu.
In jeder Minute werden in Indien 56 Babys geboren. Das sind 3.360 in der Stunde und 80.640 am Tag. Pro Jahr erkranken 250.000 Menschen auf der Welt an Lepra, 126.800 davon in Indien. Das sind 10.566 im Monat, 2.641 in der Woche, 347 pro Tag – die Kommastellen weggelassen. Zahlenspiele. In Indien werden die Zahlen zu Menschen. Zu Geschichten. Zu Schicksalen. 50 Euro braucht man, um einen Leprakranken vollständig zu heilen. Das entspricht 17.350 Euro pro Tag. Aber:  Für jede Krankheit braucht es mehr als nur die Medizin. Die Menschen, die ich mit Shibu zusammen besuche, sind – man kann das so sagen – glückliche Menschen. Es sind Menschen, die ihre Würde zurück bekommen haben. Sie haben wieder einen Anker im eigenen Leben. Shibu und seine Kollegen sind gewissermaßen die Hafenbehörde. Natürlich fragen Sie hierzulande, ob das Geld gut angelegt ist. Es ist gut angelegt. Punkt.

Gate Open

Ich steige in den Flieger und denke: Indien ist eine Art Serum gegen das Abgehobensein. Manchmal öffnet das Elend der anderen den Blick für den eigenen Freiraum. Trotzdem habe ich viele glückliche Menschen erlebt. Menschen, die gegen eine Krankheit gekämpft und gewonnen haben. Sie zeigen voll Stolz ihr Leben. Shibus Arbeit macht den Unterschied, denn aus den Ausgestoßenen von einst machen Leute wie er Menschen mit Perspektiven. Man sollte den Leuten zuhause Bilder von glücklichen Menschen zeigen, denke ich. Man sollte ihnen von Leuten wie Shibu erzählen. Man sollte Geschichten erzählen, die gut zu Ende gehen. Wohlfühlen hat nur am Rande mit Vitaminen zu tun. Die Geschichte von Würde ist die Geschichte von der Zeit für das eigene Leben. „Wir verändern Leben“, sagt Shibu. Das stimmt, denke ich, als der Flieger abhebt. Auch meines.