Schreibkraft
Heiner Frost

Paradies der Zeichnungen

Richtig oder falsch? Das einzige, was schlimmer ist als ein unerfüllter Wunsch ist ein erfüllter. Sieht man die Welt mit den Augen eines Sammlers, dürfte die Antwort zweigeteilt ausfallen.


Ein Museum stellt Ausstellungsplatz zur Verfügung. Das Paradies. Und dann: Die Hölle im Nachgang: Kaum eine Sammlung lässt sich in Gänze zeigen. Alles Zeigen bedeutet Weglassen. Mit diesem Gegensatz muss es der Sammler aushalten. Peter Kerschgens kann das. Er sammelt Kunst. Arbeiten auf Papier. Unter dem Titel „Entdeckungsreisen – Zeichnungen aus dem Kunst-Archiv Peter Kerschgens“ zeigt das Museum Katharinenhof von Sonntag 23. Oktober (Eröffnung um 11 Uhr) bis zum 29. Januar eine – fast möchte man schreiben – malerisch schöne Sammlung. Aber es geht um Zeichnungen, diese fragilen Welten auf Papier – die Streichquartette der Bildenden Kunst.  Was Peter Kerschgens seit den 70-er Jahren zusammengetragen hat, ist unglaublich: unglaublich schön, unglaublich interessant, unglaublich einsichtig. Unglaublich wichtig. Dass die Zeichnungen aus der Sammlung, die Kerschgens gern auch den Ideenspeicher nennt, im Katharinenhof zu sehen sind, ist ein Glücksfall für die Region – es ist einer dieser Fälle, die deutlich machen, dass es da abseits der musealen Welt ein vorgelagertes Sammler-Universum gibt, entstanden durch das, was man den Sammlerurknall nennen möchte. Da werden normale Menschen zu Zwanghaften im besten Sinne – da scheren sie sich nicht um Konvention und machen flugs aus der eigenen Besessen- und Getriebenheit etwas Bedeutendes. Man muss nicht anfangen, all die Museen zu bennen, die ihren Grundstock dem Wahn eines Sammlers zu danken haben, aber das ist eine andere Geschichte …
Peter Kerschgens ist jenseits der 65. Jetzt muss jeder Schritt ein Schritt nach vorn sein. Auf der Stelle treten – sinnlos. Rückschritt: Verschwendung. Kerschgens hat das Sammler-Gen. Er archiviert Energie. Nichts soll verloren gehen. Kerschgens hat längst den Punkt überschritten, an dem er etwas sammelt – umgekehrt wird ein Schuh draus: Es sammelt ihn. Die Dinge finden zu ihm. Sie kennen den Weg.
Die Kranenburger Ausstellung ist einfach spannend, einfach unglaublich sehenswert und unglaublich vielseitig. Wenn Sammler ausstellen, sind volle Wände zu erwarten. Warum auch nicht? Schon, was jetzt zu sehen ist, darf bestenfalls als Eisbergspitzchen betrachtet werden und man bekommt Schnappatmung bei dem Gedanken, was da alles noch in Kisten liegt oder in Mappen – ungesehen, ungeheuer.
Natürlich ist die Ausstellung eine Entdeckungsreise – eine ziemlich famose sogar. Sie zielt ins Herz der Kunst und landet im Paradies des Zeichnens. Sie führt Vielfalt vor, ohne zu Protzen. Sie macht unglaublich Lust auf das Hinsehen und sie deutet an, wie besessen einer sein muss, der all das zusammengetragen hat.
Muss man Namen nennen? Selbst wenn man müsste – man könnte nicht. Es gibt – außer den Signaturen unter manchen Zeichnungen – keine Angaben. Kerschgens sagt: „Wenn du Künstlernamen nennst, suchen die Leute gleich nach den großen Namen und sehen die anderen gar nicht mehr. Das kann es nicht sein.“ Treffer und versenkt. Natürlich geht es um Arbeiten und nicht um Namen.
Doch es gibt ein Aber: Man möchte verdammt gern wissen, was man da sieht. Man möchte nicht, dass, was den Geist und die Lust am Hinsehen befeuert, namenlos bleibt. Gibt es eine Schnittmenge zwischen dem Wunsch des Sammlers und dem des Besuchers. Klar. Man muss die Zeichnungen nicht untertiteln – aber man könnte einen Plan hinterlegen – einen, der Autorenschaften auffindbar macht.
Was darf einer erwarten, der ins Museum kommt und auf tolle Kunst trifft? Vielleicht darf er erwarten, dass er aufgeklärt wird. Ziel des Menschseins ist Bemerktwerden. Kaum jemand will unentdeckt, unerkannt, unbemerkt bleiben. Künstler schon gar nicht. Ihr Kapital: Phantasie. Kerschgens hat das verstanden. Im Fall von Kunst hat Achtung etwas mit Bewahrung zu tun.  Mit Respekt vor dem Werk. Erste Instanz des Respekts ist das Interesse. Ja – es geht um das Zeigen einer Sammlung, aber Himmelherrgottsakrament, was sollte denn zu sehen sein, wenn nicht die da wären, die den Sammler beliefern. Wenn es ein Haar in dieser ansonsten unglaublich sehenswerten Ausstellung gibt, der man Unmengen von Besuchern wünscht, dann ist es dieses. H Frost