Schreibkraft
Heiner Frost

„Nimm du das Rote!“

Foto: Rüdiger Dehnen

„Wo ward ihr am Wochenende?“,  fragt Thomas. „Café Müller“, sage ich. „Neuer Laden?“ „Nö.“ „Kann man da auch essen?“ Pina Bausch hat eingeladen. Ins Opernhaus Düsseldorf. Titel: „Tanztheater. Drei Wochen mit Pina Bausch.“ Produktionen aus über 30 Jahren. Die Vergangenheit lebt. Nein. Pina Bausch ist Gegenwart, die lange anhält.  Anreise aus dem Hinterland. Parkplatz an der Kö. Spießroutenlaufen durch die Ausläufer des Luxus. „Unglaublich. Ein Geschäft nur für Gürtel. Ich fass’ es nicht“, sagt eine Frau. Es ist meine Frau.
Einlauf ins Opernhaus. Es schlängelt sich. „Guck mal, da an der Wand lehnt Harald Schmidt. Der geht mit seiner Tochter ins Ballett“, sagt jemand. Es ist meine Frau. Klaus ist Tanztheaternovize. Ein Ahnungsloser auf dem Weg zum Vulkan. Das „Café Meier habe ich vor zwanzig Jahren gesehen. In Wuppertal. Zusammen mit dem Sacre“, sage ich. „Es heißt Café Müller“, sagt Michael. „Zwei Dinge haben mich richtig beeindruckt im Leben“, sage ich: „Pina Bauschs Sacre, Mendelssohns Elias beim ersten Mal und eine Theateraufführung bei den Ruhrfestspielen: A Disappearing  Number.“ Keiner rechnet nach.

Gestern auf Abruf

„Und was ist nun Café Müller?“, fragt Klaus. An das Café Müller kann ich mich kaum mehr erinnern. Irgendwas mit Stühlen geht mir durch den Kopf. Bei der Musik bleibt alles leer. Noch zehn Minuten bis zur Aufführung. Gläschen Sekt für die einen, ein bisschen Garderobe zeigen für die anderen. Kulturaperitif. [„Wo ward ihr am Wochenende?“ „Café Müller.“ „Neuer Laden?“ „Nö.“]Der Laden ist ziemlich genau 30 Jahre alt.]  Die Bühne: Karg wie eigentlich immer, wenn Bausch inszeniert. Tische, Stühle, Türen rechts und links. Das Ganze ein bisschen wie in einem Bahnhofscafé, nachdem die letzten Leute gegangen sind. Dann: Licht. Auftritt. Musik. Purcell. Die Musik vom Band. Heute würde man Purcell anders spielen, denke ich und mir wird klar, warum ich keine Erinnerung an die Musik finden konnte. An das Café kann ich mich erinnern, als ich es sehe. Ein abrufbares Gestern.

Unsterblichkeit

Ein Programmheft habe ich nicht mehr erwischt, obwohl ich doch eine Pressemappe unterm Arm habe. „Für wen schreiben Sie“, hat die Dame am Pressecounter gefragt. „Wenn ich das nur wüsste“, hätte ich am liebsten gesagt und dann noch schnell gedacht: Für mich. Ich frage mich, als die Bühne sich zu bevölkern beginnt (ein Sieben-Personen-Stück), ob die zerbrechlich am hinteren Bühnenrand Agierende nicht Pina Bausch ist? Tut das etwas zur Sache? Nein und Ja. Ja, denn wie sie den Hintergrund mit Bewegung füllt, macht das Café – mehr noch als ohne sie – zum besonderen Ort. Es ist, als würde Strawinsky das Sacre selbst dirigieren. Und nein, denn die Seele des Stückes liegt nicht in Bauschs Erscheinen. Gute Kunst macht die Seele tranplantierbar. Unsterblichkeit geht um.  Das Stück greift von Sekunde eins an. Ich würde die Geschichte dieses Cafés nicht erzählen können. Der Mann mit dem Pferdeschwanz, der immer wieder Tische und Stühle umwirft und für die Tänzerin Platz schafft, die sich wie blind durch die Szene arbeitet. Das Stück: Eine Art Passacaglia – getrieben vom Bass der Verzweiflung, von der starren Leb- und Lieblosigkeit des Mechanischen. Dazu die seltsam teilnahmslos wirkende Musik, die sich trotzdem in Herz und Ohren frisst. Das Café Müller ist ein Ort des Alterns, des Sterbens, der austropfenden Begegnungen, der Hilflosigkeit, des Hingezogenseins, das sprichwörtlich zum Hinfälligen wird. Thomas Bernhard fällt mir ein:  ‘Und wie ein Apfel roll ich in das Tal.’ Auf der Bühne fügen sich Entwürfe ineinander – stapeln sich Wiederholungen, die keine Wiederholungen sind, sondern sich selbst kopierende Kopien. Der Musik ist anzumerken, dass sich Aufführungspraxis ändert. Die Choreographie ist  zeitresistent. Keine leicht verderbliche Ware, die nach einem  Datumsstempel schreit. Haltbarkeit unbegrenzt. Das Café Müller muss nicht schließen. Und endet doch. Der Applaus im ausverkauften Haus: Ehrfurchtsvoll. Sie war’s. In der Pause finde ich ein Programm. Es spricht von ihrer Mitwirkung.

Der Atem des Tanzes

Während im Pausenrund Revue passiert [„Wo ward ihr? „Im Café Müller.“], bauen sie die Bühne um: streuen den Torf aus. Das Orchester spielt sich ein. Fetzen aus dem Sacre arbeiten sich aus dem Orchestergraben: Hier eine Piccoloflöte – da eine Klarinette. Alle Stellen alte Bekannte. Pina Bauschs Sacre war auch mein erster Stravinsky. Es war mein erstes Schnuppern am Atem des Tanzes. Vom Donner gerührt saß ich da. „Taken by surprise“, sagen sie in England. Weggefegt hat es mich. Das war vor dreißig Jahren. „Die da heute tanzen, waren nicht mal geboren, als wir das zum ersten Mal gesehen haben“, sagt eine Frau. Es ist meine Frau.

… zügellos

Sie läuten zum Einmarsch. „Scheiß was auf Jazz, Pop, Rock und so“, sage ich zu Klaus. „Jetzt kommt gleich die richtige Packung.“ Jetzt treffen zwei Giganten aufeinander. Hier die Musik – ein gigantischer Klotz – ausgespieen von einem virtuosen Orchester: Einstudierte Zügellosigkeit auf höchstem Niveau. Da die Tänzer im Torf – Männer und Frauen. Eine von ihnen wird den Tanz nicht überleben. Das Frühlingsopfer. Die Männer in grünen Hosen und mit freiem Oberkörper (ein bisschen sehen sie wie Kung-Fu-Leute aus) – die Frauen in unterrockartig-gleichfarbigem Dünnstoff. Mitten auf der Bühne: Der Tod als rotes Kleid.

Injektion und Torf

Die Choreographie – eine Mischung aus archaischen Massenszenen und filigranen Einzelstudien. Zwischendurch: Die Geräusche der Atemlosen in die Orchesterstille injiziert. Der Torf, wie er sich an die schwitzenden Körper beißt – sich an ihnen festsaugt und die Erde zum Teil des Tanzes macht. Die Spuren des Tanzes heften sich an die Körper. Alles spitzt sich zu – wird erst im Tod zum Frieden finden. Sie werden auf der Bühne stehen und der einen von ihnen beim Sterben zuschauen. Was sich da abspielt, ist allesfressende Gegenwart.
Das rote Hemd wandert durch die Reihen der Frauen. Keine will es. Alle geben es weiter: „Nimm du’s!“, sagen alle Gesten. „Nimm du das Rote“, sagen sie, sagt die Musik, sagt der Torf auf dem Boden. Ich denke an das Geschäft, in dem es nur Gürtel gibt. Wie armselig ist der Luxus, denke ich, während auf der Bühne der letzte Tanz des Frühlingsopfers beginnt.
Dass dieses Stück in meinem Kopf nicht mehr ohne die Bausch denkbar ist, beweist Bedeutung weit über den Tag, weit über die Spielzeit hinaus. „Wie kann eine so weit über den anderen stehen“, fragt Klaus auf dem Weg zurück zum Parkhaus. „Hast du’s nicht gemerkt?“, sage ich.  Kein Sacre ohne diesen Tanz, denke ich, als wir ins Auto steigen – den Applaus im Ohr. Schließlich Ende bricht Begeisterung aus dem Publikum.
Am Schluss stehen sie auf. Zwei Stücke ohne Haltbarkeitsdatum. Unzerstörbar. Was ist dagegen ein Laden, in dem es nur Gürtel gibt. Ein Traum.