Einmal Qindao — Neuss einfach
Hans-Ulrich hat einen Nachnamen, der am unteren Niederrhein nicht unbekannt ist. Tetsch heißt er hinten, und bei Tetsch denken viele gleich ‚+ May‘. Und sie denken an Klaviere. Hans Ulrich Tetsch, nennen wir ihn doch huT, ist Klavierbaumeister. Klartext: Der Mann könnte Loriots Klavier nicht nur bringen — er könnte es auch konstruieren und herstellen. In der Werkstatt steht das huT-Meisterstück: Ein Mahagony-Flügel.
Im Laden: Klaviere. Schwarze. Weiße. Nussbaum. Eiche. Irgendwie ganz normal. Irgendwie alle mit den üblichen 88 Tasten im schwarzweißen „Zebramuster“. Irgendwie alle in einem kundenfreundlichen Preissegment. Reden allerdings könnte huT, selbst wenn er wollte, mit seinen Klavieren nicht.
Sie würden ihn nicht verstehen, denn sie stammen allesamt aus China. Wie kommt das chinesische Klavier zum Emmericher Meister? huT will die Geschichte erzählen. Auf dem Weg zum Neusser Hafen. Da ist gestern wieder ein Container eingetroffen. 15 Klaviere aus dem Reich der Mitte. Einmal Qindao — Neuss einfach. Auf der Fahrt zum Hafen: Die Geschichte, wie das chinesische Klavier an den Niederrhein kam. Einsteigen. Zuhören.
Es war einmal ein reicher Chinese. (Heute ist das ja möglich.) Der baute eines schönen Tages, weil er es immer schon einmal machen wollte, eine Klavierfabrik an Chinas Küste — eben da, wo die Wirtschaft Beine bekommen hat. Den chinesischen Klaviermarkt gab es nicht. Eigentlich gibt es ihn auch jetzt nicht. (Ein Seitenblick in die pianistische Zukunft: Aber wenn es ihn einmal geben wird, dann ist was los an der Tastenfront. Wenn nur jede fünfte chinesische Familie das Klavier als Hausinstrument entdecken würde — nicht auszurechnen. Doch auszurechnen: Milliarden-Gewinne. Klammer zu.)
Die ersten Klaviere aus der chinesischen Tastenschmiede in Qindao waren bestenfalls instrumentenähnliche Klangerzeuger. Qualität fußt auf Erfahrung, und in der Klavierfabrik im Reich der Mitte begann man, Erfahrungen zu sammeln. Die schwarzen Kisten wurden mehr und mehr zu Instrumenten — zu Klavieren.
Deutsches Abitur und chinesische Klaviere
Der reiche chinesische Fabrikant, der seine Millionen eigentlich auf dem Energiesektor verdiente, hatte einen Sohn. Dem wollte er was Gutes tun. Gut ist: Ein deutsches Abitur. Gesagt getan. Der Sohn wurde zu einer Freundin der Fabrikantenfrau geschickt — nach Düsseldorf. Lust hatte er nicht — der Sohn, aber: in China ist zwar das Wirtschaftswunder angekommen – das Mitspracherecht für heranwachsende Söhne ist aber in einen späteren Zug gestiegen. Es lässt noch auf sich warten. So kam der Sohn eines reichen chinesischen Fabrikanten, der mit Energie sein Geld verdiente und eine zeitlang quasi zum Spaß Klaviere bauen ließ, nach Düsseldorf und wohnte bei der Familie der Freundin der Frau des Fabrikanten. Die hatte selber Kinder, und der Fabrikantensohn fühlte sich nicht ganz allein.
Für die Mühe, die man sich mit seinem fernen Sohn gab, wollte sich der Fabrikant erkenntlich zeigen und bot Geschenke an. Sie wolle sich lieber nützlich machen, sagte die Gastmutter, und der Fabrikant sagte: „Vielleicht kannst du ja meine Klaviere in Deutschland verkaufen. Ich schick dir mal einen Container.“
Song und die Klaviere – vielleicht wird ja ein Lied draus
Man redet nicht viel. Man macht. 16 Klaviere wurden in einen 20-Fuß Überseecontainer gepackt. Ein befreundeter chinesischer Importeur, der in Düsseldorf sein Geld eigentlich mit Stahlhandel verdient, kümmerte sich um die Logistik. 15 Klaviere aus dem Reich der Mitte machten eine Seereise und erreichten vier Wochen später den Neusser Hafen. Stahl und Klaviere? Immerhin: Der chinesische Importeur heißt Song, Jeffrey Song. Song und die Klaviere: Vielleicht wird ja ein Lied draus. Die Gastmutter hatte (sie selbst sprach kaum Deutsch, weil sie in einer chinesischen Firma arbeitete, wo man arbeitet und nicht redet — schon gar nicht auf Deutsch) eine befreundete Sinologin um Assistenz beim ‚Projekt 15 Klaviere‘ gebeten. Die hängte sich an ein Telefon und begann, Händler anzurufen.
Einer der ersten war: huT. So kann’s gehen.
„Plötzlich hast du eine Frau am Telefon, die dich fragt, ob du dir nicht im Neusser Hafen eine Partie chinesischer Klaviere ansehen möchtest.“
huT dachte: Die Frau möchte Antworten auf eine Frage, die niemand gestellt hat. Er fuhr trotzdem hin. Erst nach Neuss. Später nach China. Sah sich die Fabrik an. Kam nicht als Besserwisser, aber mit Vorschlägen: „So macht ihr das Klavier für den deutschen Kunden attraktiver.“ China reagierte. Es entstanden neue Klaviere. Bessere Klaviere. huT: „Wir reden hier nicht von Oberklasse-Instrumenten aus der Steinway-Liga. Wir reden von soliden Klavieren — Klaviere, die, wenn sie hier ankommen, von uns nochmals nachbearbeitet werden. Klaviere, die eine Qualität besitzen, die du hier nicht für einen solchen Preis herstellen kannst.“
Aus dem Klavierbaumeister ist jetzt unter anderem ein fahrender Händler geworden. Der packt sich, wenn die 15 Klaviere der neuen Partie ausgeladen sind, zwei Modelle in den Lieferwagen und fährt zu Kollegen — Kollegen Klavierbauern. „In Deutschland sind die meisten Klavierhändler auch Bauer. Das ist grundlegend anders als beispielsweise in den Vereinigten Staaten.“ Über amerikanische Klaviere muss man laut huT nicht reden. Europa ist ein anderer Markt — zumindest Deutschland, Österreich, Schweiz und Holland sind es. Da ist nicht nur Aussehen gefragt. Klang spielt eine Rolle.
huT biegt auf das Gelände des Neusser Hafens ein. Zwischen gigantischen Containerwänden, in einer Halle irgendwo bei „Becken 5“, stehen sie: 15 Klaviere. Adressat: Hans-Ulrich Tetsch, Emmerich. Absender: Qindao Piano Manufacturers, China. (Rund 70.000 Instrumente werden pro Jahr in Qindao produziert. Das 4-Millionen-Einwohner-Städtchen war Anfang des letzten Jahrhunderts kurze Zeit Deutsche Kolonie. Später wohnte Mao höchst persönlich in der Gouverneursvilla.)
Die Neusser Klaviere — noch namenlos — werden bald den Schriftzug Tetsch+May tragen. Ein Problem? „Nicht für mich“, versichert huT. Klar – die Instrumente sind nicht in Emmerich gebaut, aber wo beginnt und endet im Global-Village die Autorenschaft? „Was bekommst du, wenn du einen Lamborghini kaufst oder einen Rolls? Auch die Konkurrenz lässt längst nicht in der Heimat produzieren“, weiß huT. „Immerhin ist die Produktionstiefe da hinten ziemlich groß. Die stellen ihre eigenen Schrauben und am Ende auch die Kartons für den Versand her.“
Natürlich könnte huT in Emmerich auch Klaviere herstellen. Teile von hier und da zusammenkaufen und montieren. Es lohnt nicht. Bei den Chinesen kümmert sich huT um das Nachbearbeiten. Die Instrumente werden intoniert — sprich: an die klanglichen Erfordernisse des deutschen Marktes angepasst. „Was an Technik in den Chinaklavieren steckt, muss sich vor keinem Vergleich mit europäischen Produkten scheuen.“
Wenn die Nachbearbeitung beendet ist, wird huT mit zwei Klavieren „auf die Rolle“ gehen. Bei den Kollegen ist die Reaktion eigentlich immer gleich: „Zunächst haben die chinesischen Klaviere ein schlechtes Image. Einfach so, obwohl manche nicht mal je eines gesehen oder gespielt haben.“ Wenn huT seine Vorführung beendet hat und über Preise gesprochen wird, sieht die Sache anders aus.
Als dermaleinst die Japaner mit dem Autobau anfingen, haben nur Ignoranten geschmunzelt. Längst ist bei Unternehmern vieler Sparten die Frage nicht mehr „Wie, du machst was mit China?“ Jetzt heißt es: „Wie, du machst noch nichts mit China?“
Anno 2006 haben sich die Klavier-Verkaufszahlen im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdoppelt.
Zum Jahresende wird der erste Flügel aus Qindao im Neusser Hafen eintreffen. Demnächst werden Song und huT nicht mehr mit 20-Fuß-Containern arbeiten, dann wird auf 40 Fuß umgestellt. Neue Produktionsideen für die Chinesen sind in Arbeit.
Was machen denn die Chinesisch-Kenntnisse? Auf huts Schreibtisch liegt ein Schnellkurs. Sechs CDs. Den hat er angeschafft, bevor er nach Qindao fuhr, aber wirklich sattelfest ist huT jenseits von Bitte, Danke, Guten Tag und Auf Wiedersehen nicht. Es geht ohnehin am Ende weder um Sprache noch um Musik. Es geht um Zahlen. Und die Zahlen, da ist huT sicher, sprechen für China. In China fragt niemand nach den Arbeitsbedingungen.
Arbeiten – das geht in China anders.
Urlaub ist Glücksache und mancher kündigt durch Flucht. Gewerkschaft? Ein Fremdwort. Es gilt die Sieben-Tage-Woche. Urlaub? Höchstens mal zum chinesischen Neujahrsfest oder bei Todesfällen in der unmittelbaren Verwandtschaft. Die Arbeiter kommen aus Zentralchina an die Küste. Die Wege sind weit. Sehr weit. Zum Neujahrsfest fahren sie nach Hause. Und manche kommen nicht zurück. So passiert es, dass plötzlich die Produktion steht, weil 400 von rund 2.000 Mitarbeitern ‚durch Flucht gekündigt‘ haben. Das merkt man dann bei der nächsten Partie. huT: „Da muss dann einen Tick mehr nachgearbeitet werden.“ Einmal ist das bisher passiert. Seitdem läuft alles ohne Beanstandungen. Der nächste Container wird Ende September in Neuss eintreffen: 15 Klaviere aus dem Reich der Mitte. Wie gehabt.