Raumkunst – Kunstraum
„Meine Ausgangssituation sind nicht die Materialien, sondern der Raum, eine bestimmte Vorstellung von einem Raum. Seit ich meine Arbeit nicht mehr nur auf Gemälde beschränke, ist der Raum zum Rahmen und auch zum Material geworden“, sagt einer, der noch bis zum 29. Januar den Raum des Museums Kurhaus als Teil „seines Materials“ nutzt. Das Ergebnis: Raumkunst im Kunstraum. Der Mann heißt Jannis Kounellis. Kounellis ist Jahrgang 1936. Geboren in Griechenland. Kounellis ist ein Botschafter der Arte Povera, einer Kunstrichtung also, die „für ihre räumlichen Installationen gewöhnliche Materialien verwendet“. So liest es der Nachschlagende. Ein Blick ins Kurhaus ist jeder Definition um Längen voraus.
Stradivari
Was Kounellis im Erdgeschoss inszeniert (Kurator der Ausstellung: Rudi Fuchs), ist atmende Kunst vom Feinsten. Kunst, die sich schnell und eindrucksvoll über ihre Materialien aufschwingt und so zu vermeintlich abgegriffenen Erkenntnissen führt, die da besagen, dass das Ganze weit mehr ist als die Summe seiner Einzelteile.
Schließlich ist – ketzerisch betrachtet– eine Stradivari auch nur ein Stück Holz. Kounellis macht das Kurhaus zur Stradivari und setzt seine Partitur des Erzählens orchestral in Szene, ohne dabei auf feine kammermusikalische Nuancen zu verzichten.
Schwarzweiß
Kounellis Welt im Kurhaus wird – kleine Ausnahmen inbegriffen – vonSchwarz und Weiß dominiert. Das Schwarz: Teer und Ruß. Das Weiß: Papier. Kounellis großformatigeArbeiten brauchen einen Raum, wie ihn das Klever Museum anbieten kann. Sie vermitteln ein „Gedankenschweben“ der besonderen Art. Eines, das durch nichts vom Eigentlichen ablenkt. Titel? Fehlanzeige. Der Betrachter muss sich als denkendes Individuum etablieren. Er muss die eigenen Geschichten mitbringen. Er darf die eigenen Geschichten mitbringen und wird eben dadurch eins mit Kounellis Werken.
Hüllen
„Nicht das Material an sich ist von Bedeutung, sondern seine Wechselbeziehung zu einem anderen Element, das auch sein genaues Gegenteil sein kann.“ So formuliert es Kounellis. Er bildet nichts ab. Wenn überhaupt, finden sich inszenatorische Momente: Ein Raum ist mit Kleidungsstücken ausgelegt. Das Leben hat Hüllen hinterlassen. Die Botschaft ist nicht nur optisch. Auch der Geruch der Kleidung dokumentiert, dass Kounellis keine Neuware von der Stange ausgelegt hat. Die Botschaft: Die Geschichten sind längst geschrieben. Aber sie werden nicht mitgeliefert. Sie müssen nachgestellt werden – nachgedacht. Nachdenken ist Vorstellen.
Stahl, Stoff, Papier, Teer
Die Materialien: Papier und Teer, Stahl und Stoff. Vergänglichkeit und Dauer im selben Bild. Kounellis tränkt Mäntel in Teer und macht dann Abdrücke auf Papier. Das Leben chiffriert sich selbst. Der Mantel an sich ist die erste Instanz der Lebenschiffrierung, der Abdruck die zweite. Das Papier mit den Abdruckspuren findet sich am Ende auf einer Art stählernem Grund und wird teils wieder mit Tuch „bekleidet“. Teer, Stoff, Papierund Stahl finden zu einer ruhigen Einheit zusammen und mischen dabei ihre äußerst unterschiedlichen Halbwertzeiten. Das Vergängliche schließt einen Pakt mit dem Unauslöschlichen. All das hat am Ende nichts Absurdes. Es fordert nichts als Vorstellung durch Nachdenken. Da stellt einer einen Ofen ins Museum. Eigentlich ist es ein Ziegelkamin. An der Decke über dem Kamin: Ein schwarzer Fleck. Im Raum: Der Geruch von verbranntem Holz, der den Beweis antritt, dass der Fleck an der Decke nichts Künstliches ist, sondern vom Feuer abstammt. Das Feuer: Erloschen. Vorstellen ist Nachdenken.Kounellis macht den Betrachter zumSpurensucher – zum Nacherlebenden.
Entfesselung durch Bindung
Trotzdem kommt man sich beimRundgang durch die Ausstellung nicht als Zweitverwerter vor. Man trägt nicht die „Sehenskleidung“ der Vorbesucher auf. Kounellis‘ Kunst impliziert Einlassung und belohnt mit Grenzenlosigkeiten im eigenen Kopf. Befreiung durch Betrachtung. Entfesselung durch Bindung. Kounellis‘ Kunst ist ein Dialog, der – obwohl durch den Prozess der Herstellung scheinbar abgeschlossen – im Betrachter verlängert wird. Wie im Fall des Kamins gilt es, das längst erloscheneFeuer wiederzubeleben und dabei die Flamme im eigenen Kopf anzuzünden.
Museum im Kopf
Kounellis’ Kunst ist lebendig, auch wenn sie in sich geschlossen scheint. Man möchte schwören, dass die Objekte sich verändern. Man möchte wiederkommen und den Beweis erbringen. Man möchte wieder ins Schwarzweiß eintauchen und Urlaub machen von der Überfrachtung draußen. Beim Wiedersehen offenbart sich dann das Geheimnis aller guten Kunst: Sie dokumentiert das Betrachten imHirn des Betrachters und verändertihn dadurch. Fazit: Es geht nicht der, der vorher gekommen war. Kounellis macht denKopf des Betrachters zum Museum,und der Raum ist unbegrenzt. Kounellis hat das letzte Wort: „Was ist ein Künstler? Er ist ein Liebender auf Reisen.“