Schraubstock
Johnnies Händedruck hat Schraubstockqualitäten. Nach dem Loslassen bleibt eine körperliche Erinnerung. Auch Sätze können so sein: „Wir sind hier kein Müll, den ihr entsorgen könnt“, sagt Johnnie. Hier – das bedeutet Justizvollzugsanstalt Geldern. Johnnie ist gewissermaßen „auf Besuch“. Er macht eine Ausbildung. Er wird noch zwölf Monate bleiben und dann als Maler zurück nach Aachen gehen. Aachen ist der Knast, in dem Johnnie sitzt. Seit zehn Jahren. Diagnose: Ell Ell. Das steht für lebenslänglich. Bei Johnnie hat das LL noch einen Beinamen: Im Urteil wurde die besondere Schwere der Schuld festgestellt.Mehr geht nicht. Johnnie hat keine Chance, nach 15 Jahren entlassen zu werden. „Ich kenne LL-ler, die sitzen seit 30 Jahren“, sagt er.Eine unmerklich schrumpfende Unendlichkeit. Schöne Aussicht geht anders.
Johnnie hat einen Menschen zum Mord angestiftet. Am Ende erschoss eine Schwester ihren Bruder. Am Ende blieb für alle Beteiligten ein Scherbenhaufen. Jede Mordgeschichte kennt nur Verlierer. Johnnies Geschichte ist da keine Ausnahme. „Mit der Tat ist alles zum Scherbenhaufen geworden“, sagt er, denkt nach und sagt dann: „Ein Puzzle kannst du zusammensetzen – einen Scherbenhaufen nicht.“
Wo sonst?
Johnnie hat heißes Wasser und Kaffeepulver zum Gespräch mitgebracht. „Fangen wir vorn an?“ „Wo sonst.“ Johnnie ist Überzeugungskölner. Sein Leben begann nicht „sunny-side-up“. Schon die Schule war Abstieg: Grundschule. Sonderschule. („So hieß das damals.“ Manche sprachen auch vom Brettergymnasium.) „Ich bin jetzt 49 Jahre“ – Pause – „jung … Kann man das noch sagen?“ Tut nichts zur Sache. Johnnie ist 49. Er fing früh an. Freundin. Sohn. „Der ist heute fast 30“, sagt Johnnie. „Da war ich noch nicht verheiratet. Das kam später.“ Danach noch zwei Töchter.
Hürdenlauf
Johnnie als Hilfsschreiner mit abgebrochener Lehre. „Ich habe viel gemacht.“ Platten verlegen, Gerüstbau. „Alles, wofür du keinen Schein brauchst.“ Vieles auch „schwarz“. Die Ehe: Ein Hürdenlauf. Dann irgendwann: Ein junges Ding. Sie sagt Johnnie, dass sie ihn mag. Er sagt: „Lass mal, du bist zu jung.“ Da ist sie 16. Zwei Jahre später passiert es dann. „Vielleicht habe ich mich geschmeichelt gefühlt“, tönt es aus Johnnies Rückspiegel. Am Ende das Chaos: Ein toter Bruder – umgebracht von der eigenen Schwester. Johnnie: Der Anstifter. Lebenslang mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. „Hätte ich den selbst umgebracht, wäre ich nach 15 Jahren nach Hause gegangen“, sagt Johnnie. Er erinnert sich an den Tag, als sein Leben endete: Es war der 6. November. Sie kamen mit sechs Beamten. „Da wusste ich: Die kommen nicht nur, weil sie noch ein paar Fragen haben.“ Zehn Jahre ist das her.
Es hört nie auf
„Was glaubst du, wie lange es dauert, bis du nicht mehr an die Tat denkst? Bis du es nicht mehr bedauerst? … Es hört nie auf. Du denkst jeden Tag daran. Beim Aufstehen. Vor dem Einschlafen. Immer. Und trotzdem lebst du noch. Natürlich – der Junge ist tot. Aber das ist nicht alles: Da gibt es einen, der seinen Kindern ihren Vater genommen hat. Das bin ich. Kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn deine Kinder erwachsen werden und du nicht dabei bist?“ Alles hat zwei Seiten: Da gibt es auch Eltern, die nicht mehr erleben können, dass ihr Kind erwachsen wird, weil es tot ist.
Waschstraße
Johnnie will kein Mitleid. Es geht darum, die andere Seite einer Geschichte zu erzählen. Als ihn seine Frau zum ersten Mal im Knast besucht, sagt er: „Komm besser nicht mehr. Das ist doch sinnlos.“ Johnnies Frau hält vier Jahre durch. Danach: Die Scheidung.
„Die Kinder besuchen mich immer. Die stehen zu mir.“ Natürlich: Für sie ist Johnnie der Papa und nicht einer, der zum Mord angestiftet hat. „Irgendwann sagte mein Sohn: ‘Papa, kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn ich samstags mit dem Auto zur Waschstraße fahre: Die anderen bringen dann ihre Väter mit, und ich bin allein.’“
Nein – Johnnie ist nicht das Opfer. „Ich bin nicht ohne Grund hier. Aber die Frage ist doch, wie weit Strafe gehen kann. Kein Missverständnis: Strafe muss. Aber wann hört sie auf?“ Johnnie ist keiner von denen, die die Beamten „Schließer“ nennen. „Die machen ihren Job und sind in erster Linie mal Menschen, die – wie du und ich auch – gute und schlechte Tage haben.“
Was Johnnie wichtig ist: „Die da draußen sollen uns nicht alle über einen Kamm scheren. Zu jedem hier gehört eine Geschichte.“ Opfer haben eine Geschichte, die im Falle eines Mordes beendet ist. Die Geschichte der Täter geht weiter. „Aber was bedeutet das? Darf ich mein Leben lang nicht mehr glücklich sein oder Freude empfinden? Das ändert doch nichts an dieser inneren Hölle.“ Einer wie Johnnie hat seine Strafe immer dabei: Sie wohnt im Kopf. „Und am Wochenende werden viele Männer hier im Knast zu Kindern“, sagt er und meint die Einsamkeit, die ´für viele das Schlimmste ist.
Die Neue
Vor zwei Jahren hat er eine Frau kennen gelernt. Sie kam mit einem von Johnnies früheren Kumpels zu Besuch. „Zwei Tage später hat sie mir dann einen Brief geschrieben. So fing es an – lauter Briefe. Wir schreiben noch heute jeden Tag.“ Johnnies Wunsch: Heiraten. Aber: „Nicht hier drinnen. Ich will das meiner Frau nicht antun. Die können mir Fesseln anlegen und zehn Beamte aufs Standesamt mitschicken – ist mir egal. Ich hau doch nicht ab. Wo sollte ich denn hin. Ich will nicht weg aus Deutschland. Ich gehöre hier hin.“ Die Familie soll dabei sein, wenn geheiratet wird. Johnnies Mutter lebt noch, und draußen haben Johnnies Kinder Kontakt zur Neuen. „Kannst du dir vorstellen, dass du im Knast bist und draußen werden deine Enkel geboren?“
Ist denn eigentlich Knast zuhause? Ist es gar Heimat? „Nie.“ Das „nie“ hat das Gewicht von Johnnies Händedruck. „Geh in meine Zelle: da wirst du nicht viel finden. Fernseher. Ein Bild, das meine Tochter für mich gemalt hat, als sie 16 war, und ein Bild vom Enkel. Mehr nicht. Das hier ist nicht mein Zuhause. Das hier ist der Knast, Mann. Wird es immer bleiben. Ich mache auch keinen Umschluss“, sagt Johnnie. Umschluss bedeutet, dass am Wochenende Gefangene sich stundenweise zu anderen Gefangenen „auf Zelle“ schließen lassen. Quatschen. Kochen. „Ich brauche das nicht. Ich treffe die Leute beim Sport. Bei der Arbeit. Das reicht.“ Manche Gefangenen verstehen das nicht. Sie verstehen auch nicht, dass einer wie Johnnie zu den Beamten ganz normal ist. Da heißt es dann: Arschkriecher. Johnnie sieht das anders. „Ich möchte den Anstand wahren. Das soll nicht verloren gehen.“
Müll
Natürlich ist Johnnie einer von denen, die draußen einer alten Dame mit einem Lächeln über die Straße helfen würden. Aber er sitzt. Lebenslänglich. Und das hat seinen Grund. „Mach doch mal den Versuch und setz ein paar Beamte und ein paar von uns alle in Zivil in eine Gesprächsrunde. Ja glaubst du denn, dass die Leute einen Unterschied sehen würden? Da draußen denken sie, dass wir alle hier Müll sind, der entsorgt werden muss.“
Johnnie arbeitet ehrenamtlich in der Puschmanngruppe: „Da unterhalten wir uns mit jungen Leuten, bei denen die Gefahr besteht, dass sie ‚Karriere‘ machen könnten. Mit denen reden wir dann. Du erreichst natürlich nicht jeden, aber wenn ich das Gefühl habe, dass ich bei einem von denen etwas bewirke, dann ist das ein guter Tag. Manchmal lerne ich da mehr als in vielen psychologischen Gesprächen.“
Wie wichtig sind Besuche? „Das fragst du nicht im ernst, oder? Aber ich sag dir was: Wenn Besuchstag ist, habe ich Stunden vorher schon Bauchschmerzen. Das ist die Angst – Angst, was falsch zu machen. Egal, wer kommt: Ich spreche nicht über den Knast. Die sollen sich keine Sorgen machen. Ich lache dann viel. Und weißt du was: Oft ist mir gar nicht zum Lachen.“
Schlösser
Wie oft vergisst Johnnie den Knast? „Wieder eine Scherzfrage. Du vergisst das nie. Vielleicht mal für einen Augenblick. Aber wenn abends die Türen für den Nachtverschluss dicht gemacht werden, dann ist da dieses Geräusch der Schlösser, das du nie ignorieren kannst. Das ist jeden Tag wie eine Ohrfeige. Das kriegst du nicht weg. Das sagt dir: Du kommst hier nicht raus. Du hast lebenslänglich und du weißt nicht, wie lange das dauert. Und wenn ich jemals draußen bin, dann wird dieses Gefühl, nichts zurücknehmen zu können, trotzdem bleiben. Ich hab‘ ja schon gesagt: Ich bin sicher, dass wir Strafen brauchen. Aber wo fangen sie an – wo hören sie auf? Ich kann das nicht sagen. Was ich sagen kann, ist, dass ich mir diese Hochzeit wünsche. Zwei begleitete Ausgänge habe ich ja schon gehabt, und ich bin noch immer hier. Natürlich sagt jeder vorher, dass er nicht abhaut, und manche tun es dann doch. Ich bleibe trotzdem dabei: Hier drin sind nicht alle gleich – draußen ist es nicht anders. Versteh‘ mich nicht falsch: Ich will kein Mitleid. Aber wenn ich noch am leben bin, muss ich irgendwann auch leben dürfen. Damals nach dem Mord, da haben mir die Angehörigen gesagt, sie würden mich, sobald ich wieder draußen bin … du weißt schon. Okay, sollen sie mich klarmachen, aber meine Familie hat nichts damit zu tun.“
Draußen bricht die Dämmerung an. „Was soll das am Ende eigentlich werden? Ist das hier eine Geschichte? Was wirst du schreiben?“ „Du wirst nicht als Held aus der Nummer rausgehen“, sage ich. „Ich stelle mir vor, dass es eine Geschichte wird, die einen kleinen Unterschied macht. Davon träumt man immer beim Schreiben. Es kann nicht um Schwarz und Weiß gehen. So viel ist sicher.“ „Finde ich gut“, sagt Johnnie. „Noch was“, sage ich: „Wenn du meine Tochter ermordet hättest, wärest du wahrscheinlich jetzt schon tot. „Versteh‘ ich gut“, sagt Johnnie. „Sehen wir uns noch mal?“ „Klar“, sage ich. „Bevor die Geschichte auf den Sender geht, wirst du sie lesen. Wir werden drüber reden. Der Name wird geändert und es wird kein Bild geben, auf dem man dich erkennen kann.“ „Wenn das klappt mit meiner Hochzeit, lade ich dich ein. Da kannst du Bilder machen, so viel du willst.“
Wir machen die Fotos. Ich packe meine Sachen. „Denk einfach dran: Jede Träne hat eine Geschichte“, sagt Johnnie, und ich packe zum ersten Mal meinen Block aus und schreibe ihn auf – diesen Satz. „Was machst du?“, fragt Johnnie. „Ich ärgere mich“, sage ich. „Ich ärgere mich, dass der Satz nicht von mir ist.“ „Vielleicht ist er von dir und du hast es nur vergessen“, sagt Johnnie. Dann der Händedruck. Ich bin noch da, sagt er. „Tschö.“ Und danach: „Ach ja – noch was: Kennst du den Unterschied zwischen den Psychologen und den Patienten? – Wir bauen Luftschlösser“, sagt Johnnie, „und die wohnen drin.“