Schreibkraft
Heiner Frost

Ich schau dir in die Augen, Großes

Das Sitzen am Gehege müsste es auf Rezept geben. Gesundheitsfördernd und glücklichmachen ist es. Der Schreiber dieser Zeilen ist geständig: „Doudon und ich: Das war Liebe auf den ersten Blick.“ Jetzt ist Nachdenken über die Faszination angesagt. Was hat Doudon, 10, was andere nicht haben? Vielleicht ist es dieser wunderbar melancholische Blick. Vielleicht ist es das so ganz uneselhaft Erhabene. Man sollte über Liebesgründe nicht zu viel nachdenken. Zu schnell löst sich das Wunderbare in nichts auf..

Belle de Jour

Wie furchtbar klingt dieser Satz: Doudon ist ein Esel. Nein – so kann es nicht gehen. Doudon ist ein Ereignis. Vielleicht bemüht man das Lateinische: Asinus – das steht für Esel und klingt gleich viel vornehmer. Doudon – der Name lässt es ahnen, ist französischen Ursprungs – eine zottelige Deneuve auf vier Beinen: die Belle-de-Jour des Tiergartens. Doudon ist eine Dame der Rasse ‚Poitou-Esel‘. Poitou-Esel werden im Netz als ‚freundlich‘ beschrieben. Man stimmt zu. Freundlich heißt ja nicht unstarrköpfig. Doudon hat – so viel ist sicher – ihren eigenen Kopf. Stehenbleiben heißt Stehen bleiben. „Ein Pferd läuft weg. Ein Esel geht auf die Bremse“, sagt Martin Polotzek.

Sein erster Fall

Doudon war Martin Polotzeks erste Notfallpatientin. Gerade zwei Wochen war er der neue Chef im Tiergarten, als Doudon eine (äußerst schmerzhafte) Huflederhautentzündung (auch Hufrehe genannt) bekam. Polotzek behandelte „und sie haben mir alle ganz genau auf die Finger geschaut“, erinnert er sich und meint mit ‚alle‘ nicht nur die Eseldamengruppe, bestehend aus Doudon, Bretzelle, Caori und Carla. Letztere ist übrigens, wenngleich ‚nur‘ aus der Rasse der Hausesel, Chefin im Ring. Polotzek jedenfalls bekam die Hufrehe in den Griff. Prüfung bestanden.
Eine Hufrehe kann, lernt man vom Chef, in direktem Zusammenhang mit falscher Ernährung stehen. Ein Grund dafür, dass am Eselgehege deutlich sichtbar ein Schild angebracht ist, dem man entnehmen kann: ‚Füttern verboten.‘ Daumen nach unten.

Riesenbabys mit Zotteln

Noch mehr ist zu lernen. „Früher dachten die Züchter, dass die Eselhengste mit dem längsten Fell auch die Potentesten seien. Das hat sich als nicht richtig erwiesen.“ Apropos Hengst und Stute: Wie war doch gleich die Sache mit den Maultieren und den Mauleseln? Maultier bedeutet: Kreuzung von Pferdestute und Eselhengst. Beim Maulesel ist es andersherum: Pferdehengst und Eselstute kommen einander nähe.
Poitous sind zottelige Riesenbabys mit Philosophenblick. Irresistible. Man sollte ins Französische wechseln: Irrésistible. Unwiderstehlich. Und: unvergesslich. Apropos vergessen. „Ein Esel vergisst nichts“, sagt Polotzek, der ja Tierarzt ist. Das kommt bei den Patienten nicht immer gut an, aber der Chef und Doudon haben ihren Frieden gemacht. Wenn Polotzek Doudons Hals liebevoll beklopft, steigen Staubwolken aus dem Fell. 30 bis 35 Jahre alt können Poitou-Esel werden. Wenn alles gut läuft. Aber: Die Tiere sind anfällig. Poitou-Esel wurden als Arbeitsesel gezüchtet. Groß und stark sollten sie sein. „Aber wie es so ist“, erklärt Polotzek: „Irgendwann sind Grenzen erreicht. 400 Kilo auf vier Hufen – das ist so eine Grenze.“ Die Hufe (siehe oben) sind also besonders anfällig und fängt sich ein Tier die Hufrehe ein, ist das eine schmerzhafte Angelegenheit, die den Auftritt des Tierarztes zwingend erforderlich macht.

Gefährdet

Die Poitou-Esel gehören zu den gefährdeten Großeselrassen. Bekannt ist die Rasse seit dem 11. Jahrhundert, benannt ist sie nach dem Gebiet Poitou im Westen Frankreichs. 1972 stand die Rasse vor dem Aussterben. Es existierten nur noch 25 reinblütige Tiere. Polotzek spricht von einem „eingeschränkten Genpool“, der die Zucht zusätzlich erschwert. Weltweit gibt es heute wieder circa 500 reinblütige Poitou-Esel. Eine Poitou-Esel-Schwangerschaft dauert übrigens bis zu 370 Tage.
All das ficht Doudon nicht an. Man möchte aber schwören, dass sie um das Besondere ihrer Rasse weiß: Adel verpflichtet. Und wäre Doudon nicht so groß, man möchte sie zum Parkplatz locken und ins Auto und dann ging‘s ab nach Hause. So bleibt nur ein zartes Streicheln. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. „Ich schau dir in die Augen, Großes.“