Schreibkraft
Heiner Frost

Hungers großes Solo

Zeichnung: Peter Strege

Es könnte etwas länger dauern. Die Zeugenliste: ausgewachsen. Die Verhandlung gegen Herrn Hunger: einziger Tagesordnungspunkt. Es geht um Betrug im großen Stil. Sechs Fälle sind angeklagt: Autos, Grundstücke, Immobilien und Wechselgeschäfte – damit lässt sich Geld machen.

Ein Rechtsgespräch

Herr Hunger – er heißt in Wirklichkeit anders ähnlich – Herr Hunger hat seine Akten dabei. Alles fein säuberlich geordnet. Es wird sich herausstellen, dass er, was dort niedergelegt ist, im Kopf hat. Bevor es losgeht, möchte der Verteidiger ein Rechtsgespräch führen. Vorgelagert: eine Unterredung mit seinem Mandanten. „Wie lange brauchen Sie?“, fragt der Vorsitzende. „Zehn Minuten vielleicht.“ „Okay, dann gehen wir alle zusammen so lange raus.“ Herr Hunger ist aus Bayern angereist worden: Er sitzt dort in Landshut. Der Verteidiger hatte also wenig Kommunikationsgelegenheit. Nach zehn Minuten: Rückkehr des Personals in den Verhandlungssaal. Jetzt, bitte, das Rechtsgespräch – möglichst ohne Öffentlichkeit. Das sieht der Vorsitzende aber anders. Alles ist transparent. Alle bleiben.

Wohnsitz: Thailand

Herr Hunger ist kein unbeschriebenes Blatt: 18 Vorstrafen – einige davon sind auch in seinem Fachgebiet angesiedelt. Hungers Adresse: Thailand. Dort hat er Frau und zwei Kinder. Vorsitzender: „Ihr Familienstand?“ Hunger: „Nach deutschem Recht verwitwet. Nach thailändischem Recht verheiratet.“ Die Sache beginnt kompliziert zu werden.

Die Hölle

2019 verliert Hunger seinen Pass – beantragt bei der deutschen Botschaft einen neuen. Dort fällt auf, dass Herr Hunger in Deutschland gesucht wird. Man veranlasst eine Pass-Entziehung. Voraussetzung: Sofortige Abschiebung nach Deutschland. Aufenthalt ohne Papiere ist in Thailand ein Straftatbestand. Hunger wird verhaftet und eingesperrt. Müsste das nicht „inhaftiert“ heißen? In Deutschland vielleicht. Die Haft in Thailand: eine Tortur. 150 Gefangene auf engstem Raum. Zur „Begrüßung“ bekommt er Eisenketten an die Füße. Sie wiegen 16 Kilogramm. Man denkt gleich mittelalterlich. Kleinste Vergehen werden drastisch bestraft. Als Hunger einmal die Besuchszeit mit seiner Frau um drei Minuten überschreitet, werden ihm – sagt er – von Vollzugsbeamten mit dem Schlagstock drei Rippen gebrochen. Hunger wird – von Mithäftlingen – vergewaltigt. Finger- und Fußnägel fallen ihm aus. („Das lag wohl an der Ernährung.“) Vorsitzender: „Zeigen Sie und mal ihre Hände.“  Herr Hunger hat sich im Knast auch um erkrankte Mithäftlinge gekümmert. Wie das? Hunger hat mal, bevor er Einzelhandelskaufmann wurde, eine Krankenpflegerausbildung begonnen. „Die habe ich dann abgebrochen. Ich konnte mit dem Elend nicht umgehen.“

Das war keine schöne Zeit

Hungers Anwalt kennt sich aus mit asiatischen Gefängnissen. Deutsche Anwälte werden, sagt er, nur bestellt, wenn einem deutschen Gefangenen die Todesstrafe droht. „Das können Sie sich nicht vorstellen“, sagt er und Hunger sagt: „Das war keine schöne Zeit.“ Die Tränen stehen ihm in den Augen. Er hat Fotos vom Knast. Er zeigt die Kettenspuren an den Beinen. Richter: „Woher haben Sie die Bilder?“ „Von einem der Beamten. Sie stammen aus der Überwachungskamera.“ Es stellt sich heraus, dass Hunger die Landessprache spricht.
Nach neun Monaten schiebt man ihn ab – danach sitzt er in Deutschland – Haft-Ende: wahrscheinlich 2023. Er will „heim“ zu seiner Frau – zu den beiden Kindern. Was er – aufgrund der Anklage zu erwarten hätte? Da könnten schnell drei Jahre zusammen kommen. Der Strafrahmen reicht von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Aber wären mehr als vier Jahre anvisiert, würde nicht vor dem Amtsgericht verhandelt.

Wege zur Wahrheit

Herr Hunger hat die ihm vorgeworfenen Taten bisher abgestritten. Der Verteidiger hätte gern mit dem Gericht darüber gesprochen, was möglich wäre. Herr Hunger, sagt er, werde ein Geständnis nicht auf dem Silbertablett servieren. Das Ziel: Eine Strafe, die noch zur Bewährung ausgesetzt werden könnte. (Also: nichts jenseits der Zwei-Jahres-Grenze.)
Ein Geständnis ist die erste Voraussetzung. „Und das muss dann auch glaubhaft sein“, sagt der Vorsitzende. Und wie sieht es die Staatsanwaltschaft? Es ließe sich darüber reden. Von den Haftbedinungen in Thailand zeigen sich alle beeindruckt. Was nun gebraucht wird, ist ein Verhandeln mit äußerster Umsicht. Das sollte doch – denkt man – selbstverständlich sein …

Hungers großes Solo

Was als „kammermusikalische“ Veranstaltung geplant war – Angeklagter plus Zeugenorchester – wird jetzt zu Hungers großem Solo. Der Vorsitzende fragt. Hunger antwortet. Manches gibt er zu, anderes nicht. „Ich sehe, dass Sie sich schwer tun“, sagt der Vorsitzende, nachdem Hunger eine Urkundenfälschung abstreitet. „Hier zu gestehen, ist nicht einfach, aber es geht für uns nicht darum, es Ihnen leicht zu machen.“
Hunger ist ein guter Erzähler. Der Vorsitzende fragt und Hunger beginnt eine ausgedehnte Antwortrundfahrt – muss immer wieder „eingefangen“ werden. „Ich warte noch immer auf die Antwort auf meine Frage“, sagt der Vorsitzende immer wieder.
Hunger ist nicht nur ein guter Erzähler – er hat auch seine Akte verinnerlicht. „Mir ist da eine Aussage nicht ganz klar“, erklärt der Vorsitzende und Hunger weiß sofort, wovon die Rede ist. Er weiß die passende Seitenzahl und schildert weitläufig, wie dies und das sich erklären lässt. „Also das war so …“

Wege zur Freiheit

Allmählich läuft er sich warm im Gestehen – sieht, dass der Weg zum Ziel nur über die Wahrheit führen kann. Große Summen sind bewegt worden. Hunger hat das meiste von einem Unternehmer bekommen – sollte Autos anschaffen, Schmuck, Uhren, Immobilien. Quittungen? Fehlanzeige. Am Ende werden Beträge jenseits von 300.000 Euro genannt. Man darf gespannt sein auf die Erklärung der Opfer.
Wo ist eigentlich all das Geld geblieben? Zeit für eine weitere Wahrheit: Da ist also dieser Italiener. Der hat Hunger die große Chance versprochen. Auch Betrüger, lernt man, fallen auf Betrüger herein. Wer die beste Geschichte hat, gewinnt.
Hunger jedenfalls hat zur Wahrheit gefunden. Er weiß, „dass da Vieles beschissen gelaufen ist“. Er hat sein Lehrgeld gezahlt – hauptsächlich im thailändischen Knast. Am Ende seines großen Solos ist alles gestanden und das Anhören der Zeugen erübrigt sich. Als sie den Saal betreten und erfahren, dass sie nicht aussagen müssen, sind sie nicht verärgert, dass sie drei Stunden warten mussten – man glaubt fast schon, ihre Erleichterung mit Händen greifen zu können. Der Unternehmer verzichtet auf die Erstattung von Auslagen. „Ich will Ihre Kasse nicht unnötig belasten“, sagt er.

Plädoyers

Dann geht es ans Plädieren. „Ein sehr hoher Schaden ist entstanden“, erklärt die Staatsanwältin. Sie sagt auch, dass Hunger mit hoher krimineller Energie vorgegangen ist. Sie spricht von Hungers zahlreichen Vorstrafen. All das: strafschärfend. Dann das Aber: Auch die Geschädigten haben sich in ein einer Art Grauzone bewegt. Hunger hat gestanden. Umfänglich. Ausführlich. Über den Tatvorwurf hinaus. Die Taten liegen fast zehn Jahre zurück und dann wäre da noch – alles schattierend – die Haft in Thailand. „Normalerweise wäre hier keine Strafe unter zwei Jahren denkbar.“ Dann das Aber: Unter Berücksichtigung aller Umstände: Zwei Jahre, auszusetzen zur Bewährung.
Was bleibt dem Verteidiger? Auch er erzählt ein letztes Mal von thailändischen Bedingungen. Er ist selber wegen eines Mandanten in einem der Knäste gewesen. Was er da gesehen hat … unbeschreiblich. Er schließt sich dem Antrag der Staatsanwältin an.

Lektion gelernt?

Herr Hunger hat das letzte Wort. Das letzte Wort beginnt mit den ersten Tränen. Hunger bedankt sich. Er sagt: „Ich habe meine Lektion gelernt. Mich werden Sie hier nie wiedersehen.“ Ist das echt? Wer soll das sagen? 30 Minuten später wird Hunger zu zwei Jahren verurteilt – ausgesetzt zur Bewährung. Die Bewährungszeit: vier Jahre. Auflagen? Keine. „Ich gehe davon aus, dass Sie nach dem Haft-Ende nur noch zurück zu Ihrer Familie möchten. Sie haben gesagt, Sie möchten mich nicht wieder sehen. Das geht mir genau so. Ob Sie Ihre Lektion gelernt haben, wird die Zukunft zeigen. Sie haben gemerkt, dass ich mit meinen Fragen sehr hartnäckig war und ich habe gemerkt, dass es Ihnen anfangs nicht leicht gefallen ist. Aber Sie sind nicht hier, damit es Ihnen leicht fällt.“

Wahrheitsdomino

Herr Hunger hat Farbe bekannt, hat Kontakt zur Wahrheit gesucht und gefunden. Herr Hunger hat – möchte man sagen – Glück gehabt: Er hat einen verständigen Richter gefunden. Korrektur: Vielleicht sollte man nicht von „Glück“ sprechen – das klänge fast beliebig. Was man erlebt hat, war eine Art Wahrheitsdomino: Lügensteine sind gestürzt. Erkenntnis ist entstanden. Herr Hunger soll sich klarmachen, was es bedeutet, wenn man ihn „hier“ wieder sieht. „Der Arm des Gesetzes – das haben Sie erfahren – reicht bis nach Thailand. Das sollten Sie nicht vergessen.“
Was hat man erlebt? Justiz in ihrer besten Form: umsichtig, erfahren, unnachgiebig im Aufspüren und realistisch in ihrem Vorgehen. Man könnte Fan werden.