Schreibkraft
Heiner Frost

Tote Hose

Foto: Rüdiger Dehnen

Die Fotos an der Wand erzählen Geschichten aus einer anderen Zeit. Aus einem anderen Leben. Es ist das Leben des Horst Miethe, der zur See fuhr, der sein Geld im Kleinwalsertal verdiente, sieben Jahre auf Sylt arbeitete und danach in Duisburg „kneipte“, bevor er nach Kranenburg kam: Vor 25 Jahren.
Es gibt nicht viele Kneipenpächter in der Gegend, die seit 25 Jahren hinter dem Thresen stehen.  Und wie feiert man 25 Jahre Kneipe? Antwort: Mit gebremstem Schaum. Es gibt derzeit nicht viel zu feiern. Glücklich geht anders. Die Kneipen sterben …

Täglich gegen Mittag öffnet Horst Miethe die Kneipe gleich neben der Kirche. „On de Kerk“. Danach kann es passieren, dass nichts passiert. Gar nichts. Kein Gast. Kein Umsatz. Es gab andere Zeiten. Geschichten aus den guten Zeiten gibt es in Hülle und Fülle. Es sind eben die Geschichten, die das Aroma des Sentimentalen verströmen, das alles Gewesene umgibt. Früher kamen sie alle. Die Vereine waren da und Hochzeiten (grün, silber, gold), runde Geburtstage – Schützenfest und Kirmes wurden gefeiert. Die Kneipen war Teil des Dorfkerns – psychologische Auffangstationen, Orte von Klatsch und Tratsch, Freude und Leid, Lust und Leben. Wenn jemand beerdigt wurde, ging es anschließend zum Leichenschmaus. Von allem was vorher war, sind die Beerdigungen geblieben, und mit jeder Beerdigung stirbt ein Stück Geschichte. Der Dorfgastwirt als Begleiter in allen Lebenslagen ist zum Totengräber geworden. Kein Wunder, dass da keine Feierstimmung aufkommt.

Tote Hose

Wenn die Leute heute was zu Feiern haben, lassen sie einen Partyservice kommen. Getränke werden im Supermarkt geholt. Geiz ist geil, und was man in der Kneipe spart, wird in den Urlaub investiert. Sparen – eine Situation, die auch Miethe gut kennt, denn oft genug wird die Kneipe zur Nullnummer oder zum Zuzahlgeschäft. Urlaub? Im Herbst wird es zwei Wochen Betriebsferien geben, aber wegfahren … ? Geht nicht. „Wovon denn?“ Wenn die kalte Jahreszeit kommt, wird die Sache noch extremer: „Heiz doch mal den ganzen Tag die Bude, wenn keiner kommt. Du kannst ja nicht einfach abschalten, denn wenn jemand kommt, ist es saukalt.“ Zum Aufhören ist es trotzdem für den gelernten Kellner zu spät. „Mit Anfang 60 musst du nicht glauben, dass dich noch einer will.“ Nein, es hilft nicht, von den alten Zeiten zu träumen. Und trotzdem: „Früher lernten die Leute das Trinken“, sagt Miethe und meint damit nicht die Erziehung zum Alkoholismus, sondern den maßvollen Umgang mit Bier und Korn. Früher schickte der Gastwirt die Leute nach Hause. „Lass gut sein. Mehr muss nicht.“ Wenn Miethe heute die Geschichten von Jugendlichen liest, die sich ins Koma saufen, versteht er die Welt nicht mehr. „Die wissen doch gar nicht, wie sie mit Alkohol umgehen sollen.“ Kneipen sind immer auch ein Stück Kultur, ein Stück Gemeinschaft. „In der Kneipe triffst du halt die Leutre aus dem Dorf.“ Und jetzt? Die Zeiten sind mies. Vor allem dann, wenn die Kneipe außerhalb liegt. Vom Draisinenboom jedenfalls hat Miethe noch nichts gesehen. „Einmal war eine Gruppe zum Essen bei mir.“ Beim niederrheinischen Radwandertag führte keine Strecke an Miethes Kneipe vorbei. Tote Hose. Zum 25-jährigen kratzt „on de Kerk“ irgendwo am Existenzminimum. „Versuch mal als Gastwirt an einen Kredit zu kommen – das kannst du vergessen. Da nützt es nichts, dass du ein Vierteljahrhundert deinen Job gemacht hast. Da ist irgendwann einfach das Konto gesperrt – da musst du keine Angst haben. Hahn zugedreht. Fertig.“

Der Teufelskreis

Einen Laden wie „On de Kerk“ müsste man umbauen. Investieren. Aber: Geld ist nicht zu kriegen. (Siehe oben.) Also bleibt alles wie es ist. Ein bisschen fühlt man sich an das Dilemma des Hauptmanns von Köpenick erinnert: Ohne Pass keine Arbeit – ohne Arbeit kein Pass. Wenn Horst die Vergangenheit auspackt, alle die Geschichten aus einem Kneipenleben, möchte man empfehlen: Schreib ein Buch. Am besten zwei. Das gäbe es dann auf Rezept, denn Lachen ist gesund und Horst kann erzählen, bis du vor Lachen um Gnade winseltst. Horst ist das, was man ein Original nennt. Unkopierbar. Die Kneipe sollte ihn ernähren – er wollte die Rücklagen für die „Zeit danach“ schaffen. Pustekuchen. Um überhaupt weitermachen zu können, muss Miethe an die eisernen Reserven. Aber irgendwann wird es nicht mehr gehen. Dann ist sie weg – die Dorfkneipe – und das ist nicht nur in Frasselt so.
Die Devise: Der Letzte macht das Licht aus. Und am Tag danach werden alle, die vorher nie da waren, den Klagegesang anstimmen vom Niedergang der Dorfkultur.