Schreibkraft
Heiner Frost

Hindukusch in Materborn

Ernstfall

Der LKW arbeitet sich den Sandweg herunter. Staub hängt wie Nebel in der Luft. Dazu: Das Brummen des Motors. Dann: Der Knall. Der Rauch. Die Mine. Die Schreie.  Der Fahrer: Offensichtlich schwer verwundet. Als der Staub sich legt, werden an der Hügelkuppe Soldaten sichtbar. Immer noch schneiden die Schreie aus dem Führerhaus wie ein Messer ins unversehrte Grün der Landschaft. Oben an der Hügelkuppe haben sie jetzt ihre Waffen im Anschlag und beginnen, sich den Sandweg hinab zu arbeiten. In der Spur des LKW. Langsam, ganz langsam, bewegen sie sich Meter um Meter an den LKW heran, dessen Motor noch immer läuft. Es dauert Minuten, bis sie unten ankommen — am Hinterrad des LKW. Die Hilfeschreie des Verwundeten mischen sich mit den Befehlsschreien des Gruppenführers. Während die ersten Soldaten die Ladefläche des Lastwagens entern, liegen die anderen — das Gewehr im Anschlag — in der Spur und sichern die Lage. Durchs Dach des Führerhauses wird der Schwerverletzte geborgen. Sie ziehen ihn durch eine Luke nach draußen. Sie legen ihn auf die Ladefläche und transportieren ihn danach ab: Huckepack. Den Hügel hinauf. In der Spur des Lastwagens. Am Kamm des Hügels: Der Krankenwagen. Abtransport. Ende der Übung.

Gegen den Instinkt

Oberfeldwebel Thorsten Holtermann ist zufrieden mit seinen Jungs, und der Laie wundert sich. Ein schwer verletzter Fahrer, der nach einem Minenunfall dringend Hilfe braucht, und die Kameraden haben, scheints, alle Zeit? Erklärungsbedarf. Oberst Peter Stütz beschreibt die Lage: „Was Sie hier sehen, ist eine einsatzvorbereitende Ausbildung der Luftwaffe.“ Heißt: Was hier läuft, bereitet den Fall der Fälle vor.  Im O-Ton des Informationsmeisters (das bedeutet im Zivilistendeutsch: Pressesprecher) klingt es so: ‘Angesichts des erweiterten Aufgabenspektrums der Streitkräfte und damit auch der Luftwaffe kommt der allgemein militärischen Aus- und Weiterbildung eine immer größere Bedeutung zu.’ Zurück zur Lage. „Jeder von uns würde doch normalerweise, wenn er Hilfeschreie hört, spontan etwas unternehmen wollen. Was wir unseren Rekruten hier beibringen müssen, ist das genaue Gegenteil. In einer Situation wie dieser, führt jegliche Spontaneität nur zu noch mehr Gefährdung“, erklärt Stütz. Stück für Stück wird klar: Hier üben sie für eine andere Wirklichkeit. Oberfeldwebel Holtermann ergänzt: „Was Sie gerade gesehen haben, war ein richtiges Vorgehen. Die Soldaten haben sich dem Fahrzeug nicht einfach planlos genähert. Sie haben sich in der Reifenspur bewegt —  und zwar genau bis an die Hinterreifen des Fahrzeugs.“ Nur in der Spur des LKW ist es sicher. Wer jetzt einfach vom Hinterrad zur Fahrertür gestürmt wäre, um den Kameraden zu bergen, könnte ebenfalls verwundet oder getötet werden. Also nicht seitlich um den LKW herum zur Tür. Stattdessen  die Annäherung über die Ladefläche. Daher die Bergung durch die Dachluke. Was hier geübt wird, soll im Ernstfall (den sich keiner von ihnen wünscht, mit dem aber jeder rechnen muss) Leben retten. Verhalten gegen den ersten Instinkt. Das speichert sich nicht nach einmaligem Gebrauch ab. Übungen wie diese müssen wiederholt werden. Immer wieder. Und immer wieder gehört die anschließende Kritik, die hier im wahrsten Sinne des Wortes eine Manöverkritik ist, zum festen Bestandteil.

Ultima Ratio

Eine Woche lange sind die rund 45 Rekruten in einem Feldlager unter ‘realistischen’ Bedingungen. Hindukusch auf dem  Standortübungsplatz in Materborn. Eine Woche haben sie sich zuvor auf diesen ‘Ernstfall’ vorbereitet. Jetzt soll aus der grauen Theorie des Lernens die Praxis für eine andere Wirklichkeit werden. Und was hier passiert, hat mit Lagerfeuerromantik der alten Schule nichts zu tun. Auch für Ausbildungssadismus ist hier kein Platz.

Das Selbstverständnis des Soldaten hat sich geändert. Die hier lernen, sind so wenig Kampfmaschinen, wie ihre Lehrer  Schleifmonster. Sie verstehen sich allesamt als Konflikt- und Krisenbewältiger — immer zunächst einmal um Deeskalation bemüht. Dass es aber auch eine ultima ratio gibt, die anderes Verhalten erforderlich macht, kann nicht verschwiegen werden.

Grenzland

Ob die Auszubildenden im Zeltlager sich das klarmachen (können), steht auf einem anderen Blatt. Vorstellbar ist Vieles. Die Wirklichkeit eines Krieges gehört nicht dazu.

Was hier zählt ist Kooperation. Soldaten sprechen von Kameradschaft. Schon der Unterschied zwischen Zusammenarbeit und Kameradschaft bindet begriffliches Grenzland ein, das Technokraten ins Leere laufen lässt. Zwischen Kooperation und Kameradschaft liegt jenes kleine Stück Niemandsland der unverzichtbaren Menschlichkeit. Wenn es einen Ernstfall gibt, dann sollen sie hier einen vorsichtigen Blick in Pandoras Büchse tun und die Ahnung lernen, dass Soldatsein auch gegenseitige Lebensversicherung bedeutet. (Zusammenarbeiten kannst du eben auch mit einem Computer.)

Streife

Die zweite Übung: Die Auszubildenden gehen Streife in einem Krisengebiet. Und genau hier ist alles möglich. Und wo alles möglich ist, müssen die Beteiligten sich auch alles abverlangen. Streife gehen — da ist kein Herrenreitergehabe gewünscht. „Wer in einem fremden Land unterwegs ist, sollte sich auskennen mit den Sitten und Gebräuchen“, erklärt Oberstleutnant Harald Herbst, verantwortlich für die Ausbildung. Gut gemeint kann dann schnell schlecht gemacht sein. Vorbereitung tut not und Vorbildung ist allemal besser als ein Vorurteil. (Was für alle Seiten gilt.) Der Soldat als Kampfroboter? Wohl eher nicht das Richtige. Während der Ausbildung wird ein Kanon von Standartsituationen ‘abgearbeitet’. Immer geht es um das Erlernen von Handlungsschemata. Und trotzdem wird die soldatische Wirklichkeit — sollte sie einen der Auszubildenden je einholen — nie in ein klar lesbares Schema passen. Jede Situation ist anders. Was nach ‘alter Bauernregel’ klingt, kann im Ernstfall zur Grenzlinie zwischen Konflikt und Eskalation werden. Wenn die andere Seite der Wirklichkeit die Regie übernimmt und Normalität im Angesicht einer Krise zusammenbricht, müssen Mauern trainierten Handelns stehen bleiben — stabil genug, das eigene Leben und das der anderen zu schützen.

Soldat