Schreibkraft
Heiner Frost

Da werden Sie geholfen

„Sie haben hoffentlich eine interessante Lektüre dabei“, sagt einer der drei Verteidiger des Tages.

Die Erklärung: Knapp 2.000 Fälle stehen zu Buche. Knapp 2.000 Geschädigte. Knapp 2.000 Namen. Muss man Angst haben vor der Verlesung der Anklageschrift?
Der Prozess soll um 9.30 Uhr beginnen – die erste Zeugenvernehmung ist für 12 Uhr angesetzt. Geht man davon aus, dass die drei Angeklagten eine Aussage machen, könnte es mit dem Verlesen von 2.000 Namen (die Beschreibung der Tatumstände nicht eingerechnet) eng werden. So wird das Uneigentliche zum Hauptdarsteller. Wie lange wird es dauern, 1.986 Namen zu verlesen? Der Kollege macht einen Versuch: wirft die Stoppuhr an. Zählt dreisilbige Namen auf. Stoppt die Zeit. Zählt. „Rechnen wir zwei Sekunden pro Namen, dann dauert das Verlesen rund 66 Minuten.

Minus 397

Der Staatsanwalt schafft es am Ende schneller, was allerdings daran liegt, dass beim Verlesen von den ursprünglich 1.986 Namen der Presseankündigung nur 1.589 geblieben sind. Ein Minus von 397. Rund 50 Minuten dauert das Staatsrezitativ. Man daddelt auf dem Smartphone …während die Namen verlesen werden. Diese Form gerichtlicher Realität ist – denkt man – nicht filmtauglich, aber: Was muss, das muss.
Zeit für das Wesentliche. Dieser Prozess ist ein zweiter Anlauf. Der Erste musste wegen einer Erkrankung der Vorsitzenden abgebrochen werden.

Der Vorwurf

Laut Staatsanwaltschaft sollen die Angeklagten „in der Zeit vom 8. August 2013 bis zum 22. August 2014 aufgrund eines gemeinsamen Tatplans und in arbeitsteiligem Zusammenwirken mindestens 1.986 Geschädigte zur Zahlung von Mitgliedsbeiträgen in Höhe von 89,95 Euro samt Säumniszuschlägen und Inkassokosten veranlasst haben. Hierzu sollen sie den Geschädigten unter anderem eine Mitgliedschaft in einem Verbraucher-Werbeschutzbund oder einer Verbraucherhilfe vorgespielt haben.“

Hickhack

Es wird ein Hickhacktag. Die drei Angeklagten werden – vorerst – keinerlei Angaben machen. Nicht zur Person. Nicht zur Sache. Die Verteidiger sind der Ansicht: Was hier verhandelt werden soll, ist verjährt. Der faktische Hintergrund: Jura am Hochreck. Es geht um Verjährungsfrist und Umstände, die zur Unterbrechung der Verjährungsfrist führen. (Sucht man unter dem Stichwort „absolute Verjährung“, findet sich im Internet beispielsweise Folgendes: Das Gesetz bestimmt jedoch absolute Verjährungsfristen, nach deren Verstreichen kenntnisunabhängig die Verjährung eintritt. Diese Frist beträgt taggenau 10 Jahre von ihrer Entstehung an. Ausgenommen hiervon sind Schadensersatzansprüche.“ Die angeklagten Taten – das ist in der Anklage datiert – erstrecken sich von August 2023 bis August 2024.

Dann geht es um die Liste mit den Namen der Geschädigten: Einer der drei Verteidiger kann keinerlei Erklärung für das Vorhandensein vieler der verlesenen Namen finden. Er kündigt „fairerweise“ an, dass er Beweisanträge stellen wird – dass er viele der Menschen, die auf der (von der Polizei erstellten?) Liste stehen, als Zeugen wird laden lassen. Und wenn es nicht so traurig wäre, möchte man sagen: Das kann ja heiter werden. Außerdem ist einer der Verteidiger der Ansicht, dass der Inhalt der Anklageschrift im Widerspruch zu den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft steht. Das Gericht, so die Antwort, habe die Anklage zugelassen, „und wir werden jetzt erst einmal verhandeln“.

Ein lukratives Unterfangen

Unterstellt man die Richtigkeit der Anklage – was der Prozess freilich erst erweisen muss – handelt es sich bei der Idee der Angeklagten um ein zweifelsohne lukratives Unterfangen. Wie gesagt: Noch ist nichts bewiesen. Das Prinzip: „Ich schütze dich vor unseriösen Angriffen – du mussr nur Vereinsmitglied sein und deinen Beitrag entrichten.“ Eingetragene Vereine sind rasch gegründet. Natürlich wäre hier klärend zu erwähnen, dass seitens der Angeklagten – darin unterscheidet sich ihr System deutlich von dem des backengeplusterten Paten aus dem Filmklassiker – niemals mit Gewalt gedroht wurde. Sie sind wackere Streiter für notleidende Mitglieder – eine Art Brandmauer zwischen den Angriffen unseriöser Geschäftemacher und dem Nervenkostüm ihrer Mitglieder.
Die beiden in der Anklageschrift erwähnten Vereine standen ihren Mitgliedern mit Hotlines sowie Rat und Tat zur Seite. Das sagt – später am Tag – eine Zeugin aus, die im Auftrag der Vereine, beratend einerseits und buchhalterisch andererseits in Erscheinung trat, dabei aber für eine dritte Firma tätig war. Sie ist bestens vorbereitet – hat sich Notizen gemacht und antwortet beherzt auf alle Fragen der Vorsitzenden. Kennt sie sich nicht mehr aus, wirft sie ein „Gutefragenächstefrage“ in Richtung Richterbank. Ja – sie hat im Auftrag der Vereine gehandelt, aber „für die Kunden war ich der Verein“. Irgendwie denkt man an den Verona-Satz: „Da werden Sie geholfen.“

Gut geölt

Die Zeugin hat zunächst in einem Büro außerhäusig gearbeitet und später dann die Angelegenheiten der gemeinnützlichen Vereine aus dem Home-Office geregelt: Anrufe entgegengenommen, Post beantwortet. Vor dem geistigen Auge des Zuhörers entsteht eine zunächst gut geölte Maschinerie nützlicher Hilfestellungen – ausgeführt von der Zeugin und weiteren Hilfswilligen (vornehmlich) Minijobbern.
Der Vereinsvorsitzende – es ist einer der drei Angeklagten – scheint nicht durch Arbeit aufgefallen zu sein. Der findige Herr X. – erfährt man – ist, wie es so schön heißt, „einschlägig vorbestraft“: Betrug. Aber immerhin: er hatte die Idee von der Verbraucherhilfe.
Satzungen werden verlesen. Mitgliedschaften im Verein – erfährt man – sind nicht vererbbar. (Bei Fußball- Dauerkarten wäre Vererben ja vielleicht eine gute Idee – aber hier …?) Man weiß nicht, wer die Blaupausen für die Vereinssatzungen geliefert hat. Juristisch gesehen scheinen sie wasserdicht. Noch erfährt man nichts über das finanzielle Gebaren der Angeklagten. Wie sah die „Kommunikation“ mit den zuständigen Finanzbehörden aus? Der Prozess wird fortgesetzt. Man ist begierig die Details der Vorgehensweise zu erfahren und hofft innigst, dass es nicht zu einem Massentreffen der Listenmenschen kommen wird.