Lehrer und Schüler – Professor und Student, Meister und Lehrling …Es geht ums Lernen. In der Musik ist ein Fortschritt ohne Lehrer kaum denkbar. Es geht um ein notwendiges Korrektiv, um Erfahrung und – im positiven Sinn – auch um Kontrolle. Ich denke, auch in der bildenden Kunst spielt das eine Rolle.
KUNDE. „Ein weites Feld“, würde man da mit Fontane sagen. Wir waren ja auf dieses Thema anhand des Beispiels von Mataré und Beuys gekommen. Das ist eine Geschichte, an der sich viel erklären lässt in Bezug auf Wissenstransfer einerseits und Konfliktpotenzial andererseits. Es ist ja allgemein bekannt, dass Beuys einer der Hauptstudenten bei Mataré war – später sprach man von Meisterschülern –, aber eben nur bis zu dem Punkt, an dem die Eigenständigkeit von Beuys einsetzte. Beuys hat ja zunächst einmal viel von Mataré übernommen: das Materialverständnis; den Umgang mit handwerklichen Bearbeitungsmethoden. Beuys konnte das sehr gut. Er war ja auch ein wirklich sensibel ausgebildeter Bildhauer, der sein Instrumentarium beherrscht hat. Was sich dann aber späterhin entwickelt hat – also die soziale Plastik und der erweiterte Kunstbegriff – das war für Mataré nicht mehr greifbar, nicht mehr nachvollziehbar. Mataré hat ja dann sogar aus seiner Sicht davor gewarnt, Beuys als Professor an die Kunstakademie zu berufen. Seine Meinung: „Der wird hier eine solche Unruhe stiften, das könnt ihr euch nicht vorstellen. Hier wird niemand mehr zu geordnetem künstlerischen Arbeiten kommen.“ Aus Beuys‘ Verständnis heraus war aber genau das ein intensiver Akt künstlerischen Arbeitens. Dazu gehört eben die Umgestaltung seiner unmittelbaren Umgebung. Dazu gehörte, dass Beuys sich nicht mehr an die Zulassungbestimmungen an der Kunstakademie hielt, sondern sagte: „Zu mir kann jeder kommen, der möchte.“ Dass dadurch natürlich die Organisationsstrukturen zerbrechen mussten, ist eine andere Sache.
Aus dem Miteinander des Anfangs wird also ein Gegeneinander?
KUNDE. Natürlich nicht zwangsläufig. Aber die Beziehung Mataré-Beuys ist ein Beispiel, das erahnen lässt: Es geht in der kulturellen Entwicklung immer auch um diesen symbolischen Vatermord. Der Anfänger muss zunächst einmal sehr viel an Tradition aufnehmen von den Vätern – also den Lehrern. Um aber später als Individuum hervorzutreten, muss dieser kulturelle Vatermord stattfinden. Das kennen wir seit der Antike. Eine nachwachsende Generation muss sich von der Vorgängergeneration emanzipieren.
Wie wär‘s mit einem Beispiel?
KUNDE. Nehmen wird Uranus, den großen Gott des Himmels, der die Erde begattete und das Kind Chronos – die Zeit – zeugte. Uranus war unumschränkter Herrscher, bis Chronos heranwuchs und den Alten mit einer Sichel entmannt hat. Penis und Hoden fielen ins Meer, schäumten dort und daraus wiederum entstand Aphrodite.
Ich hake mal kurz ein. Alles sehr symbolträchtig. Die Entmannung quasi als Zerstörung des kreativen Potenzials?
KUNDE. Das lässt sich so lesen. Chronos jedenfalls wurde dann zum unumschränkten Herrscher und zeugte seinerseits viele Kinder. Um zu verhindern, dass ihm passiert, was Uranus passierte, hat Chronos versucht, alle Kinder aufzufressen. Es gibt da ganz schaurige Bilder von Goya: Chronos verschlingt seine Söhne …
… klingt nach Antik-Splatter.
KUNDE. Einer der Söhne – Zeus – wuchs dann in einer Höhle auf und die anderen Verschlungenen wurden später lebendig erbrochen. Hat also alles nicht genützt. Chronos wurde später von Zeus vom Thron gestoßen. Das sind uralte Metaphern für unser Thema: Jemand saugt alles auf, was vorhanden ist und muss dann, damit Entwicklung stattfinden kann, alles wieder vergessen oder zerstören, um dann etwas Eigenständiges zu erschaffen.
Das erinnert irgendwie an Kindererziehung – ich meine nicht den Splatter-Teil. Aber es geht doch im Idealfall für Lehrer oder Eltern darum, sich überflüssig zu machen – den Lebensraum freizugeben. Wenn das gelingt, ist die Mission erfüllt. Schlechte Lehrer wollen nichts als kleine Kopien von sich selbst erschaffen. Das kann es ja nicht sein.
KUNDE. Ja, das ist richtig. Jetzt zum Aber: Die Umsetzung ist natürlich ungeheuer schwierig. Es gibt da vollkommen gegensätzliche Standpunkte in Bezug darauf, was denn ein guter Lehrer sei. Gerade an Kunsthochschulen kann ich aus meiner Erfahrung der DDR-Zeit Vergleiche anstellen. Damals war man ja lange Zeit fest davon überzeugt, dass anatomisches Zeichnen eine Grundvoraussetzung für einen künftigen Künstler ist. Diese Vorstellung wurde im Westen als grotesk und lachhaft abgetan. Im Osten hieß es: „Da drüben kann ja niemand ein richtiges Bild malen. Die wissen ja nicht mal, wie Grundieren geht.“ Wir kommen also zum Grunddissenz zwischen Handwerk – also dem, was man handwerklich vermitteln kann – und der eigentlichen künstlerischen Mission: Die lässt sich nicht lehren. Die kann jemand nur auch sich heraus entwickeln. Was aber möglich ist: Einen Ort zu schaffen – eine Kunsthochschule zum Beispiel –, an dem viele wichtige Persönlichkeiten in einem relativ geschützten Freiraum zusammenkommen, um dort durch ihr Beispiel etwas zu vermitteln, was die Studenten anderswo nicht erfahren können.
Und das wäre dann …
KUNDE. … ein selbst verantwortetes Leben. Die Entwicklung von etwas, das vorher nicht absehbar war. Das ist ja eben eine der Grundaufgaben für alle Kunstschaffenden: Aus sich heraus etwas zu schaffen, von dem man nicht weiß, ob überhaupt ein Bedarf dafür besteht; ob es in die Zeit passt; ob es gesellschaftliche Strukturen torpediert. Wird es geschluckt? Hängt es in Zahnarztpraxen oder tatsächlich in Galerien oder Museen. Das sind Verhältnisse, die immer wieder neu geklärt und erörtert werden müssen.
Ich habe mich gerade spontan in den Begriff „grundieren“ verliebt. Ein Ausbildung ist ja – egal, ob es um Kunst, Musik oder Handwerk geht – zunächst einmal eine Art Grundierung. Da wird eine Basis errichtet – eine Art Aussichtsturm in das, was war. Ich finde, dass eine solche Grundierung sehr wichtig ist. Wenn einer beispielsweise Komponist werden möchte, kann es hilfreich sein, Musik von Palestrina oder Bach oder Mozart gehört und auch studiert – sprich: analysiert – zu haben. Vor diesem Hintergrund kann ich es verstehen, dass beispielsweise Zeichnen ein Teil des Grundgerüstes ist und Bewerber für eine Akademie Arbeitsproben einreichen müssen.
KUNDE. Das ist vollkommen richtig. Das, was du Grundierung nennst, hat eine enorme Bedeutung. Ohne diese Grundierung agiert man gewissermaßen in einem Areal der Ahnungslosigkeit. Vorhin ging es ja zunächst um den technischen, den handwerklichen Aspekt. An vielen Hochschulen werden von Bewerbern dementsprechend Arbeitsproben gefordert. Für die Begutachter liegt die Herausforderung ja dann in der Beantwortung der Frage, ob die Arbeiten Potenzial haben. Ich denke, da ist nur in den seltensten Fällen Material, das man bereits als Kunst bezeichnen würde. Aber natürlich kann man spüren, ob man es mit jemandem zu tun hat, der ein Gefühl für die Dinge mitbringt. Das dann zu entwickeln, ist eine sehr schwierige Aufgabe.
Na ja – was dann das Gespür der Prüfer angeht, kommt es ja auch nicht selten vor, dass jemand an der einen Stelle abgelehnt und an anderer Stelle angenommen wird. Wir sind also auch da in einer Beurteilungsgrauzone und man kann nur jedem raten, sich an mehreren Stellen zu bewerben.
KUNDE. Klar – Talent oder sagen wir Potenzial wird natürlich ganz unterschiedlich wahrgenommen und ich stimme jederzeit zu, dass man sich von einer Absage nicht gleich entmutigen lassen sollte. Wenn es dann aber geklappt hat – wenn einer also an eine Hochschule kommt, dann gibt es natürlich Professoren, die es für ihre Aufgabe halten, Studenten erst einmal zu glätten. Zu entschlacken. Es geht dann darum, die ursprüngliche Kreativität wieder freizulegen.
Entschlacken – okay. Aber man hört ja nicht selten – vor allem von Schauspielern – dass es deren Lehrern um das „Brechen“ geht. Da wird jemand „zerstört“, damit man ihn anschließend wieder zusammenbauen kann. Das finde ich dann widerlich. Wie gesagt: Entschlacken ist für mich ein schönes Bild. Es geht ja auch darum, jemandem die richtigen Fragen zu stellen – Fragen, die ihn in die Nähe des eigenen kreativen Kerns bringen. Aber wichtig ist meiner Meinung nach, dass der Schüler die Fragen selbst beantworten muss. Aber Lehrer-Schüler, Professor-Student – das ist ja eine Beziehung. Da müssen zwei sich finden.
KUNDE. Sokrates hat ja das „Brechen des Zöglings“ als Ziel verfolgt hat, um ihn dann in seinem Sinn wieder neu aufzubauen. Das ist absolut martialisch und verträgt sich mit der heutigen Vorstellung von Persönlichkeitsentwicklung gar nicht. Trotzdem ist die Aufgabe Lehrer heute ja nicht leichter geworden – vor allem, wenn man darauf besteht, dass jeder eine eigene Persönlichkeit ist, dann musst du als Lehrer einen Weg finden, dein Wissen so zu vermitteln, dass es angenommen werden kann. Der Idealfall ist dann eben, dass der Schüler/Student sagt: „Da ist was dran. Das muss ich jetzt auf meine Situation ummünzen.“ Das ist das Allerschwerste.
Jeder erinnert sich an Lehrer und es gibt da sehr gute und sehr schmerzhafte Erinnerungen. Wie ist das bei dir?
KUNDE. Jeder von uns hat da ganz intensive Erinnerungen in diesen beiden Kategorien. Ich werde da jetzt keine Namen nennen, aber in die Kategorie der schmerzhaften Erinnerungen gehört einer meiner Professoren in Leipzig in den 80-er Jahren. Er war das, was man parteinah nennen würde und gehörte zu denen, die ins „kapitalistische Ausland“ fahren durften – sprich: zur documenta. Er brachte dann ganz viel Bildmaterial mit, das er uns auch gezeigt hat. Er sagte dann sinngemäß: „Ich zeige Ihnen jetzt, was die dort im Westen ausstellen und sage Ihnen: Ich halte das für schlecht. Ich kann Ihnen das nicht erklären, aber ich will es Ihnen wenigstens zeigen.“ Damit war dann – sozusagen von vornherein – eine Schranke gesetzt. Er konnte keine Zugänge eröffnen, weil ihm das, was er gesehen hatte, fremd war. Dass er uns darüber informierte, war gewissermaßen pflichtgemäß.
Und das Gegenbeispiel?
KUNDE. Der gute Lehrer, der dann später mein Doktorvater wurde, ohne dass ich je eine Doktorarbeit abgegeben hätte – bei dem war es genau andersherum: Der konnte Zugänge eröffnen und hat versucht, Verständnis dafür aufzubauen, warum Künstler heute so arbeiten wie sie das tun – warum Günther Uecker ein Klavier übernagelt – warum Beuys Basaltsteine auf den Friedrichsplatz schüttet. Diese Zugänge und dieses künstlerische Denken mit dem Material haben für mich ganze viele Türen und Wege geöffnet. Das war – wie soll ich sagen – eine Art Fahrschule. Fahren musste ich am Ende selber, aber um zu wissen, warum Dinge passieren wie sie passieren, war das ein unverzichtbarer Bestandteil des sich Öffnens. Dieser Professor durfte aus politischen Gründen natürlich nicht „raus“, hatte aber Netzwerke in den Westen und hatte aktuelle Publikationen, die meist erst drei oder vier Jahre später in der Deutschen Bücherei in Leipzig einsehbar waren. Ich habe damals gespürt, dass die Zugänge zu Informationen sehr ungleich verteilt waren. Die guten Leute versuchten immer, die Netzwerke, die sie hatten, direkt mit den Studenten zu teilen. Die anderen haben kein Wort darüber verloren, woher sie ihre Informationen hatten.
Springen wir ins Jetzt. Du bist jetzt Museumsdirektor. Ist es da Teil deiner Aufgabe und deines Selbstverständnisses, Zugänge zu schaffen?
KUNDE. Unbedingt. Zugänge zu eröffnen ist ungeheuer wichtig. Das gelingt natürlich nicht immer – oder sagen wir: manchmal besser, manchmal schlechter. Es ist ja auch so, dass ich nicht zu allen Positionen, die wir hier zeigen, die Weisheit mit Löffeln gefressen hätte – ganz und gar nicht. Aber ich kann in aller Regel durch die bessere Kenntnis der Personen, die das gemacht haben, und auch durch den gemeinsamen Aufbauprozess Zugänge eröffnen und sagen: Das könnte so und so gemeint sein. Wie das dann tatsächlich aufgefasst wird, will ich gar nicht beeinflussen, aber ich kann versuchen, eine Art Sensorium zu öffnen für die Wirkung von Formen und Farben – von der Position einer Skulptur im Raum – von der Bedeutung des Einsatzes unterschiedlicher Materialien. Ich kann versuchen zu ergründen, was Künstler selber für sich damit in Verbindung bringen und mich dann damit befassen, welche Wirkung sich daraus für uns, die Betrachter, ergibt. Logischerweise ist diese Wirkung nicht bei allen Betrachtern gleich. Es gibt unglaublich viele Varianten der Vermittlung. Klassische und meiner Meinung nach unersätzliche Varianten wären die Führung oder das direkte Gespräch. Bei jüngeren Zielgruppen gehört in der Regel auch das praktische Arbeiten mit dazu.
Museumspädagogik also?
KUNDE. Ganz genau. Erwachsene sind diesbezüglich eher distanziert. Eigentlich aber ist Museumspädagogik ein wichtiges Instrument zur Freisetzung kreativer Potentiale im Austausch mit dem Vorgefundenen. Leider haben wir an unserem Museum noch immer keine Stellen für fest angestellte Kunstpädagogen. Wir verfügen über wunderbare Räumlichkeiten, aber leider haben wir zu wenig Menschen, die das machen können.
Man spricht ja heute in der Kunst von „Positionen“. Kannst du dir vorstellen, Positionen zu zeigen, zu denen du keinen unmittelbaren Zugang hast und trotzdem sagst: Die müssen wir ausstellen?
KUNDE. Schwierig zu beantwortende Frage. Das, was letzen Endes ausgestellt wird, ist ja das Ergebnis unterschiedlichster Überlegungen. Da geht es auch um pragmatische Dinge: Bekommen wir einen bestimmten Künstler überhaupt nach Kleve? Ist ein Projekt finanziell überhaupt machbar? Aber nehmen wir ein großes Beispiel: Die Mike Kelley-Ausstellung in Düsseldorf. Mike Kelley ist ein wichtiger Künstler. Die Ausstellung in Düsseldorf ist mit großem Aufwand inszeniert und hat mich trotzdem nicht berührt. Ich frage mich dann natürlich: Bist du längst zu alt und zu verknöchert? Befrage ich mich dann selber, stellt sich heraus: Ich kann damit nichts anfangen.
Das wäre dann also ein Projekt, das du nicht machen würdest?
KUNDE. Das Fantastische ist doch, dass es dann andere gibt, die einen Künstler wie Kelley seiner Bedeutung angemessen ausstellen. Ich suche da noch nach Zugängen und es ist ja gut möglich, dass da noch etwas zwischen mir und dem Werk von Kelley passiert. Kelley ist ja ein Künstler, der Zeit seines Lebens mit beiden Händen in die Hintergründe der amerikanischen Pop-Kultur gegriffen hat und eben diese Zugänge habe ich nicht. Die waren für meine Ost-Biografie nicht prägend –für Kelley aber eben um so mehr. Deshalb stehe ich seinen späten Schöpfungen, wo er die Superman-Stadt Kandor in gleißend schönen Modellen nachgebaut hat, etwas hilflos gegenüber und frage mich: Was soll mir das sagen? Wohl wissend, dass es für andere eine Offenbarung sein kann.
Ich denke. es ist wichtig, sich selber und auch anderen einzugestehen: Das ist jetzt nicht meins. Wenn ich – sagen wir – über eine Tanztheaterpremiere schreibe und merke, dass mich das Gesehene nicht ereicht, dann werde ich am Ende keinen Verriss schreiben, sondern vielleicht schreiben, dass ich mich allein gefühlt habe im Jubel des Restpublikums; dass ich möglicherwiese etwas übersehen, überhört, überfühlt habe. Kann ja sein, dass ich einen schlechten Tag hatte.
KUNDE. Das ist ja auch völlig legitim, dass man mit manchen Sachen mehr, mit anderen weniger anfangen kann. Und wenn wir an dieser Stelle die Kurve zum Ausgangsthema drehen, dann ist das ja im Verhältnis Lehrer-Schüler auch so. Es funktioniert nicht in allen Konstellationen. Häufig funktioniert es sehr gut, aber nur für eine gewisse Zeit. Häufig findet eben dann ein „Bruch“ statt, wenn der Schüler selbst zum Meister gereift ist und seinen eigenen Platz beansprucht. Aber alles, was vorher passiert ist, basiert ja nicht nur auf eine Weitergabe von oben nach unten. Da findet idealerweise eine Durchdringung statt, die auch für den Lehrer wichtig ist. Viele gut Lehrer betonen ja nicht von ungefähr, dass sie ihren Schülern sehr viel verdanken und dass sie durch den Austausch „lebendig“ geblieben sind. Für die Lehrer bleibt der Kontakt zu den Gedankenwelten der Jüngeren dadurch bestehen und das ist besser, als wenn sie – die Lehrer – nur still im Kämmerlein produzieren würden. Dieser Austausch ist also ein wichtiger Aspekt des lebendigen Kulturverständnisses. Es geht um den Austausch zwischen Tradition und kultureller Grundierung einerseits und neuen Ansätzen andererseits.
Da taucht dann die Frage auf, was überhaupt noch „neu“ ist. Kann es das noch geben?
KUNDE. Keine unwichtige Frage. Gibt es etwas Neues oder ist alles, was wir erleben, nur eine Art spiralhaftes Kreisen auf verschiedenen Ebenen, das immer wieder bestimmte Bausteine aufnimmt und aktualisiert. Ich neige zu dieser Auffassung und nicht zu der linearen, wo plötzlich – wie aus dem Nichts – etwas vollkommen Neues entsteht. Es gibt nichts Neues – es gibt unterschiedliche Intensitäten der Wahrnehmung von schon Bekanntem.
Es geht – so sehe ich das – immer um neue Einfärbungen, neue Schattierungen, die sich über das Alte legen. Das rigoros Neue, Revolutionäre gibt es nicht. Strawinsky hat in seiner Vorlesung „Musikalische Poetik“ zu seinem Skandalballett „Le Sacre du Printemps“ gesagt: „Ich erachte es als falsch, dass man mich als Revolutionär betrachtete.“ Künstler vollziehen den nächsten Schritt. Sie sind keine Revoluzzer. Was sie schaffen, ist das Ergebnis der Beschäftigung mit ihrer Materie. Der Vorsatz, etwas zu schaffen, was noch nie da war, ist der erste Schritt auf dem Weg des Scheiterns.
KUNDE. Die Vorstellung, etwas Neues schaffen zu müssen, ist lähmend. Produktiver ist es, an Material anzuknüpfen, das es schon gibt – also mit und aus dem Material etwas zu entwickeln, das es so noch nicht gab.
Taucht also wieder mal die Frage auf: Kann ein Künstler seiner Zeit voraus sein? Ich glaube daran nicht. Ich glaube, dass die Welt – das Publikum also – manchmal einfach ein Stück zurück geblieben ist.
KUNDE. Diese Frage wurde ja durch die sogenannte Avantgarde immer wieder aufgeworfen. Künstler arbeiten an Fragestellungen, die für viele ihrer Zeitgenossen noch nicht nachvollziehbar waren. Es gibt da zahlreiche Erklärungsversuche. Einer davon besagt, dass die Kunst bis zur Avantgarde in gesellschaftliche Gesamtzusammenhänge eingebunden war. Es gab fürstliche oder kirchliche Auftraggeber. Es gab Vorgaben – aber innerhalb dieser Vorgaben existierten für die Künstler Freiräume. Trotzdem wurde jenseits dieser Systeme und Zusammenhänge nichts entwickelt. Ob Tizian, Rubens oder Rogier van der Weyden eine Kreuzigung gemalt haben, war trotz der stilistischen Unterschiede – genau gesagt lagen Welten dazwischen –, die grundsätzliche Vorgabe durch das Christentum und die damit verbundenen Geschichten definiert. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts haben Künstler gespürt, dass all diese tradierten Sinnsysteme ihrer Überzeugung nach nicht mehr tragen. Diese Situation stellte eine Zäsur dar: Künstler mussten aus sich heraus neue Sinnsysteme entwickeln. Die Sinnsysteme entwickelten sich aus den Materialien – aus Farben und Formen – und eben nicht mehr aus den tradierten Geschichten. Das war ein existentiell schwieriger Prozess. Ich würde schon sagen, dass diese Künstler ihrer Zeit voraus waren. Gleichzeitig sind Menschen und somit auch Künstler den Vorgaben ihrer Zeit unterworfen. Es geht dabei auch um Anpassungsdruck und Charakterstärke. Wie lebt einer dieses Der-Zeit-voraus-Sein aus und: Wie hält er es aus? Integriert er sich am Ende um des guten Lebens willen?
Ich habe da gerade ein Bild im Kopf: Nehmen wir einen 100-Meter-Lauf. Verschiedene Leute gehen an den Start. Einer hat noch nie trainiert und er tritt gegen einen Vollprofi an. Natürlich wird der Profi gewinnen und als Erster über die Ziellinie sprinten, aber er ist deshalb nicht seiner Zeit voraus. Er hat einen Vorteil, der aus seinem Training resultiert. Er hat einfach mehr gearbeitet; sich intensiver auseinandergesetzt. Künstler setzen sich intensiv mit der Kunst auseinander. Kunstwerke sind Antworten auf Fragestellungen. Je intensiver die Auseinandersetzung mit dem Problem, um so größer wird der Vorsprung beim Überschreiten der Ziellinie.
KUNDE. Das Beispiel mit dem Rennläufer ist gut gewählt, aber ich bin nicht sicher, ob es stimmt – ob es am Ende wirklich so ist, ob der Avantgardist mehr gearbeitet hat als der konventionelle Künstler.
Mir geht es eher um den Abstand zwischen Künstler und Publikum. Ein Künstler geht im Idealfall täglich in sein Atelier und setzt sich mit bestimmten Fragen auseinander. Seine Arbeiten werden zu Antwortversuchen. Da muss zwangsläufig ein Abstand entstehen. Diesen Abstand hat es auch früher bereits gegeben. Es wäre ja falsch, wenn man annähme, dass Bachs Musik widerspruchslos vom Publikum hingenommen wurde. Die Impressionisten wurden für verrückt erklärt. Beispiele gibt es ohne Ende.
KUNDE. Fest steht, dass es keine Garantie fürs Gelingen gibt. Die Tatsache, dass einer täglich nachdenkt, muss ja nicht zwangsläufig bedeuten, dass er zu Ergebnissen kommt, die Bestand haben. Und da wäre auch noch die Frage: Wer legt fest, was die Kriterien der Zeit sind. Jeder Künstler lebt in seiner Zeit – lassen wir offen, ob er ihr voraus ist oder nicht – jeder Künstler lebt also in seiner Zeit und schafft aber im Idealfall Werke, die über diese Zeit hinausweisen und Bestand haben. Das ist ja der eigentliche Kern von Kunst. Es muss etwas geben, das zum Kunstwerk verdichtet werden kann und anschließend über die Situation des Entstehens hinausweisen – dass es also auch in künftige Zeiten passt, von denen der Künstler in seiner Zeit nichts wissen konnte. Das gelingt nur bei den großen Stoffen – bei den großen Schöpfungen, aber dort gelingt es dann in so phantastischer Art und Weise, dass Werke wie Homers Odyssee bis heute eine Faszination ausüben. Das sind Archetypen des menschlichen Erlebens. Wir sind jetzt bei den ganz großen Vergleichen, die man niemandem Lebenden zumuten sollte, aber nach diesem Prinzip funktioniert es ja bestenfalls auch für die heute Lebenden: Sie sind in der Lage, etwas hervorzubringen, das die Menschen in 500 Jahren noch beeindruckt, obwohl das Leben dann ein ganz anderes ist als unseres heute. Vielleicht ist der humane Kern auch dann noch unverändert oder längst von KI ersetzt. Aber KI kann mit diesen Schöpfungen nichts anfangen außer sie zu lernen und zu repetieren.
Das alles noch vor dem Hintergrund von Schüler-Lehrer-Verhältnis zu sehen, zeigt die Komplexität dieses speziellen Verhältnisses. Gute Lehrer sind Motivatoren und Menschen, die Kernbohrung in die Seele des Schülers unternehmen und ihn am Ende nicht zu einer Kopie ihrer selbst ertstarren lassen. Wenn ich an die Lehrer denke, die mich beeinflusst haben, sind da diejenigen, die Leuchttürme waren – Vorbilder – und diejenigen, die mir klargemacht haben, wie ich auf keinen Fall werden wollte. Stellen wir einen Gedanken Strawinskys ans Ende, der nicht nur für die Musik Gültigkeit hat: „Wir haben eine Pflicht gegenüber der Musik: sie zu erfinden.“