Von Ewigkeit zu Ewigkeit
Der Tag: Samstag. Die Zeit: Fünfzehndreißig. Die Welt: Ein Schalensitz. Die Farbe: Blau. Hochamt auf Schalke. Die Ministranten erscheinen in Vereinsfarben. Trikots, Schals, Mützen, Fahnen. Schon auf der Autobahn haben sie Farbe bekannt. Schalke beginnt in der Wiege. Schalke endet nicht mit dem Tod. Und von Ewigkeit zu Ewigkeit: Schalke.
Mangelware
Ein Stadion füllt sich. Sechzigtausend streben der Kathedrale entgegen – festlich geschmückt. Die Woche: Das Muss. Der Samstag: Die Kür. Wer hier teilhaben darf, kann sich glücklich schätzen. Eintrittskarten sind Mangelware. Das gehört dazu. Wenn jeder bekäme, was er will – was hätten Wünsche noch für einen Wert? Die Logenplätze füllen sich erst unmittelbar vor dem Spiel. Die Geladenen laben sich im VIP-Bereich. Genuss bis zuletzt. Die anderen essen Würstchen. Trinken Bier, Cola, Radler, Kaffee. Für die einen ist Schalke Religion – für die anderen ist es chic.
Geld und Gefühle
Auf den Gängen der Arena: Monitore. Sie zeigen schon das Innenleben. Spieler, die sich warmlaufen. Interviews. Werbung. Die jetzt eintreffen, kommen allein, als Familie, als Gruppe. Ihr Magnet heißt Arena. Ein Dom der Freuden, ein Dom der Leiden. Eigentlich müsste all das hier Schalke heißen, aber Geldverdienen geht anders. Sie haben das Stadion nach einem Bier benannt, und auf den Trikots prangt der Name des russischen Sponsors. Hier wird Philosophie zu Energie. Hier werden Gefühle zu Geld. Wer als Neuling auf Schalke einreitet, merkt schnell: Das hier ist mehr als Liebe, es ist mehr als Familie, es ist mehr als Politik. In den Gründerjahren mag Schalke vielleicht Sport gewesen sein – jetzt ist es Religion. Weltreligion. Mission ist überall. Missioniert wird über Satellit. Sie kennen Schalke auf allen Erdteilen. Aber wer in Australien ein Spiel sieht, sich als Fan fühlt, wird trotzdem nie verstehen, was sich hier abspielt – bei denen, die Schalke im Blut haben.
Durchlauferhitzer
10.080 Minuten hat die Woche – 9.990 sind Vorspiel. Manche denken, in der Woche findet Wirklichkeit statt und am Samstag ist Ausnahmezustand. Das ist falsch: Da unten auf dem Grün schütten sie, wenn Heimspiel ist, das Leben von 60.000 Gläubigen in den Durchlauferhitzer. Glück ist nicht planbar. Leiden auch nicht. Sie liefern sich dem Schicksal aus. Zusammenhalt stiftet einzig der Glaube, und das Bekenntnis heißt hier Schalke. Auch Irrglaube ist in der Welt. Der Irrglaube heißt heute Bochum und wird – das ist nicht nur auf Schalke so – eingezäunt. Die Irrglaubenden sitzen abgeschirmt – weit weg von da, wo Schalkes Herz schlägt – weit weg von der Nordkurve. Auch die Ungläubigen haben Priester. Auf einer Art Kanzel steht der Vorbeter im Gästeblock und heizt den Seinen ein. Megafongestützt. Er reißt die Arme hoch zum Dirigat, und die Gemeinde singt (nicht nur die Spieler wärmen sich auf), klatscht; schmettert geballte Fäuste an ausgestreckten Armen nach oben. Oben – das ist hier das Loch in der Arenadecke. Schalker Himmel ist zwar blau, aber er liegt unten – auf dem Grün. Grüner Himmel – Hölle blau. Dann: Die Hymne. „Wir stehen auf, weil wir Schalker sind.“ Jetzt zeigen sie die Schals – halten sie an weit geöffneten Armen vor den Oberkörper. Jetzt ist alles ein großes Blau. Jetzt setzt Magie ein. Aus Einzelwesen, Familien, Fangruppen wird Schalke – das Eine, Große.
Alles und Nichts
Jetzt lädt sich die Arena mit Energie auf: Erwartung. Hoffnung. Schon bei der Vorstellung der Spieler zeigen sich Liebe und Kritik. Wenn sie pfeifen, willst du nicht wirklich da unten stehen und ihr Ziel sein. Sie tragen dich auf Händen – sie stürzen dich ins Nichts. Was jetzt und hier entsteht, ist weit mehr als die Summe der Einzelteile. Hier ist Menschsein im Zeitraffer zu sehen: Nachlass, Vergebung und Verzeihung. Liebe, Enttäuschung und Sehnsucht. Vorspiel, Höhepunkt und Fall. Es ist eine Ehe, was da stattfindet zwischen Verein und Volk. Sie lieben sich. Erwarten alles. Bekommen manchmal nichts. Sie verfluchen die Elf auf dem Grün – hassen sie … aber all das doch nur in der Gewissheit, dass Scheidung hier nicht möglich ist. Eine Ehe kannst du beenden. Schalke-Fan ist ein ewiges Gelübde. Lebenslänglich Blau. Aus diesem Wissen wächst die Energie. Hier liefern sie sich dem Leben aus. Schutzlos. Bedingungslos. Unverstellt. Hier geht es nicht um alles oder nichts. Hier geht es um alles und nichts. Du kannst nicht aussuchen. Hier sind Bankdirektor und Fließbandarbeiter gleich vor ihrem Gott: gleich ausgeliefert, gleich ohnmächtig, gleich euphorisch. Gott ist Schalke. „Halt“, spricht die Zensur. Da fehlen zwei Buchstaben. „Gott ist Schalker“, muss es heißen, und der Papst ist Ehrenmitglied. Im Innern des Riesen haben sie eine Kapelle. Heiraten auf Schalke? Das ist möglich. Manche lassen sich im Trikot beerdigen. Königsblau. Schalke never ends. Hier hat der Tod nichts zu scheiden.
Nordkurve
Schalkes Herz pocht in der Nordkurve. Hier geben sie alles. Hass und Liebe, Verzweiflung und Kampf. Hier werden Geschichten geschrieben: Nach drei Niederlagen (so eine der Geschichten) hat sich die Nordkurve in den ersten 19 Minuten und 4 Sekunden des nächsten Spiels vom Rasen abgewandt. Mit dem Rücken standen sie zur Mannschaft. Ignoranz als Strafe. Dann, nach 19 Minuten und 4 Sekunden, dreht sich die Wand mit einem Schrei. Es geht gegen Bayern. Die Wand schreit. Das Tor fällt. Noch heute bekommen sie glasige Augen, wenn diese Geschichte erzählt wird. Dergleichen findest du sonst nur in der Bibel. Stichwort: Wunder.
Huhn, Ei, Urknall
Mannschaft und Fans, Volk und Regenten: Du weißt nicht, wer wer ist. Keine Mannschaft ohne das Volk. Kein Volk ohne die Mannschaft. Huhn oder Ei – das ist in Schalke nicht die Frage. Das eine geht nicht ohne das andere. Kein Huhn ohne Ei. Kein Ei ohne Huhn. Sie bedingen sich gegenseitig. Das „Prinzip Schalke“ existierte längst vor der Erfindung des Fußballs. Es ist das Prinzip des Urknalls. Alles Sein wird Energie. Die Spieler auf dem Rasen: Verurteilte – abhängig von der Gunst der Schächer. Trifft einer den Ball, kämpft, setzt sich ein, hallt ein „Schööön“ durch die Arena. Versagt einer, springen sie auf, greifen sich an den Kopf, lassen Schimpftiraden ins Rund strömen. Emotionen können in Sekundenbruchteilen in ihr Gegenteil wegbrechen. Die Tribünen: Ein Bienenstock. Alles bewegt sich. Sie sammeln Siege und wenn du angreifst, stechen sie.
Bremsweg unendlich
In den Fanblocks strömen die Litaneien durcheinander. Spieler und Fans inspirieren sich gegenseitig. Wenn vom Rasen nichts kommt, läuft das Leben auf den Rängen noch ein Stück weiter, aber irgendwann verstummt das Volk. Es verstummt in Entsetzen – eher in Lethargie. Ein Schuss aufs Tor bedeutet Wiederbelebung. Auferstehung. „Ich glaube an Schalke …“ Die Regeln unten sind einfach. Jeder kann sie verstehen. Alle denken mit, aber eigentlich ist Denken hier Fühlen. Hier im Allerheiligsten werden Denken, Fühlen, Erwarten, Tun und Lassen eins. Wenn die Nordkurve Fahrt aufnimmt, tendiert der Bremsweg gegen unendlich. Gegen Bochum fällt ein Tor. Es fällt auf der richtigen Seite. Es gibt nur eine richtige Seite. Das Spiel dümpelt und lässt die Fans allein. Wenn unten einer nur den Ball trifft, loben sie ihn. Im Leben wäre das nicht möglich. Auch im Job nicht. Wenn du solche Arbeit ablieferst, wird dich niemand loben. Hier schon. Und am Schluss singen sie „Auf Wiedersehen“ in Richtung des Bochumer Blocks. Als Dank fliegen Bierbecher zurück: Halb voll. Was wohl wäre – ohne den Zaun? Man möchte es nicht wissen. Allein die Ahnung lähmt. Nach dem Schlusspfiff leert sich das Rund schnell. Manche haben sich schon vorher auf den Weg gemacht. „Hier läuft doch eh nix mehr.“ Dann wenigstens an der Parkplatzausfahrt Sieger sein. Die Arena stülpt ihr Innerstes nach Außen. Eine blaue Walze arbeitet sich zum Ausgang.
Meister der Schmerzen
Das Spiel läuft weiter: In den Köpfen. Was in 90 Minuten passiert ist, muss für den Heimweg reichen. Für die Woche. Für das Weiterleben. Die das Stadion verlassen, sind jetzt wieder Einzelne, Familien, Gruppen. Jetzt diskutieren sie. Der Rückblick kennt keinen Konjunktiv. „Wenn der Asamoah den Ball nicht verliert, macht er ihn doch rein.“ Auf dem Weg zum Parkplatz findet Entzauberung statt. Spätestens beim Einfädeln ist sich jeder selbst der Nächste. Dann kämpfen sie für sich. Schalke ist Religion, aber Nächstenliebe ist nicht Teil der Regeln.
Es fällt leicht, sich vorzustellen, was hier los ist, wenn sie da unten auf der Zielgeraden die Meisterschaft vergeigen. Dann kennen auch Indianer Schmerz. Dann dürfen auch Männer weinen. Hemmungslos. Meister der Schmerzen. Dann geht die Welt unter, aber: Schalke ist unsterblich. Schalke hat zu jedem Untergang die eingebaute Auferstehung. Nachlass, Vergebung und Verzeihung. Früher oder später werden sie die Schale holen. Dann liegt das Paradies in Gelsenkirchen.