Das Wort hat Gewicht. Es weckt Vorstellungen – Gnade. Der erste Gedanke: Da ist etwas nicht mit Händen zu greifen – nichts, das sich klar umreißen ließe wie zum Beispiel Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Vielleicht ist Gnade ein weißer Schatten. Der Kopf sagt: Niemand hat einen Anspruch auf Gnade. Gnade, denkt man, ist ein Gedanke am Ende der Paragraphen, aber: Was Gnade bedeutet, hängt natürlich davon ab, wen man fragt und in welchem Koordinatensystem jemand sich bewegt.
[Wikipedia: „In der christlichen Theologie ist die göttliche Gnade ein zentraler Begriff, besonders im Zusammenhang mit der Erlösung. Im Recht spricht man von Begnadigung durch Gnadenbefugnis, wenn rechtskräftig verhängte Strafen durch eine hohe staatliche Autorität wie einen Monarchen oder Staatspräsidenten (in Deutschland durch den Bundespräsidenten) aufgehoben oder verkürzt werden. Das Gegenteil von Gnade ist Gnadenlosigkeit. Wenn jemand gnadenlos sein Recht einfordert, heißt das, dass der Beschuldigte seine gerechte Strafe erhält. Lässt der Ankläger hingegen Gnade walten, wird dem Beschuldigten die Strafe ganz oder teilweise erlassen.]
Die Spur der Gnade
Auch auf dem Wegweiser im Landgericht Kleve ist das Wort zu finden: Gnadenstelle steht da und man fragt sich, ob Gnade institutionalisierbar ist.
1. Anruf beim Pressesprecher. Ja, die Gnadenstelle ist beim Landgericht angesiedelt, aber derzeit übt eine Vertreterin der Staatsanwaltschaft das Amt der Gnadenbeauftragten aus.
2. Anruf bei der Staatsanwaltschaft. Die Kollegin, die das Amt der Gnadenbeauftragten ausübt, ist in Urlaub. Vielleicht in zwei Wochen noch mal anrufen.
3. Anruf nach zwei Wochen. Eigentlich ist ja das Justizministerium zuständig. Vielleicht doch mal den Pressesprecher am Landgericht anrufen. Dann der Termin: Der Pressesprecher des Landgerichts und die Gnadenbeauftragte werden Auskunft erteilen. Die perfekte Lösung.
„Die Gnadenstelle ist beim Landgericht angesiedelt“, erklärt Pressesprecher Alexander Lembke“, und wird abwechselnd von der Staatsanwaltschaft und von uns, also dem Landgericht, betreut.“ Das erklärt die Unordnung bei den Zuständigkeiten, denkt man. „Das Amt wird jeweils für ein Jahr vergeben. Man wird gefragt.“ Fortsetzung des inneren Monologs: Also entweder ist es eine ganz besondere Ehre, oder niemand will’s machen.
15 Prozent
Seit circa sieben Jahren arbeitet Mandy Weber als Gnadenbeauftragte. Fulltime? Iwo. 15 Prozent ihrer Arbeitszeit (Frau Weber ist als Staatsanwältin für BTM zuständig) sind für „Gnadenarbeit“ reserviert. Frau Weber benutzt dieses Wort nicht. Es ist einfach, ein Zeitdeputat zu beschreiben. – natürlich: Zeit lässt sich in Ziffern fassen und in Worte.
Trotzdem: Gnade ist ein Wort im Dunst. Gnade ist die Schwester des Glücks. Nein – es geht nicht um Beliebigkeit, es geht um den Ursprung der Gnade und darum, ob Gnade und Institution ein Paar sein können.
Weit nach oben
Die Spur der Gnade reicht bis weit nach oben zum Bundespräsident. Man erinnert sich an Gnadengesuche von RAF-Mitgliedern. [2007 lehnte der damalige Bundespräsident Horst Köhler ein Gnadengesuch des Ex-RAF-Terroristen Christian Klar ab.] Ein solches Gesuch würde also nicht auf Mandy Webers Schreibtisch landen. Die Rangfolge der Zuständigkeiten reicht vom Bundespräsident zu den Ministerpräsidenten, weiter zu den Justizministern und endet (oder beginnt – es ist ja alles eine Frage der Perspektive) bei den Gnadenbeauftragten. Mandy Weber: „Der Nächste über mir ist der Justizminister.“
Rangfolgen wären beschrieben. Was ist mit den Zuständigkeiten: In Mandy Webers Entscheidungsbefugnis fallen beispielsweise Haftstrafen, die die Dauer von einem Jahr nicht überschreiten. Über das Gnadengesuch eines Mörders könnte Weber nicht entscheiden. „Ich erinnere mich an einen solchen Fall“, sagt sie. „Das Gnadengesuch landete am Ende auf dem Schreibtisch der Ministerpräsidentin.“
[Das Recht der Begnadigung übt in Deutschland für den Bund der Bundespräsident aus (Art. 60 GG), ansonsten steht es den Ländern zu, die in ihren Verfassungen oder anderweitig die hierfür zuständigen Organe benannt haben.]
… was nicht der Fall ist
Erstes Fazit: Ist man der Gnade auf der Spur, lässt sich schneller sagen, was nicht der Fall ist. Das liegt im Wesen der Gnade. Keine Gnade ohne vorheriges Urteil oder einen Strafbefehl.
Ein Fall: Jemand ist wegen Falschfahrens zu einer Bewährungsstrafe und Sozialstunden verurteilt worden. Die Sozialstunden: Nicht abgeleistet. Es geht darum, dass einer in die Zwickmühle des Lebens geraten ist: Die Kinder krank. Die Mutter: Pflegebedürftig. Das Leben zieht die Daumenschrauben an. Alles ist ihm über den Kopf gewachsen.Würde jetzt die Bewährung widerrufen, wäre eine Haftstrafe die Folge. Ein Gnadengesuch könnte allerdings erst gestellt werden, nachdem die Bewährung widerrufen wurde. Aber da sind doch die Kinder, die er erzieht. Da ist die Mutter, die er pflegt. Kann also der Kelch des Kerkers an ihm vorübergehen? Zu pathetisch? Es geht auch anders: Ein über 70 Jahre alter Mann hat eine Cannabis-Plantage betrieben. Er wurde verurteilt, hat seine Strafe abgesessen – aber da steht noch die Rückzahlung dessen aus, was die Plantage an Gewinn abwarf. Wie soll er das jemals zahlen mit einer monatlichen Rente von 500 Euro? Straferlass als Gnadenakt.
Aufwändig
Gnade ist nicht das Ergebnis von Würfeln. Jeder Fall hat eine Akte. Es gibt Zuständigkeiten. [s.0.] Stellt ein Inhaftierter einen Gnadenantrag, wird Mandy Weber zunächst einmal Kontakt zu der Kammer aufnehmen, die ihn verurteilt hat. Ist es ein Urteil der 2. Instanz, werden beide Gerichte sowie die zuständige Strafvollstreckungskammer gehört. Schnell wird klar: Was Mandy Weber macht, ist sehr arbeitsaufwändig. Übrigens sind Gnadengesuche vertraulich. Weber: „Das bedeutet am Ende, dass auch ein Anwalt, der eingeschaltet wird, keine Akteneinsicht bekommt. Das wissen aber zum Teil nicht einmal die Anwälte.“
[Gnadenordnung des Landes Nordrhein-Westfalen, Paragraph 7, Absatz 4: Das Gnadenverfahren ist vertraulich. Die Gnadenvorgänge unterliegen mit Ausnahme des nach § 39 Abs. 5 anzulegenden Sonderhefts nicht der Akteneinsicht.]
In der Regel setzt Gnade dann ein, wenn alles andere nicht gegriffen hat. „Wir sind die allerallerallerletzte Instanz“, beschreibt es Weber. Das bedeutet allerdings nicht, dass ein Verurteilter, der nicht in Revision gegangen ist, sein Recht auf Gnade damit verspielt hätte. „Das Gewähren von Gnade hat nichts damit zu tun, dass ein Urteil geändert wird.“ Aus einem Schuldspruch wird kein Freispruch. Gnade vor Recht. Trotzdem gibt es auch die korrigierende Gnade. Weber: „Wenn jemand einen Zahlungsbefehl erhalten hat, bei dem aus einer 50-Euro-Strafe eine 500-Euro-Strafe geworden ist, dann kann ich das korrigieren.“
Weiter Weg
Als Mandy Weber ihre Tätigkeit als Gnadenbeauftragte begann, liefen im Jahr bis zu 60 Fälle auf. „Mittlerweile sind es circa 30 Fälle jährlich“, sagt sie. Wie kann das? „Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich streng bin“, sagt die Mutter von drei Kindern.
Kann eigentlich ein Gnadengesuch auch von Angehörigen gestellt werden? „Ja, das ist möglich, aber natürlich setze ich mich mit dem Betroffenen in Verbindung, um zu klären, ob ein solches Gesuch in seinem Sinn ist“, sagt Weber und fügt hinzu: „Das können nicht nur Angehörige sein. Manchmal wird ein Gesuch auch von der Bewährungshilfe gestellt – im Namen eines Mandanten, der dazu möglicherweise nicht selber in der Lage ist.“
Ist Gnade eine Schreibtischangelegenheit? Weber: „In der überwiegenden Zahl der Fälle befasse ich mich in der Tat nur mit den entsprechenden Akten, aber hin und wieder ist es erforderlich, ein Gespräch zu führen.“
Was würde passieren, wenn ein Inhaftierter um Haftunterbrechnung bäte, weil beispielsweise die Mutter im Sterben liegt und noch zwei Monate zu leben hat? Gnade braucht Zeit, stellt sich heraus. Und manchmal ist der Weg der Gnade weiter als ein Leben lang ist.
Hoffnung
Zurück zur Institutionalisierung der Gnade. Natürlich gibt es Schriftliches: GnO NW – das steht für Gnadenordnung für das Land Nordrhein-Westfalen. 46 Paragraphen umfasst die GnO NW. Schon, was sich hinter dem Paragraph eins „verbirgt“, macht klar: Gnade ist nichts für Laien,
(1) Die Gnadenordnung gilt für das Gnadenverfahren bei Rechtsfolgen, die wegen einer rechtswidrigen Tat (§ 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB) durch strafrichterliche Entscheidung eines Gerichts des Landes Nordrhein-Westfalen in Ausübung von Gerichtsbarkeit des Landes verhängt worden sind oder sich kraft Gesetzes aus einer solchen Entscheidung ergeben.
(2) Die Gnadenordnung gilt ferner für das Gnadenverfahren bei Rechtsfolgen, die wegen einer mit Geldbuße bedrohten Handlung (§ 1 Abs. 2 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten) durch Erkenntnis einer Justizbehörde des Landes Nordrhein- Westfalen verhängt oder angeordnet worden sind, und bei Ordnungs- und Zwangsmitteln (einschließlich der Erzwingungshaft), die durch eine solche Behörde festgesetzt worden sind; bei Zwangsmitteln jedoch nur in den Fällen, in denen die Anordnung, zu deren Durchsetzung die Zwangsmittel dienen sollten, befolgt worden ist. Paragraph 3: Gnadenbehörden sind a) Gnadenstellen bei Landgerichten, b) die Vollstreckungsbehörden, c) die Generalstaatsanwälte.
Das Gesetz räumt auch der Hoffnung einen Platz ein.
GnO NW, Paragraph 7, Absatz 5:
Stellen, die nicht befugt sind, einen Gnadenerweis zu erteilen, sollen sich aller Äußerungen enthalten, die geeignet sind, bei dem Verurteilten, seinen Angehörigen oder seinem Bevollmächtigten Hoffnung auf einen Gnadenerweis zu erwecken.
Koordinaten
Gibt es ein Fazit? Vielleicht. Gnade und Hoffnung sind mit den Instrumenten der Justiz nur schwer zu (be)greifen. Ihre Wurzeln gründen außerhalb logisch erfassbarer Zusammenhänge. Ein verrutschtes Komma ist eine Sache – das Aussetzen einer Haftstrafe, Haftverschonung und -unterbrechung gehören in ein anderes Koordinatensystem, das nur schwer definierbar scheint.
Die einen sprechen von Vergebung, andere von „Aufhebung von Wirkungen der rechtskräftigen Entscheidungen der Straf- und Disziplinargerichte durch eine Verfügung der Staatsgewalt.
Die Begnadigung ist ein Gnadenerweis im Einzelfall im Unterschied zur Amnestie oder Abolition*. Durch Rücksichtnahme auf das Gerechtigkeitsempfinden soll die Starrheit des positiven Rechts ausgeglichen werden. Das Recht der Begnadigung übt in Deutschland für den Bund der Bundespräsident aus (Art. 60 GG), ansonsten steht es den Ländern zu, die in ihren Verfassungen oder anderweitig die hierfür zuständigen Organe benannt haben. Nach herrschender Meinung stellt der Gnadenakt oder seine Ablehnung keinen gerichtlich nachprüfbaren Verwaltungsakt dar“.
Vielleicht sollte man den Schlusssatz rot einfärben, denn er vereint das Unvereinbare: Die herrschende Meinung, die Insitutionalisierung und deren gleichzeitige Loslösung von der Norm. Zurück bleibt: Ein weißer Schatten – die Spur der Gnade … Der letzte Gedanke – andere Wörter aus einer anderen Heimat: Vergebung … Demut … Barmherzigkeit
P.S. Gegen die Entscheidung von Gnadenbeauftragten können Einwendungen erhoben werden, über die in der Regel der Justizminister (GnO NW, Paragraph 21) entscheidet. Irgendwie erscheint das paradox, aber …
*Abolition: (lat.), eine besondere Art der Begnadigung oder der Aufhebung einer gesetzlich verdienten Strafe durch die höchste Gewalt im Staat. Sie unterscheidet sich von der Begnadigung im engeren Sinn dadurch, dass sie noch vor erlassener Straferkenntnis erfolgt, indem das angefangene oder noch bevorstehende Untersuchungsverfahren niedergeschlagen wird. Die Abolition ist entweder eine generelle (abolitio generalis, publica, Amnestie, Generalpardon), die einer ganzen Klasse von Verbrechern einer bestimmten Art, oder eine spezielle, die einem Einzelnen für einen bestimmten Fall erteilt wird. Privatansprüche aus dem Verbrechen werden durch die Abolition nicht aufgehoben. Die Abolition ist in manchen Verfassungsurkunden untersagt, in andern wesentlich beschränkt; in der Strafrechtstheorie wird sie vielfach als unzulässig angefochten. Abolieren, tilgen, abschaffen.