Zahlen sind Konstrukte. Sie taugen für Märkte. Für Investoren. Für Historiker. Statistiker. Analysten. Zahlen sind der Versuch, Ungewissheiten zu reduzieren. [Erfolgsformeln sind vielleicht nur Instrumente zur Selbsthypnose.] Zahlen sind Prothesen, Pseudo-Anker: Klinken – an Wellen genagelt. Mehr nicht.
„Ja. Sagen wir einfach, das Akustische und das Tonelement ist vielleicht ein wichtiger und genauerer Begriff, als einfach nur von Musik zu sprechen. Es ist nicht so, als würde ich ständig Konzerte hören. Die höre ich fast nie. Ich interessiere mich generell und im Prinzip für die Musik. Aber hauptsächlich für eine akustische, geräuschmäßige, tonmäßige Choreographie der Tätigkeiten in meiner Arbeit und für eine Choreographie der Welt. [Joseph Beuys]
Kunst ist der Versuch, sich dem Wunderbaren auszuliefern. Anzunähern. Wir selbst sind das Wunderbare. Vielleicht. Bestimmt. Kunst ist organisierte Phantasie. Ein Festival ist organsisierte Ermöglichung. Kein Wunder also, dass Haldern Pop auf der Reise in den Süden einen niederrheinischen Verunsicherungs- und Ermöglichungsapostel als Gastgeschenk dabei hat – gebannt auf Film, denn: Der Mann mit Hut und Anglerweste ist tot: Beuys. 1921 – 1986
Beuys – die Botschaft.
7.000 Eichen: „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung.” Eine Botschaft aus der Zukunft. Die Zukunft hat 1982 stattgefunden und scheint sich zu verjüngen. Beuys – ein Echo.
„Die Kunst ist meiner Meinung nach die einzig evolutionäre Kraft. Das heißt, nur aus der Kreativität des Menschen heraus können sich Verhältnisse ändern.” [Joseph Beuys]
Haldern Pop und die Kreativität des Lebensgedachten. Haldern Pop und Evolution? Warum denn nicht. Mit 35 darf daran gedacht und geglaubt werden. Darauf zu hoffen ist kein Mittel. Hoffnung ist Ohnmacht. Mit 35 sollte man verstanden haben, dass Evolution dem Kreativen folgt, nicht einem Fünfjahresplan. Beuys taugt nicht als Guru. Beuys ist der Beipackzettel zum Sozialen, das sich von der Kunst nicht trennen lässt. Beuys sagt: Ihr müsst es machen. Nein – eigentlich sagt es aus Beuys: Wir müssen es machen. Beuys ist kein Mann für den Lehnstuhl oder die Hollywoodschaukel. Schon ist man wieder in Haldern. Natürlich ist Musik da, aber sie ist nur das Uneigentlicheigentliche, das zentrale Randgestirn. 7.000 Töne.
„Ich denke sowieso mit dem Knie.” [Joseph Beuys]
Rhea Thinges Stringaris hat mit Beuys gearbeitet. „Ja – das mit dem Echo müssen Sie unbedingt schreiben”, sagt sie. Beuys wohnt auf der anderen Seite: hier das Akademische – dort er. Kunstversteher haben andere Adressen. Das sagt Thinges nicht. Aber sie sagt, dass Beuys gerade von den professionellen Kunstverstehern nicht verstanden wurde. Sie sagt das nicht wörtlich. Sie sagt, dass „fast alle Kunsthistoriker bei Beuys versagt haben”. Ist also die Kunst an Beuys gescheitert? Nein: Kunst kann nicht scheitern. Kunst ist Tun und nicht Bewertung.
Beuys hat Räume erweitert. Sein Instrument: Assoziation. Beuys und die Ideen. „Ideen sind Räume”, sagt Rhea Thinges und zitiert Andres Veiel, den Mann, der den Beuys-Film gemacht hat, mit dem die Halderner nach Kaltern fahren: Kulturtransfer. „Andres spricht nicht von Ideen – er spricht von Ideenräumen. Das bedeutet ja: Wenn man da drin ist, kann man sich bewegen. Das ist ja viel offener.” Ideen brauchen Räume. Denkräume. Testräume. Träume sind Räume mit einem T auf dem Kopf. Die Geschichte des Haldern-Pop hat sich in einem Namen konserviert: Raum III. Es ist wunderbar, wenn man sich vorstellt, wie sehr das eine zum anderen passt, wie alles um ein Zentrum trudelt, in dem jene typischniederrheinische Ursuppe aus Wollen und Müssen und konfessionsübergreifender Gottergebenheit zur Seelenbesetzung antritt.
Rhea Thinges Stringaris ist mit dem Beuys-Film unterwegs, aber sie ist keine Beuys-Erklärerin. Sie ist eine Mitreisende, Mitdenkende – eine Begleiterin, die Räume öffnet ohne Träume zu ignorieren. Denken macht Spaß. Erwartung blockiert. „Ich gehe nie mit konkreten Erwartungen irgendwohin. Das ist doch viel spannender”, sagt sie und meint, dass Erwartungen Räume schließen. Verschließen. Erwartungen sind vorgedachte Enttäuschung.
„Nicht wenige sind berufen, sondern alle.” [Joseph Beuys]
Beuys ist ohne die Politik nicht erlebbar. Thinges sagt das so nicht. Aber sie sagt, dass man nicht die Kunst verlassen soll, um zur Politik zu gelangen. Es geht um die Verbindung. Beuys nur als Künstler zu denken – das kann es nicht sein. Beuys als Politiker? Auch nur eine Schublade, die man hierzulande mit der Frage öffnet: Was machen Sie eigentlich wirklich?
Zurück nach Haldern. Man kann den Beuys’schen Kosmos nicht tatenlos übertragen. Beuys braucht keine Präparatoren sondern Mitdenker. Denken ist Atmen ist Assoziieren. Man kann Dreh- und Angelpunkte suchen. Ein Festival, das sich nur um die Musik kümmert, wird schnell zur Hülle und zertrümmert sich am Ende selbst. Längst geht es viel zu oft um Verpackungen, denen der Inhalt abhanden gekommen ist. Haldern ist kein Eswareinmalundwennsienichtgestorbensindfestival. Auch Haldern ist ohne Politik nicht erlebbar. Haldern Pop ist – ja warum eigentlich nicht? – eine Art niederrheinische Sozialplastik, die in Tönen begonnen hat und längst mehr ist als ein Akkord. Haldern legt Kultur frei, indem sie gedacht wird. Haldern denkt Kultur, indem es sie freilegt. 7.000 Gedanken. Denken allein reicht auch nicht aus. Es muss auch etwas gelebt werden. Denken ohne Leben ist ein Mausoleum – ein Sich-Sonnen in Vergangenheit. Vergangenheit ohne Anbindung: Unsicherheitsreduktion. Botschaft ohne Echo. Die Schnittstelle zwischen gerade, jetzt und gleich ist schmal genug. Wer nicht wachsam ist, verpasst seine Anschlüsse und wird zum vielwissenden Nerd in leergeträumten Welten.
Rhea Thinges Stringaris fühlt sich nicht als Beuys-Erklärerin, aber: „Mit Andres Veiel ist endlich jemand gekommen, der das Wesentliche verstanden hat. Was er da gemacht hat, ist nicht didaktisch oder pädagogisch. Seine Kunst besteht in der Auswahl des Materials.”
Ein Künstler beschreibt den anderen. Sichtweisen vermischen sich. Da ist es wieder: Ihr müsst es tun. Wir müssen es tun. Eine Idee ist kein reservierter Platz. Ideen sind Verwirklichungsräume. Erkenntnisse entstehen nicht im Vakuum. Haldern Pop ist kein unerklärlicher Glücksfall. Eine Rezeptur wird ahnbar, aber: Würde man alles in einen Mörser werfen und neu anmischen – es käme zu einem anderen Ergebnis. Die Erklärer würden ins Leere laufen. Mit Beuys ist es nicht anders. Mit Zählungen gelangt man nicht ins Zentrum: Soundsoviel Bands an soundsoviel Tagen. Gesamtmenge der von den Besuchern getrunkenen Flüssigkeit. Gesamtlänge der verlegten Kabel auf der Bühne. Das führt zu nichts. Haldern ist fühlbar. Haldern ist eine Assoziation – ja, so passt es. Man muss sich treiben lassen. Einfach irgendwo beginnen und sehen, wie und wo man endet. Das Festival ist die Leinwand – so wie der Beuys-Film, den die Halderner nach Kaltern mitnehmen werden, eine Leinwand ist: Umrisse werden definiert. Nicht weniger. Das Denken muss aus den Köpfen. Es geht um Intuition und nicht um Institution. Institution isoliert. Der Mann mit Hut und Weste hatte eine Idee, wie mit der Welt umzugehen wäre.
„Ich denke sowieso mit dem Knie.” [Joseph Beuys]
Zurück zu den Eichen. Ein Mann pflanzt 7.000 Eichen. Das ist der Plan. Zu jedem Baum gehört ein Basaltstein. So entsteht ein Paar aus Sein und Werden. Die Steine: Aufgestapelt in der documenta-Stadt Kassel. Wo beginnt die Kunst, wo endet der Plan? Vielleicht sind Plan und Idee identisch. Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung. Eine Botschaft aus der Zukunft. Zukunft war 1982. Sie hält an. Haldern Pop startete 1984. Die Klangverbreitung auf dem Lande. Auch Töne brauchen Räume.
„Die Welt ist voller Rätsel, für diese Rätsel aber ist der Mensch die Lösung.” [Joseph Beuys]